Cornelius Wüllenkemper: Ulrich Gutmair, wie recherchiert man denn über diese oft als chaotische oder sogar anarchisch beschriebenen Berliner Jahre, obwohl es nur sehr wenige Dokumentationen, Bilder und vor allem kaum Spuren mehr im heutigen Berlin gibt.
Ulrich Gutmair: Also, das mit den Bildern, das ist ja eine sehr interessante Geschichte. Da schreibe ich ja auch drüber, dass an vielen Orten das Fotografieren auch dezidiert verboten war. Besonders in so Clubs wie der Ständigen Vertretung oder dem Tresor. Da war das nicht erlaubt, da wurden teils wirklich drakonische Maßnahmen ergriffen, wenn da jemand seinen Apparat gezückt hat und fotografieren wollte. Insofern war es hilfreich, dass ich da selber mit dabei war. Und ich hab mir gedacht, wenn ich mich in einen Dialog begebe mit Leuten, die sich besser erinnern als ich, da kann da ein dritter Raum entstehen, wo man das eigentlich ganz gut zu greifen bekommt, was da eigentlich los war.
Wüllenkemper: Vielleicht können wir versuchen, die Atmosphäre mal ein bisschen einzufangen. Mir kommt es so vor, als sei das ein Tanz auf Trümmern gewesen, es war auch eine gewisse Ratlosigkeit - wie geht es jetzt eigentlich weiter? Was passiert als nächstes? Wie haben sie das empfunden? Das war eine Vermischung von Alltag, Party, Kunst, Musik …
Gutmair: Die Vermischung, die trifft es ganz gut. Einerseits ist die Mauer weg. Viele Leute haben sich darüber gefreut, endlich können sie durchatmen. Zugleich war das natürlich der Moment, wo sich in extrem kurzer Zeit die Verhältnisse geändert haben. Und das hat, glaube ich, alle ein bisschen miteinander vereint, also auch die, die dazugekommen sind. Die ersten besetzten Häuser waren von linken Ost-Punks besetzt worden, es waren gar nicht nur die Westler, die da rein sind, die waren auch selber sehr aktiv, weil die die Ecken ja auch viel besser kannten und wussten, welche Häuser sich anbieten. Und dann kamen eben die ganzen Leute aus Westberlin, aus Westdeutschland, aber auch aus dem westlichen und östlichen Ausland zusammen. Die waren eher jünger und sind in diesen selber eingerichteten Galerien, Bars, besetzten Häusern und Clubs dann aktiv geworden. Für die war das natürlich einfach ein riesiger Möglichkeitsraum.
Wüllenkemper: Sie haben es gerade angesprochen. Es gab verschiedene Bevölkerungsgruppen, es gab einen ganz markanten gesellschaftlichen und politischen Umbruch. Das waren ja auch alles Reibungsflächen. Und aus dieser Reibung ist ja auch viel Neues entstanden. Es ist neue Musik entstanden, es ist auch eine neue Ästhetik entstanden. Die Elektroszene, hätte die sich also nicht so entwickelt, wenn der Mauerfall nicht gewesen wär?
Gutmair: Ich denke die Musik, also wenn es um Techno geht, die wäre auch so groß geworden. Es gibt ja auch Leute, die erzählen einem dann: ja, 1990 war ich in Bochum, da war es eigentlich auch nicht viel anders. London war auch ein Ort, wo diese Musik schon ein bisschen früher sehr stark entwickelt worden ist. Und das wäre auch so passiert. Aber es ist, glaube ich, einfach so, dass Berlin so ein Ort ist, der prädestiniert war für diese Musik auf eine bestimmte Art und Weise. Weil diese Musik ja keine Texte großartig kennt. Weil es darum geht, zusammen zu feiern. Und das hat offensichtlich auch so ein Bedürfnis der Leute damals in Berlin getroffen, also gerade vielleicht auch in dieser Unsicherheit, dass viele junge Leute aus dem Osten, die nicht gleich wussten, wie sie jetzt umgehen sollen mit dieser Situation, zumindest etwas gefunden haben, wo man sich positiv mit beschäftigen kann. Wo man Leute treffen kann, wo man Spaß haben kann, wo man irgendwie ein gutes Gefühl mitnehmen kann. Und dafür war Techno natürlich grandios zu geeignet. Und zugleich kommen natürlich auch wieder die Räume ins Spiel. Es war einfach der Platz dazu da, riesige Raves zu machen, Clubs mitten in der Stadt aufzumachen, wo man relativ wenige Leute dabei stört, wenn man dann so Partys macht bis morgens. Das heißt, man hat viele Wohnungen quasi verlassen vorgefunden, man hat viele Fabriken verlassen vorgefunden.
