"Vor sich selbst kann man nicht weglaufen. Man läuft vom Osten immer weiter nach Westen. Und dann kommt man irgendwo an. Und dann merkt man: Dieser Osten ist immer bei dir, in dir oder um dich."
Nellja Veremej, eine ebenso nachdenklich wie empathisch wirkende Frau, muss es wissen. Sie selbst ist 1963 in der Sowjetunion geboren, hat in Leningrad Literatur und Philosophie studiert. 1994 siedelte sie nach Berlin um, arbeitete zunächst als Altenpflegerin und schrieb später als Autorin unter anderem für die Wochenzeitung "Der Freitag". Der Westen - das ist ein zentrales Thema ihres Debüt-Romans - ist für die, die aus dem Osten kommen, ein Versprechen, das man freilich selbst einlösen muss. Die Projektion von Träumen, die nicht selten in der Desillusionierung endet. Berlin liegt im Osten für diejenigen, die als Migrant aus dem ehemaligen Ostblock nie im Westen ankommen, die für ihr Scheitern früher die kommunistische Diktatur und heute den demokratischen Kapitalismus verantwortlich machen. Soweit, so vereinfacht. Denn es geht auch anders, auch davon erzählt Veremejs Roman. Ihre Hauptfigur ähnelt der Autorin verdächtig. Lena ist Mitte 40, groß geworden in Nordrussland und im Kaukasus, in Leningrad studiert und Mitte der 90er-Jahre mit Mann und Tochter nach Berlin emigriert.
"Mir ist peinlich, dass ich hier im Paradies nicht so weit gekommen bin, wie erhofft. Und dass ich die fremden Alten mit dem Löffel füttere, während meine eigene Mutter irgendwo im weiten Osten allein in ihrem weißen, einäugigen Häuschen sitzt."
Von ihrem Mann, den es mit windigen Geschäften immer wieder vom Reichtum in den Bankrott verschlägt, hat sich Lena getrennt und lebt mit ihrer mittlerweile 18-jährigen Tochter in einem Appartment am Alexanderplatz. Sie arbeitet als Altenpflegerin in einer Seniorenresidenz. Ihrer Mutter in der Heimat erzählt sie, sie sei Übersetzerin für Russisch. Lena ist eine von vielen Migrantinnen, die nie ganz ankommen, aber für die eine Rückkehr in die Heimat ausgeschlossen ist.
"Polen, Ukrainer, Bosnier, Mexikaner - hier im Berliner Apartmenthaus für Senioren hat sich die proletarische Internationale wieder zusammengefunden. Altenpflege ist der Job der Ausgewanderten oder von gescheiterten Einheimischen."
Und dennoch entpuppt sich die Arbeit im Pflegedienst für Lena als Schlüssel für die neue Heimat, als Verbindungsglied zwischen ihrer Jugend in der Sowjetunion und dem neuen Leben im fremden Deutschland. Erst über die Pensionäre in der Residenz erkennt Lena, wie eng die Geschichte der Stadt Berlin mit ihrer eigenen Herkunft zusammenhängt. Da ist der Pflegefall Ulf Seitz, ehemals erfolgreicher Journalist im SED-System, der als Berliner Kriegskind und später als wenig überzeugter aber dabei folgsamer Sozialist in der gleichen ideologisch-historischen Hemisphäre zu Hause ist, wie Lena selbst. In ihm findet sie die Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit, an den früh verstorbenen Vater, an das Leben in der sowjetischen Diktatur, an die Erzählungen aus dem Großen Vaterländischen Krieg. Eindringlich beschreibt Nellja Veremej, wie Lena erst in der Fremde ihre Wurzeln wiederentdeckt.
"Diese Zerrissenheit, das ist mein persönliches Problem. Die Heimat ist der Ort, wo man jung war. Wenn neben der zeitlichen auch noch die räumliche Entfernung dazukommt, dann wird es noch stärker. Das Land ist weg, in dem du mal groß geworden bist. Das erzeugt sehr starke Nostalgie. Viele Länder im Ostblock kann man nicht mehr besuchen, weil diese Zivilisation ist weg. Das Leben dort ist komplett anders. Und das ist auch noch eine Pointe in diesem Nostalgiegefühl."
Es sind aber nicht nur Länder, die im Roman "Berlin liegt im Osten" verschwinden oder unsichtbar werden. Nellja Veremej gibt in ihrem Debüt auch denen eine Stimme, deren Erinnerung uns nichts mehr taugt, es sei denn als Relikt, als wissenschaftlicher Anschauungsfall eines vermeintlich abgeschlossenen Kapitels der Geschichte. Menschen, die keinen rechten Platz mehr in der Gegenwart zu haben scheinen.
