Der französische Elektromusiker Awir Leon steht am DJ-Pult und beobachtet die zehn Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne ganz genau. Fast möchte man meinen, er tanzt mit, so entschieden ist sein Körpereinsatz beim Musikmachen. Kein Wunder, war Awir Leon doch selbst einmal Tänzer bei Emanuel Gat, dem israelischen Choreografen mit Sitz in Frankreich, der mit seiner Tanzproduktion SUNNY das diesjährige Tanz-im-August-Festival eröffnet.
Zu zweit oder in kleinen Grüppchen treffen sich die Tänzer, alle gekleidet in leichter Sportunterwäsche. Wie in einer Probe schlendern sie über die Bühne, scheinen sich untereinander abzusprechen, sich gegenseitig Bewegungen zu zeigen oder eine Sequenz vorzutanzen. Eine Szenerie voller Beiläufigkeit, wäre da nicht der schwebende, fast hypnotische Sound Awir Leons, der nicht nur die Tänzer wie eine Blase umgibt, sondern auch die Zuschauer wegträgt. SUNNY ist kein voll durchchoreografiertes Stück, sondern bietet den Tänzern eine Struktur, in der sie sich innerhalb festgelegter Punkte mit ihrer Improvisationskraft frei entfalten können. Das erfordert sichtlich eine Menge Aufmerksamkeit, ja Zugewandtheit – hier sind alle auf der Bühne nett und ‚achtsam’ miteinander, warten auf gegenseitige Impulse und Reaktionen. Reibung oder Spannung aber entsteht auf diese Weise nicht. Ein Tanz, der mit nichts über sich hinausweist, der momenthaft entsteht und wieder vergeht – früher hätte man so etwas l’art pour l’art genannt, heute eher einen zeitgenössischen Versuch des Betörens der Sinne.
Kontrasprogramm bei der Eröffnung
Ein Kontrastprogramm bot die zweite Produktion des Eröffnungsabends: ‚Monument 0.1: Valda and Gus’ von Eszter Salamon. Die ungarische Choreografin hat zwei Urgesteine des Tanzes auf der Bühne zusammengebracht: Gus Solomons Jr. und Valda Setterfield waren beide in der New Yorker Tanzszene der 80er-Jahre aktiv, haben für Merce Cunningham getanzt und durch verschiedene Aktivitäten ihre Zeit entscheidend mitgeprägt. Heute sind sie beide Ende 70 und stehen auf der tiefschwarzen Bühne, um ihren Erinnerungen nachzugehen: Im Wechsel erzählen sie von ihren ersten Tanzlehrern und ihre Ausbildung, der AIDS-Epidemie in der schwulen Community New Yorks oder der Arbeit mit berühmten Choreografen.
Die Inszenierung von Valda und Gus, durch eine ausgeklügelte Lichtregie ausschließlich in schwarz-weißen Farben gehalten, knüpft an zwei hochaktuelle Themen an: das Alter und die Erinnerung im Tanz und damit auch die Geschichte des Tanzes. Tatsächlich sind die beiden beeindruckend mit ihrer großen, konzentrierten Präsenz, doch nur selten gewinnen ihre Reflexionen wirkliche Tiefe, zu kurz und anekdoktisch bleibt das, was sie von sich preisgeben.
Belgisches Theaterkollektiv Peeping Tom
Auch die Vorstellung ‚32 rue Vandenbranden’ des belgischen Theaterkollektivs Peeping Tom bleibt eher an der Oberfläche. Obwohl hier alle Zutaten stimmen – die Bühne ist ein beeindruckend hyperrealistischer Trailerpark im Schnee, die fünf Tänzer sind exquisit und die Mezzosopranistin begnadet mit großer Stimme – wollen doch all’ die Bilder nicht wirklich fangen. Das Surreale dieser Welt hat einfach keinen Grund, ein interessanter Bewegungseinfall reiht sich an den anderen; Motivation und Entwicklung dieser Szenenabfolge aber wollen sich nicht erschließen.
Genau umgekehrt verhält es sich in dem Solo MDLSX der italienischen Theatercompanie MOTUS. Die Performerin Silvia Calderoni steht eineinhalb Stunden alleine auf der Bühne und macht vor, dass man trotz mäßiger szenischer Einfälle ein Publikum bannen kann, wenn man wirklich etwas zu erzählen hat. Silvia Calderoni ist genetisch ein Mann, aber als Frau aufgewachsen; zwischen wackeligen Homevideos und ohrenbetäubenden musikalischen Ausbrüchen von Buddy Holly, The Smith, Vincent Gallo, den Talking Heads und vielen anderen erzählt uns Silvia Calderoni von den tragischen, aber auch komischen und schönen Momenten ihrer transgender Geschichte, von dem Entdecken des eigenen Körpers, den unzähligen Untersuchungen, dem Ausbruch von Zuhause und der Rückkehr des Mädchens als junger Mann. Sie macht sich – im direkten wie im übertragenen Sinne – nackt vor ihrem Publikum und beschert mit ihrer verletzlichen Wut, performativen Kraft und absoluten Wahrhaftigkeit dem Tanz im August einen ersten, bewegenden Festival-Höhepunkt.