Wüllenkemper: Ja, die Tatsache, dass es damals auch sehr viel Platz im Osten Berlins gab, weil die Menschen wirklich teilweise ihre Wohnungen verlassen haben, einfach zurückgelassen haben, das hatte ja auch Konsequenzen für die Kunstszene. Es ist damals ein Art Trash-Kunst entstanden, was ja auch später zu einem Markenzeichen des Tacheles geworden ist. Man hat zum Beispiel auch die Inneneinrichtung, also die Bar im Palast der Republik abgebaut und in einen Club, ins WMF, eingebaut. Inwiefern ist durch diesen Umbruch auch eine neue Ästhetik entstanden?
Gutmair: Vor allem stapelten sich die Sachen auf den Straßen, das kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen. Es gab in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg über, glaube ich, ein Jahr hinweg einen riesigen Sperrmüllberg, der mitten auf der Straße stand. Es hat einer irgendwo angefangen, was hinzulegen, und dann haben sich alle anderen gedacht, da liegt ja schon was, da legen wir was drauf. Der war wirklich ungelogen vier, fünf Meter hoch, und der lag da. Und das ist natürlich ein extrem interessantes Umfeld für Leute, die jung sind und künstlerisch ambitioniert sind. Man kann sich da alles zusammensuchen, man hat so ein riesiges Reservoir von Dingen, die einem zur Verfügung stehen, die auch keiner vermisst, wo im Gegenteil alle froh sind, wenn jemand anderes sie nimmt, da liegen sie nicht mehr im Weg rum.
Wüllenkemper: Sie schreiben an einer Stelle, dass die Wiedervereinigung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Leute aus dem Westen, die Leute aus dem Osten, eigentlich auf der Tanzfläche stattfand, auf dem Dancefloor.
Gutmair: Ich glaube schon, dass Berlin auch wie ein Labor funktioniert hat, wie diese Wiedervereinigung stattfinden kann, weil es ja ein Ort war, wo West und Ost wirklich aufeinandergetroffen sind. Und der Inbegriff dieses Aufeinandertreffen ist dann vielleicht der Dancefloor im Club, im Tresor oder im E-Werk, wo es dann tatsächlich keinen Unterschied macht, woher die Leute sind. Ich würde sagen, da ist was dran, dass in der Technoszene die jungen Leute, die vielleicht neugieriger sind gegenüber den Älteren, die vielleicht mit mehr Skepsis darauf reagieren, wenn alles, was sie bis jetzt wussten, nicht mehr gilt. Die jungen konnten sich dem einfach mit mehr Spaß an der Sache öffnen.
Wüllenkemper: Sie haben schon erwähnt, dass es nicht einfach ist, diesen Mythos – wenn man in denn so nennen will – in einer Geschichte zusammenzufassen. Deswegen erzählen sie verschiedene Biografien, verfolgen Menschen oder lassen sich erzählen von Menschen, die damals gelebt haben. Sie haben da eine Figur in ihrem Buch, einen Menschen, den es gegeben hat, Klaus Fahnert, den sie als symptomatisch für diese Zeit bezeichnen. Er nimmt ja ein sehr trauriges Ende, er erfriert 2005 auf einer Bank vor der Charité, er ist schizophren, es geht ihm sehr schlecht. Inwiefern ist dieses Ende symptomatisch für diese Zeit, die doch geprägt war von Feiern, von Anarchie, von Freude und von Freiheit?
