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"Berlin - Moskau"

Selten ist der Reporter mehr als der Handlanger des Augenblicks und deshalb in einen aussichtslosen Wettbewerb mit dem omnipräsenten Fernsehen verstrickt. Nur bei wenigen Schreibern dieser Zunft entsteht im begrenzten Rayon des Beobachters eine Signatur von Geschichte, Wunschlatein und Existenz der Menschen, denen er sich konfrontiert. Wolfgang Büschers Reportage strahlt solche Prägekraft aus. Sie wurde mit dem Vorsatz einer Bewährungsprobe, einer Grenzerfahrung, geschrieben. Sie mißt die riesige Strecke zwischen Berlin und Moskau aus, rund 2500 Kilometer, beruht auf einer Fußreise von 82 Tagen, folgt einer Route, die schon Napoleon und die Heeresgruppe Mitte 1941 genommen haben, ist eine Pilgerreise über die Oder, die Weichsel, die Memel, die Beresina, über den Dnjepr.

Wilfried F. Schoeller |
    Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt, Verkehr kam auf, in den Alleen schrien die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden Angestellte in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.

    Mit dem redseligen Selbsterfahrungs-lch, das so viele junge Kollegen wie eine Monstranz des Narzißmus vor sich hertragen, käme man auf Büschers Pfaden des Eigensinns nicht weit. Dieser Reporter, durch viele Berichte in Magazinen bekannt, heute Ressortchef bei der Welt , ist aufgebrochen, um sich selbst abhanden zu kommen. Er schließt die eine Tür, die mit dem Wort "Deutschland" beschriftet ist, und öffnet sich viele andere zu Episoden, die wie Verwirrungen auf dem Spielfeld ehemaliger Fronten wirken. Er wird gewarnt: in Polen könne er totgeschlagen werden, aber er wandert unbehelligt dahin. Die Straße säumen die Embleme der Warengesellschaft und er erfährt, daß dort alle Menschen nach Westen wollen, Büscher hat in seiner sprachlich brillanten Reportage einen untrüglichen Spürsinn für den Humor des Grotesken, den Witz des Absurden.

    Gegen Abend ging ich auf das letzte große Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges zu, die Seelower Höhen. Hinter Münchehof lag wie ein Wegzeichen der Pergamentballon eines sonnengetrockneten toten Frosches, vor Jahnfelde ein Fuchs, sein Kopf war zerfetzt. Von den Rapshügeln vor Diedersdorf trieben Staubwolken heran und färbten mich gelb, eine Formation gewaltiger roter Mähdrescher rückte langsam gegen eine Gewitterfront vor, während der Himmel schwärzer und schwärzer wurde.

    Die Geschichte ist Nachhall und Kulisse, nicht mehr. Aber gerade dadurch, daß sie den Fortgang der Einzelheiten nicht behindert, erweist sie ihre Paradoxien. Büscher wandert auf einer Allee der Gehenkten, die nun "Straße der Freundschaft" heißt. Er verwundert sich über Magie und polnischen Madonnenglauben, beobachtet einen närrischen Beter, streift zum Schloß, das der Gauleiter von Posen 60 Jahre zuvor in Beschlag genommen hatte, repetiert die Geschichte einer schönen Gräfin, die einst als Doppelagentin ihrem Mann mehrfach das Leben gerettet hat. In Polen wird das Bild der Russen mit den schwärzesten Farben gemalt, das Wort "Osten" ist eine mobile Verschiebungsgröße:

    Der Osten ist etwas, das keiner haben will. Das sich jeder von der Jacke schnippt wie Vogeldreck. Die Ostjacke verschenken alle gern, sie wird in östlicher Richtung weitergereicht.

    Erst in Weißrussland, wo angeblich Diktator Lukaschenko, sein Sicherheitsapparat, das allgemeine Misstrauen und die Habgier auf ihn warten, ist der Osten bei sich. In Minsk, der stalinistischen Architekturbühne einer pathetischen Leere, gebärdet er sich als verlorener Versprechensheld. Büscher streift zu dem weißlichen Betonklotz namens Tschernobyl, zu einem sibirischen Wunderyogi, durch die monotonen Wälder, über die in diesem Sommer glühenden Ebenen. In Vitebsk holt ihn der Schock der Fernsehbilder vom New Yorker 11. September ein.

