Vor elf Jahren fand in der Kölner Keupstraße das NSU-Nagelbombenattentat statt. Jahrelang verschloss sich die "orientalisch geprägte Shopping- und Gastromeile" daraufhin als hermetische Parallelwelt. Dann zog das Schauspielhaus vor drei Jahren interimsweise in die Nachbarschaft. Im Juni 2014 organisierte es in Hinterhöfen der Straße, in Herrencafés und der Moschee das riesige Kultur- und Theaterfest "Birlikte - Zusammenstehen". Das bewirkte eine nie dagewesene Öffnung der türkischen Einwanderer-Community im sogenannten Problemstadtteil Köln-Mülheim. Seitdem, erzählt Thomas Laue, Dramaturg am Schauspiel Köln, hat sich viel verändert:
"Vor Birlikte war das Schauspiel Köln ein Theater, was eine Nachbarschaft auf Zeit in Mülheim angetreten hatte. Nach Birlikte ist es Teil der Stadtgesellschaft. Plötzlich interessieren sich Menschen, die sich für Theater nicht interessiert haben, einfach für diesen Ort. Wir werden angesprochen auf der Straße, wenn man mit Schauspiel-Köln-Jacke in die Straße kommt, und es wird dafür gekämpft, dass das Theater hierbleibt. Was kann es Schöneres geben als wenn Leute, die vor zwei Jahren nichts mit Theater zu tun hatten, auf einmal sagen: Das Theater muss hierbleiben?"
Menschen mit niedriger Bildung und aus ärmeren Gesellschaftsschichten seien das allerdings nicht, gibt Laue zu - und auch in den Molière- und Shakespeare-Aufführungen sähe man eher selten Frauen mit Kopftüchern. Die kommen lieber zum Urban-Gardening-Projekt vor dem Eingang - und bestätigen den Soziologen Pierre Bourdieu, für den vor allem Bildung und soziale Herkunft über kulturelle Vorlieben entscheiden, unabhängig vom Herkunftsland.
Kulturelle Teilhabe am Theater in Berlin
Das Haus, in dem zur Zeit wohl am erfolgreichsten an kultureller Teilhabe gearbeitet wird, ist das Maxim Gorki-Theater in Berlin, amtierendes "Theater des Jahres". Die Intendantin Shermin Langhoff ist selbst ein geradezu glamouröses "Role Model": Das Gastarbeiterkind aus der Türkei ist heute die einzige weibliche Intendantin eines deutschen Staatstheaters. Sie hat den Begriff "postmigrantisches Theater" geprägt. Jürgen Maier, der Geschäftsführer:
"Unser Credo ist, dass wir uns zunächst einmal mit dem Thema in unseren Stoffen auseinandersetzen, wie sich Berlin als Stadt, wie sich Deutschland durch Internationalisierung und damit auch durch die Migrationsströme verändert. Wir nehmen die Themen und Perspektiven aus einer Existenz, die mit Migrationshintergrund zu hat, ernst, ohne dass das einer bestimmten ethnischen Gruppe zuzuordnen ist."
Schon als sie das Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg leitete, entdeckte Shermin Langhoff deutsch-türkische Künstler für die Bühne. Hier werden türkische Gegenwartsautoren uraufgeführt, zuletzt wurde hier der türkische Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 untersucht, nicht ohne den deutschen Anteil daran auszuloten. Unter Langhoffs Intendanz ist die Besucherauslastung des Maxim Gorki Theaters von 75 auf rund 90 Prozent gestiegen - etwa 20 Prozent davon laut Jürgen Meier mit Migrationshintergrund, deutlich mehr als in anderen Theatern der Stadt. Dazu kommt noch die intensive Arbeit mit Schulklassen mit hohem Ausländeranteil.
App für Einwanderer
Doch das erste Theater in Deutschland, das migrantisches Theater zum Zentrum seines Spielplans machte, ist das 1980 gegründete Mülheimer Theater an der Ruhr. Seit Jahrzehnten finden hier regelmäßig arabische, afrikanische, türkische Theatertage statt. Meist sind sie ausverkauft. Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit finden sich hier türkische Einwanderer der ersten, zweiten und dritten Generation zusammen, um anschließend auf deutsch und türkisch auf höchstem Niveau zu diskutieren. Das "Ethno-Marketing", wie es im Theater an der Ruhr mit leicht ironischem Unterton genannt wird, läuft über Bülent Firat. Er hat die erste App für türkische Einwanderer ins Leben gerufen.
"Dakik NRW ist eine Gratis-App, ein Kunst- und Kulturwegweiser für türkische Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen, Dakik heißt 'zeitig, pünktlich'. Und das möchten wir genau zum Ausdruck bringen, zeitig und pünktlich am kulturellen Leben teilzunehmen. Ich habe die Idee damals gehabt, weil ich ganz einfach gesehen habe, es findet sehr viel statt in NRW, angefangen von türkischen Konzerten, Theatern, Lesungen. Es gab bis auf einige Internet-Seiten keine vernünftige Plattform, wo sich diese Veranstaltungen angesammelt haben."
Hemmschwellen abbauen
Heruntergeladen wurde die App bisher rund 15.000 Mal, Tendenz steigend - dennoch ist da noch viel Luft nach oben bei eine Million türkischer Einwanderer in NRW. Zementiert man damit nicht zudem die Abschottung in der eigenen Community? Firat meint nein - seine App diene vielmehr dazu, Hemmschwellen abzubauen. Zu Beginn wurde er sogar von Landsleuten kritisiert, weil seine App konsequent in deutscher Sprache läuft. Doch sie funktioniere ohnehin vor allem bei Einwanderern der zweiten und dritten Generation. Bei seinen eigenen Eltern, ehemalige Gastarbeiter im Ruhrgebiet, müsse man andere Maßnahmen ergreifen.
"Wichtig ist diese gezielte Ansprache. Das kann Werbung in türkischer Sprache sein, aber auch Faktoren wie Netzwerkarbeit, aber persönlich. Am Theater an der Ruhr haben wir uns dafür entschieden, dass wir Vereine direkt ansprechen, das ist der Ort, wo die türkische Gesellschaft zusammenkommt. Meine Eltern sind in die alevitische Kulturgemeinde im Kulturhaus Oberhausen involviert, da ist ihr soziales Umfeld. Und wenn dieser Verein kulturelle Aktivitäten anbietet, dann reagieren sie eher drauf, als wenn ich sage: Komm Mama da ist eine Theateraufführung, lass uns mal hingehen. Das Gemeinschaftsgefühl, zusammen was zu unternehmen, ist wichtig. Jedes Mal, wenn ich meinen Vater gefragt habe, wie er es fand: Oh super, oh super. Man muss die teilweise zu ihrem Glück zwingen".