Gutmair: Er ist deswegen symptomatisch, nicht wegen seines Todes, sondern als so ein skurrile Figur, also als ein Mensch, der Schwierigkeiten hat in einem ganz normalen familiären Umfeld in einer Wohnung zu leben, und trotzdem Teil dieser Besetzer und Techno-Kultur Gesellschaft ist. Der stand dann eben im Elektro in der Ecke, hat am Anfang immer Dinge, die er im Müll gefunden hat, getauscht gegen Bier. Bis die Leute im Elektro, oder auch in anderen Orten, im Friseur, gesagt haben, lieber Klaus, lass stecken, wir haben schon genug von deinen Kinderklavieren und Büchern, du kriegst das Bier umsonst. Aber es zeigt eben auch die Offenheit dieser Szene. Also, das war mir wichtig, diesen anarchischen Aspekt, der auch ins Soziale reinlappt, den auch zu beschreiben. Und das Klaus Fahnert, der ja am Anfang im Elektro – das ist ja einer meiner Hauptorte – der sich da rumtreibt und später vor dem Tacheles steht, ist insofern symptomatisch, als das Tacheles ja so das letzte symbolische Überbleibsel dieser Zeit ist.
Wüllenkemper: Ja, diese Zeit scheint endgültig vorbei zu sein. Das Tacheles ist ja vor wenigen Monaten endgültig geräumt worden, die letzten Gastronomen und Künstler haben sich da, wie zu hören war, für hohe Summen herauskaufen lassen. Sie schreiben ja auch zu Beginn ihres Buches "Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende": "Die Anarchie von damals ist ein Standortfaktor für Tourismus und Wirtschaft heute". Das klingt jetzt ein bisschen pessimistisch. Ist denn nichts mehr von diesem Mythos übrig geblieben?
Gutmair: Die Anarchie mal beiseitegelassen, wenn man das mal auf die Clubszene herunterbrechen möchte: das ist natürlich alles überhaupt nicht vorbei! Das Clubsterben, das immer beschworen wird, das gibt es nicht. Es machen dauernd irgendwelche Läden irgendwo auf, die man dann vielleicht auch nicht mehr kennt. Da gibt es dann halt ’nen Amerikaner, eine Engländerin und einen Italiener, die machen in einer Fabriketage in Neukölln so einen Laden auf, da machen die Vernissagen, da machen die Partys. Und da passiert dann auch was!
Ulrich Gutmair: "Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende"
(Klett-Cotta, 259 Seiten, 17,95 EUR)
Ulrich Gutmair: Also, das mit den Bildern, das ist ja eine sehr interessante Geschichte. Da schreibe ich ja auch drüber, dass an vielen Orten das Fotografieren auch dezidiert verboten war. Besonders in so Clubs wie der Ständigen Vertretung oder dem Tresor. Da war das nicht erlaubt, da wurden teils wirklich drakonische Maßnahmen ergriffen, wenn da jemand seinen Apparat gezückt hat und fotografieren wollte. Insofern war es hilfreich, dass ich da selber mit dabei war. Und ich hab mir gedacht, wenn ich mich in einen Dialog begebe mit Leuten, die sich besser erinnern als ich, da kann da ein dritter Raum entstehen, wo man das eigentlich ganz gut zu greifen bekommt, was da eigentlich los war.
Wüllenkemper: Vielleicht können wir versuchen, die Atmosphäre mal ein bisschen einzufangen. Mir kommt es so vor, als sei das ein Tanz auf Trümmern gewesen, es war auch eine gewisse Ratlosigkeit - wie geht es jetzt eigentlich weiter? Was passiert als nächstes? Wie haben sie das empfunden? Das war eine Vermischung von Alltag, Party, Kunst, Musik …
Gutmair: Die Vermischung, die trifft es ganz gut. Einerseits ist die Mauer weg. Viele Leute haben sich darüber gefreut, endlich können sie durchatmen. Zugleich war das natürlich der Moment, wo sich in extrem kurzer Zeit die Verhältnisse geändert haben. Und das hat, glaube ich, alle ein bisschen miteinander vereint, also auch die, die dazugekommen sind. Die ersten besetzten Häuser waren von linken Ost-Punks besetzt worden, es waren gar nicht nur die Westler, die da rein sind, die waren auch selber sehr aktiv, weil die die Ecken ja auch viel besser kannten und wussten, welche Häuser sich anbieten. Und dann kamen eben die ganzen Leute aus Westberlin, aus Westdeutschland, aber auch aus dem westlichen und östlichen Ausland zusammen. Die waren eher jünger und sind in diesen selber eingerichteten Galerien, Bars, besetzten Häusern und Clubs dann aktiv geworden. Für die war das natürlich einfach ein riesiger Möglichkeitsraum.