    Daß einer, der seit Wochen allein, ohne Zeitungen, ohne Fernsehen und in dem Glauben nach Osten lief, langsam der Welt zu entgleiten, der, auf schäbigen Hotelbetten liegend, den einzigen Kanal eingeschaltet hatte, das belorussische Staatsfernsehen mit seinen Berichten von der Erntefront - daß so jemand wie auf ein Satellitensignal hin plötzlich das nächste Fernsehgerät aufsucht, um zuzusehen, wie auf der anderen Seite der Welt Menschen aus einem von feindlichen Flugzeugen getroffenen Wolkenkratzer in den Tod springen. Meine Füße konnten tun, was sie wollten, meine Augen waren eine Million mal schneller, und sie hatten eine Fernbedienung.

    Wolfgang Büscher hat sich einer Abenteuer- und Parzivalprobe ausgesetzt, einer Wahrnehmungsarbeit, die in anderen Reportagen meistens im Traumgerede verdämmert oder im Meer der Einzelheiten ertrinkt. Morgens auf die Beine, 40 bis 50 Kilometer am Tag, abends die Ungewisse Suche nach Essen und einem Schlafplatz, das ist der vorgegebene Rhythmus. Dieser Reporter bahnt sich zwischen wolkiger Romantik und peniblem Buchhalter-Realismus seinen artistischen Weg. Einige Seiten über Katyn, die Totenstadt unter dem Waldboden, unvergesslich in ihrer kühlen Teilnahme, über einen Friedhof, in dem die Wirrnisse der Gegnerschaften von einst beerdigt sind - eine Epistel über abgelebte Sinnlosigkeiten; über das Museum des stalinistischen Helden Jegorow, der die Rote Fahne auf dem Reichstag so oft gehisst hat, bis auch alles schwungvoll auf dem Zeitgeschichtsfoto war - ein komischer Schnappschuss. Über den Partisanen, der seine Valentina verraten hat und deswegen ein sowjetischer Held wurde -eine böse Miniatur. Und über die Geschichte des deutschen Soldaten, der ein schönes jüdisches Mädchen und 24 andere Schicksalsgenossen aus dem Ghetto zu den Partisanen führte, wo er später als Verräter erschossen wurde. Das könnte die Zusammenfassung eines ganzen Romans sein. In der sterbenden russischen Bergarbeiterstadt Sofonowo, einem allerletzten Kaff, hält die Anderzeit Einzug, verschafft sich eine Großinsel:

    Ausgerechnet die Farbe Rot hatte eine völlig neue Bedeutung erhalten, es war jetzt die Farbe von Marlboro und Coca-Cola. Rote Plastikstühle, rote Firmenfahnen, Zelte, Tische, Markisen. Wo Rot war, war Westen. Und wo eine Fassade aus gut verfugten roten Backsteinen aus dem blätternden Grauweiß einer Straße hervorstach. Der Archipel Coca-Cola von Sofonowo war eingezäunt, hineinkam, wer mit der neuen Zeit ging und ihre Preise zahlen konnte. Hier saßen die neuen Russen an den roten Tischen und tranken Bier, das zivilisierte Getränk der neuen Zeit, und a-ßen dazu die Speisen der neuen Zeit, Pommes frites und gegrillte Hähnchen, die ihnen junge, hübsche Bedienungen brachten in den roten und weißen Uniformen der neuen Zeit, und manchmal, in einem Augenblick der Bestürzung, hielt ein Gast inne und schüttelte den Kopf. Wie hatte er ein halbes Leben lang die finsteren Kolchoskantinen ertragen können, den gang zur Stalowaja mit ihren schlurfenden Frauen in schlampigen Kittelschürzen und ihren Gerüchen der alten Zeit? Die alten Russen lagen unter den Büschen im Park außerhalb des weißen Zauns mit ihren Wodkaflaschen, oder sie hockten in den zerschlissenen Fensterrahmen ihrer Wohnblocks und sahen einem städtischen reiben zu, das es nicht gab und nie gegeben hatte.

    Je mehr dieses Wandermühsal-Ich zu einer ausgehöhlten, verbrauchten Größe wird, desto mehr Episoden nimmt es auf. Diese Reportage verwandelt den ungeheuren Raum, den der Landstreicher durchmisst, in Geschichten. Büscher folgt den Spuren des Krieges im Osten, in dem auch sein Großvater irgendwo verloren ging, und bewegt sich damit auf der Gegenrichtung unserer routinierten Aufmerksamkeit. Dieser fabelhafte Reisebericht stammt von einem Boten jener Mühsal, die unsereiner niemals auf sich nehmen wird. So wirkt Wolfgang Büscher auch als ein verfremdender Richtungsweiser im Atlas der geschichtlichen Erzählungen, dessen Ostseiten wir gerne überblättern.