"Stasi, und wie wir sie alle nennen – wenn man das heute sieht: Durch die Torstraße zum Beispiel laufen 10 oder 15 alte Männer, ich weiß nicht, ob sie jemanden haben, der sie pflegt oder nicht, die völlig verwahrlost den ganzen Tag durch die Straße ziehen. Und welche Rechnung kann man denen jetzt stellen? Die sind halb verrückt, sehr schwach, sehr gebrechlich. Man kann nur Mitleid mit denen empfinden. Man sieht nur einen Menschen und will gar nicht mehr wissen, wofür man ihn rügen kann."
In "Berlin liegt im Osten" leistet Nellja Veremej ganz unbewusst einen großartigen Solidaritätsappell an die Mehrheitsgesellschaft gegenüber denen, die oft am Rand stehen. Sie verknüpft das Schicksal der Migranten mit dem der Übriggebliebenen der deutsch-deutschen Teilung. Durch gekonnt in den Erzählfluss eingewobene Rückblenden wird hier die ebenso banale wie gern vergessene Tatsache in Erinnerung gerufen, dass jeder historische Umbruch aus einzelnen menschlichen Schicksalen gemacht ist. Nellja Veremej wirft den ungemein erfrischenden Blick einer Migrantin auf die Verkrustungen in der Berliner Republik. Und das ist das Schöne an Veremejs Buch: die Einfachheit, mit der sie uns literarisch die Wirklichkeit neu erzählt.
"Wenn ich einen Menschen über 60 sehe, natürlich denke ich gleich daran, wie er gelebt hat. Das ist auch Teil dieser Stadt, das ist immer da, man muss nur genauer hingucken. Und die Literatur vielleicht, die Bücher, sie geben uns das, diese zweite Dimension. Daher – ich weiß nicht, ob es gelungen ist – denkt man: Aber das ist doch Franz Bieberkopf! Der war auch so! Und da versöhnt sich mit ihm. Diese zweite Dimension, mir hilft sie sehr, mir diese Stadt zueigen zu machen, für mich zu entdecken, sie zu lieben."
Und wirklich ist es nicht ganz vermessen, bei Veremjes Roman von einer Art zeitgenössischer Version von Alfred Döblins Klassiker zu sprechen. Dieses Buch scheint auf der Straße geschrieben worden zu sein, rund um den Alexanderplatz, zwischen den neuen Konsumtempeln, der immer noch lärmenden Straßenbahn und denjenigen Passanten, die die Hektik des Alltags längst vergessen hat. Am Ende, so viel sei verraten, findet nicht nur der ehemals stolze Bürger der DDR, Ulf Seitz, seinen Frieden. Auch die russische Altenpflegerin Lena lernt, in ihrer neuen Heimat zu leben. In einer wirklich gelungenen Metapher überzeugt die Tochter Marina sie, nun endlich schwimmen zu lernen.
"Sie ist der Mensch, der alles nehmen kann, das ihr zusteht, oder was das Leben ihr anbietet. Und die Mutter im Roman, die ist so passiv. Und diese Lähmung, die ist unter Migranten sehr weit verbreitet. Es ist nicht Schwäche, es ist eher wie im Schlaf. Und das war ich auch sehr lange. Ich habe mindestens zehn Jahre gebraucht, um mich hier ein bisschen bewegen zu können, um zu verstehen, wie das alles funktioniert. Und darum geht es: Natürlich ist Schwimmen eine Metapher, dass man aus diesem Schlaf im Niemandsland aufwachen muss."
Auch die Autorin Nellja Veremej hat unlängst schwimmen gelernt. Und dies durchaus im doppelten Sinne. Sie hat außerdem ihrer sowjetischen Heimat vergeben, wie sie sagt, hat ihren Groll gegen die Jugend in Unfreiheit begraben und sich mit ihren Wurzeln versöhnt. Und zugleich erinnert sie uns daran, dass auch diejenigen, die von der Geschichte widerlegt wurden, immer noch Teil unserer Gegenwart sind. Und schwerlich ist ein Ort zu finden, wo diese Brüche der jüngeren Geschichte so fassbar sind wie in Berlin. Man muss nur hinschauen.
"Ich bin hier zu Hause und liebe Berlin. Ich wollte eigentlich einen Berlin-Roman schreiben, wegen meiner Dankbarkeit an diese Stadt. Wie es gelungen ist, weiß ich nicht. Aber mein Impuls war: eine Liebeserklärung an diese Stadt."