Wüllenkemper: Sie haben es gerade angesprochen. Es gab verschiedene Bevölkerungsgruppen, es gab einen ganz markanten gesellschaftlichen und politischen Umbruch. Das waren ja auch alles Reibungsflächen. Und aus dieser Reibung ist ja auch viel Neues entstanden. Es ist neue Musik entstanden, es ist auch eine neue Ästhetik entstanden. Die Elektroszene, hätte die sich also nicht so entwickelt, wenn der Mauerfall nicht gewesen wär?
Gutmair: Ich denke die Musik, also wenn es um Techno geht, die wäre auch so groß geworden. Es gibt ja auch Leute, die erzählen einem dann: ja, 1990 war ich in Bochum, da war es eigentlich auch nicht viel anders. London war auch ein Ort, wo diese Musik schon ein bisschen früher sehr stark entwickelt worden ist. Und das wäre auch so passiert. Aber es ist, glaube ich, einfach so, dass Berlin so ein Ort ist, der prädestiniert war für diese Musik auf eine bestimmte Art und Weise. Weil diese Musik ja keine Texte großartig kennt. Weil es darum geht, zusammen zu feiern. Und das hat offensichtlich auch so ein Bedürfnis der Leute damals in Berlin getroffen, also gerade vielleicht auch in dieser Unsicherheit, dass viele junge Leute aus dem Osten, die nicht gleich wussten, wie sie jetzt umgehen sollen mit dieser Situation, zumindest etwas gefunden haben, wo man sich positiv mit beschäftigen kann. Wo man Leute treffen kann, wo man Spaß haben kann, wo man irgendwie ein gutes Gefühl mitnehmen kann. Und dafür war Techno natürlich grandios zu geeignet. Und zugleich kommen natürlich auch wieder die Räume ins Spiel. Es war einfach der Platz dazu da, riesige Raves zu machen, Clubs mitten in der Stadt aufzumachen, wo man relativ wenige Leute dabei stört, wenn man dann so Partys macht bis morgens. Das heißt, man hat viele Wohnungen quasi verlassen vorgefunden, man hat viele Fabriken verlassen vorgefunden.
Wüllenkemper: Ja, die Tatsache, dass es damals auch sehr viel Platz im Osten Berlins gab, weil die Menschen wirklich teilweise ihre Wohnungen verlassen haben, einfach zurückgelassen haben, das hatte ja auch Konsequenzen für die Kunstszene. Es ist damals ein Art Trash-Kunst entstanden, was ja auch später zu einem Markenzeichen des Tacheles geworden ist. Man hat zum Beispiel auch die Inneneinrichtung, also die Bar im Palast der Republik abgebaut und in einen Club, ins WMF, eingebaut. Inwiefern ist durch diesen Umbruch auch eine neue Ästhetik entstanden?
Gutmair: Vor allem stapelten sich die Sachen auf den Straßen, das kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen. Es gab in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg über, glaube ich, ein Jahr hinweg einen riesigen Sperrmüllberg, der mitten auf der Straße stand. Es hat einer irgendwo angefangen, was hinzulegen, und dann haben sich alle anderen gedacht, da liegt ja schon was, da legen wir was drauf. Der war wirklich ungelogen vier, fünf Meter hoch, und der lag da. Und das ist natürlich ein extrem interessantes Umfeld für Leute, die jung sind und künstlerisch ambitioniert sind. Man kann sich da alles zusammensuchen, man hat so ein riesiges Reservoir von Dingen, die einem zur Verfügung stehen, die auch keiner vermisst, wo im Gegenteil alle froh sind, wenn jemand anderes sie nimmt, da liegen sie nicht mehr im Weg rum.
Wüllenkemper: Sie schreiben an einer Stelle, dass die Wiedervereinigung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Leute aus dem Westen, die Leute aus dem Osten, eigentlich auf der Tanzfläche stattfand, auf dem Dancefloor.
