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Berlin
Pflege als Start-up

Die Pfleger kommen auf dem Fahrrad, Apps auf ihrem Smartphone helfen ihnen bei der Bewältigung des Pflege-Alltags: Das Start-up "Pflegetiger" gehört inzwischen zu den größeren ambulanten Diensten in Berlin, zahlt nicht schlecht - und es heuern viele Männer an.

Von Dieter Nürnberger |
    Eine alte Frau beim Essen in einem Altenpflegeheim
    "Dienst am Menschen" - für viele Altenpfleger ist das die Motivation für ihren Beruf (imago stock&people)
    Es ist kurz nach neun am Vormittag, und Oliver Schmidt besucht seinen dritten Kunden an diesem Tag.
    "Guten Morgen, Olli vom Pflegetiger"
    Schmidt, den fast alle nur Olli nennen, ist Pflegefachkraft: 47 Jahre, durchaus noch jugendlich, mit Kapuzenshirt und Basecap. Hans Peter Sperber erwartet ihn schon. Der 55-Jährige hat Diabetes, zudem ist er fast vollständig erblindet. Sperber ist auf Pflege angewiesen.
    "Wie geht’s?"
    "Soweit ganz gut."
    "Ich hab gehört, Sie waren am Wochenende auf dem Schlagerfestival?"
    "Ja, war jetzt kein Schlagerfestival, das war hauptsächlich Englisch dieses Mal. Unbekannte Sängerin, singt so Rock und Pop von Boney M."
    "Schön."
    Kurze Wege, konstante Bezugspersonen
    Sperber kennt seinen Pfleger Olli nun auch schon ein paar Monate. Das Unternehmen "Pflegetiger" setzt auf kurze Wege, die meisten Pfleger und Pflegerinnen sind mit dem Fahrrad unterwegs. Das spart vor allem Zeit - was den zu Pflegenden zugute kommen soll.
    "Bei uns gibt es keine Autos. Das ist auch das Konzept: die Nachbarschaftspflege. Dass man nicht - wie bei anderen Pflegediensten, bei denen ich auch schon gearbeitet habe - in seinem Dienst durch fünf Bezirke springt und total fertig nach Hause kommt. Es ist für mich total schön. Ich wohne hier in Neukölln, ich bin hier unterwegs. Und für die Leute, denke ich, ist es auch schön, dass eine Konstante da ist. Wenn es dann um das Frühstückmachen geht, und es ein wenig komplizierter wird, da muss der zu Pflegende das alles nicht jedes Mal aufs Neue erklären. Dann wird er auch irgendwann müde oder bekommt schlechte Laune. Ich kenn das - ist für keinen schön."
    Berlin-Neukölln wird oft als sozialer Brennpunkt beschrieben - aber auch als sehr lebendig. Hans-Peter Sperber lebt gern hier und vor allem auch gern in seiner Wohnung:
    "Ich war im März im Krankenhaus wegen eines Dünndarmverschlusses. Ich hatte auch schon mal einen Pflegedienst. Der alte Pflegedienst hatte aber keine Kapazitäten. Und dann hat mir das Krankenhaus die 'Pflegetiger' vorgeschlagen - deswegen habe ich den genommen. Ich bin zufrieden. Also beim anderen Pflegedienst waren das nur Frauen - und hier sind es hauptsächlich Männer."
    Start-up aus der "Rocket Internet"-Schmiede
    An diesem Vormittag dauert der Besuch des "Pflegetigers" eine gute Viertelstunde.
    "Gut. Alles klar. Shake hands. Alles gut gemacht. Dankeschön. Bis morgen."
    Knapp zwei Jahre nach seiner Gründung ist "Pflegetiger" inzwischen einer der größeren ambulanten Pflegedienste in Berlin. Rund 600 Kunden werden inzwischen betreut, gut 100 Pfleger radeln durch die Stadt.
    Das Start-up stammt aus der "Rocket Internet"-Schmiede, ein Unternehmen, welches oft erfolgreiche Ideen aus den USA übernimmt und am deutschen Markt platziert. Moritz Lienert, einer der drei Gründer und Geschäftsführer von "Pflegetiger", ist gerade einmal 25 Jahre alt. Er sitzt in einer modernisierten Fabriketage, die Mitarbeiter sind eher jung.
