Fünf erwachsene Männer, alle um die 40, sitzen an einem Tisch. Lernberaterin Marsilia Podlech übt mit ihnen. Welche Bausteine bilden ein Wort. Eigentlich eine Aufgabe für Grundschulkinder. Aber diese Männer haben nie richtig schreiben und lesen gelernt. Gründe gibt es viele: Weil sie die Schule nicht regelmäßig besucht haben, als Kinder seelische oder gesundheitlich Probleme hatten oder sich die Eltern nie für ihre Lese- und Rechtschreibschwäche interessiert haben. Seit einem Jahr versuchen sie, Versäumtes nachzuholen. Mit wachsendem Erfolg.
Harald, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, besucht regelmäßig zwei Mal wöchentlich den Lese- und Schreibkurs des Arbeitskreises Orientierungs- und Bildungshilfe in Berlin Kreuzberg. Heute ist er froh, hier zu sein. Doch viele Jahre lang habe er sich nicht getraut, mit seiner Rechtschreibschwäche an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Scham sei einfach zu groß, sagt der 45-Jährige:
"Wenn andere Leute das hören, die schütteln nur mit dem Kopf. Das ist doch sein Eigenverschulden, na jut. Man lebt da mit Ängsten oder mit Zweifeln, wie schafft man dette, das zu lernen überhaupt. Die eigene Überwindung. Es kostet viel Überwindung, sich bloßzustellen und zu sagen, ich kann das nicht oder ich habe das nicht gelernt."
Vorurteile in der Gesellschaft abbauen
Schätzungen zufolge leben in Berlin rund 320.000 Erwachsene, die nicht oder kaum schreiben und lesen können. Aber nur ein Prozent der Betroffenen nehmen die Alphabetisierungsangebote an. Darum hat der Berliner Senat ein Ressort übergreifende Strategie entwickelt. Die Angebote sollen ausgebaut und überarbeitet, eben praxisnäher werden, erklärte Bildungssenatorin Sandra Scheeres. Darum werden jetzt Qualitätsstandards entwickelt. Außerdem sollen künftig Werbespots die Betroffenen auf die Kurse aufmerksam machen. Auf Webseiten soll es anstelle von schriftlichen Informationen Buttons geben, mit denen dann per Knopfdruck gesprochene Texte abgerufen werden können. Das helfe Barrieren abzubauen und Teilhabe zu fördern, lobt Lernberaterin Magret Müller. Und hofft, dass dadurch auch Vorurteile in der Gesellschaft abgebaut werden:
"Es existiert immer noch so eine Gleichsetzung, dass das eine Frage von mangelnder Intelligenz ist, was natürlich absolut nicht stimmt. Aber niemand gibt gerne etwas von sich preis, wenn er fürchtet, dass das die Reaktion der Menschen ist. Und da muss ein Umdenken in unserer Gesellschaft stattfinden, dass man das nicht so defizitorientiert sieht oder auch eine Frage von Schuld mit verknüpft, dass derjenige selbst schuld ist."
Keine strukturelle Förderung für Betroffene
Darum eine der wohl wichtigsten Strategien im Kampf gegen den Analphabetismus: Mitarbeiter in den Jobcentern, Bürgerämtern, Schuldnerberatungen oder Familienzentren schulen, damit sie die Defizite ihrer Kunden besser erkennen können. Das Jobcenter schickte den 45-jährigen Harald lieber erst einmal zu einem Bewerbungstraining statt zu einem Rechtschreibkurs. Kein Einzelfall, sagt seine Kursleiterin Magret Müller:
"Das ist relativ typisch und das ist eigentlich deshalb ganz blöd, weil das für die Lerner sehr frustrierend ist. Die sitzen dann da ja Zeit ab und müssen das auch da machen, das ist ja oft auch keine freiwillige Aktion. Und die andere Sache ist die, dass da wahnsinnig viele Gelder auch verschleudert werden."
Ein Manko aber bleibt: Obwohl deutschlandweit 7,5 Millionen Menschen weder richtig lesen oder schreiben können, gibt es keine strukturelle Förderung für die Betroffenen. Denn im Gegensatz zu Kindern haben Erwachsene kein Recht auf Lernen.