Gutmair: Ich glaube schon, dass Berlin auch wie ein Labor funktioniert hat, wie diese Wiedervereinigung stattfinden kann, weil es ja ein Ort war, wo West und Ost wirklich aufeinandergetroffen sind. Und der Inbegriff dieses Aufeinandertreffen ist dann vielleicht der Dancefloor im Club, im Tresor oder im E-Werk, wo es dann tatsächlich keinen Unterschied macht, woher die Leute sind. Ich würde sagen, da ist was dran, dass in der Technoszene die jungen Leute, die vielleicht neugieriger sind gegenüber den Älteren, die vielleicht mit mehr Skepsis darauf reagieren, wenn alles, was sie bis jetzt wussten, nicht mehr gilt. Die jungen konnten sich dem einfach mit mehr Spaß an der Sache öffnen.
Wüllenkemper: Sie haben schon erwähnt, dass es nicht einfach ist, diesen Mythos – wenn man in denn so nennen will – in einer Geschichte zusammenzufassen. Deswegen erzählen sie verschiedene Biografien, verfolgen Menschen oder lassen sich erzählen von Menschen, die damals gelebt haben. Sie haben da eine Figur in ihrem Buch, einen Menschen, den es gegeben hat, Klaus Fahnert, den sie als symptomatisch für diese Zeit bezeichnen. Er nimmt ja ein sehr trauriges Ende, er erfriert 2005 auf einer Bank vor der Charité, er ist schizophren, es geht ihm sehr schlecht. Inwiefern ist dieses Ende symptomatisch für diese Zeit, die doch geprägt war von Feiern, von Anarchie, von Freude und von Freiheit?
Gutmair: Er ist deswegen symptomatisch, nicht wegen seines Todes, sondern als so ein skurrile Figur, also als ein Mensch, der Schwierigkeiten hat in einem ganz normalen familiären Umfeld in einer Wohnung zu leben, und trotzdem Teil dieser Besetzer und Techno-Kultur Gesellschaft ist. Der stand dann eben im Elektro in der Ecke, hat am Anfang immer Dinge, die er im Müll gefunden hat, getauscht gegen Bier. Bis die Leute im Elektro, oder auch in anderen Orten, im Friseur, gesagt haben, lieber Klaus, lass stecken, wir haben schon genug von deinen Kinderklavieren und Büchern, du kriegst das Bier umsonst. Aber es zeigt eben auch die Offenheit dieser Szene. Also, das war mir wichtig, diesen anarchischen Aspekt, der auch ins Soziale reinlappt, den auch zu beschreiben. Und das Klaus Fahnert, der ja am Anfang im Elektro – das ist ja einer meiner Hauptorte – der sich da rumtreibt und später vor dem Tacheles steht, ist insofern symptomatisch, als das Tacheles ja so das letzte symbolische Überbleibsel dieser Zeit ist.
Wüllenkemper: Ja, diese Zeit scheint endgültig vorbei zu sein. Das Tacheles ist ja vor wenigen Monaten endgültig geräumt worden, die letzten Gastronomen und Künstler haben sich da, wie zu hören war, für hohe Summen herauskaufen lassen. Sie schreiben ja auch zu Beginn ihres Buches "Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende": "Die Anarchie von damals ist ein Standortfaktor für Tourismus und Wirtschaft heute". Das klingt jetzt ein bisschen pessimistisch. Ist denn nichts mehr von diesem Mythos übrig geblieben?
Gutmair: Die Anarchie mal beiseitegelassen, wenn man das mal auf die Clubszene herunterbrechen möchte: das ist natürlich alles überhaupt nicht vorbei! Das Clubsterben, das immer beschworen wird, das gibt es nicht. Es machen dauernd irgendwelche Läden irgendwo auf, die man dann vielleicht auch nicht mehr kennt. Da gibt es dann halt ’nen Amerikaner, eine Engländerin und einen Italiener, die machen in einer Fabriketage in Neukölln so einen Laden auf, da machen die Vernissagen, da machen die Partys. Und da passiert dann auch was!
Ulrich Gutmair: "Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende"
(Klett-Cotta, 259 Seiten, 17,95 EUR)