    "Uns war eigentlich klar, dass es diesen Markt auf jeden Fall gibt. Es gibt ihn auf der Seite der Pflegebedürftigen, es gibt aber auch den Markt auf der Seite der Pflegefachkräfte. Es gibt immer mehr Pflegebedürftige und es gibt den Mangel an Fachkräften - das haben wir als spannende Herausforderung gesehen, in diesen Markt einzutreten."
    Lienert hat vorher im Luftverkehrsmanagement gearbeitet, vor der Gründung seiner "Pflegetiger" hat er immerhin ein Praktikum in der Branche gemacht. Bei ihm würden nur Pflegefachkräfte angestellt – zu einem höheren Lohn als anderswo:
    "Bei uns macht die Fachkraft die Grund- und Behandlungspflege in Kombination. Sie kommt also zu einem Patienten und wäscht ihn, gibt die Spritze und wechselt auch den Verband. So hat man mehr Zeit für den Patienten. Der Pflegemindestlohn bezieht sich hauptsächlich auf Pflegehelfer. Wir wollen einfach einen tollen Arbeitsplatz bieten. Die Bezahlung ist natürlich auch wichtig, sollte aber nicht der Grund sein, warum Pflegekräfte zu uns kommen."
    Hauptsächlich Männer im Einsatz
    Ein betriebswirtschaftlich durchkalkuliertes Konzept, in dem gewisse berufliche Traditionen weniger wichtig sind. Das Geschlecht spiele bei der Auswahl der "Pflegetiger" keine Rolle, sagt Geschäftsführer Lienert auf die Frage, warum so viele Männer bei ihm arbeiten. Für viele Pflegebedürftige möge das ungewohnt sein.
    "Wer bei uns Kunde ist, der sollte dahingehend auch ein bisschen flexibel sein. Im Krankenhaus kann man sich das beispielsweise auch nicht wünschen. Das ist eine Anfangshürde, die oftmals überwunden werden muss. Wir wollen es unseren Kunden ermöglichen, versorgt zu werden - und da muss man zum Teil auch Abstriche machen, was die Wünsche angeht."
    Runde zehn Minuten hat "Pflegetiger" Olli Schmidt zum nächsten Einsatz gebraucht - mit dem eigenen Fahrrad. Doch das Unternehmen will noch dieses Jahr Elektrofahrräder anschaffen.
    "Der nächste Klient. Mal sehen - jetzt dauert es. Ohh, das ging heute schnell."
    Medikamentenbestellung per App
    Blutdruck messen, eine Wundversorgung, eine kurze freundliche Plauderei. Rund zehn Minuten dauert dieser Besuch - der alte Mann in einem Elektro-Rollstuhl drängelt, er will raus ins Freie. Nach diesem Einsatz hat auch Olli Schmidt eine kleine Pause. Der Pfleger zeigt sein "Pflegetiger"-Smartphone - ausgestattet mit einigen hilfreichen Apps:
    "Wenn ich heute zum Patienten nach Hause gehe und sehe, dass ein Medikament zu Ende geht, dann hole ich mein Smartphone raus, lege die Packung hin, mache ein Foto davon und schiebe es in die Pflegetiger-App. Plopp. Schon ist es in der virtuellen Akte bei uns im Büro. Und nach ein paar Tagen ist das Medikament entweder dort vor Ort, ich kann es abholen, oder es wird direkt zum Kunden nach Hause geliefert. Das ist einmalig, dass kenne ich so nicht."
    Bei den "Pflegetigern" läuft viel Technologie im Hintergrund - auch das wohl ein Unterschied zu vielen Konkurrenten. Olli Schmidt sagt, er sei bei diesem Pflegedienst weniger gehetzt und gestresst als bei denen in der Vergangenheit. Pflege, der Dienst am Menschen, so sagt er - für ihn weiterhin genau der richtige Job:
    "Das sind viele zwischenmenschliche Geschichten. Wo man danach raus geht - manchmal ist es traurig, manchmal auch sehr lustig. Aber es ist halt ganz nah dran - und ich liebe das."