Die Ersten werden die Letzten sein, heißt es bekanntlich. Die Kleinsten die Größten. So scheint es auch bei der diesjährigen Berlinale zu kommen. Unterm Strich haben die Filme mit kleinem Budget, mit kleiner Geschichte, mit kammerspielartiger Ästhetik bislang mehr überzeugt.
Radu Jude mit Dreipersonenstück
Nicht einmal mit Leinwandstars mussten diese Arbeiten unbedingt aufwarten. Wie auch heute morgen die Arbeit des rumänischen Regisseurs Radu Jude nicht. "Aferim!" heißt Judes Film - letztlich ein Dreipersonenstück in der südosteuropäischen Provinz 1835. Ein Gendarm und sein Sohn reiten, über Gott und die Welt schwadronierend, durch die Walachei auf der Suche nach einem entlaufenen sogenannten "Zigeunersklaven". Der Mann soll seinen Herrn bestohlen und ein Verhältnis mit dessen Frau gehabt haben. Die Reise geht durch ein von zahlreichen Völkern besiedeltes, ärmliches Land, in dem jeder jedem misstraut und die bizarrsten Vorurteile pflegt. Christen, Juden, Muslime, Slawen, Türken, Rumänen - sie alle hassen sich und würden einander am liebsten gleich an die Gurgel springen. In Schwarz-weiß hat Radu Jude seine Geschichte gedreht. Harte, herbe, aber auch fruchtbare und deftige Landschaften kommen ins Bild und immer wieder Menschen, die ums Überleben kämpfen und unter den spätfeudalen Verhältnissen leiden.
Rechtsstaatlichkeit sprießt nur als schwaches Pflänzchen. Radu Judes Film steckt dennoch voller Humor und Lebenslust. Seine Figuren ahnen, dass eine neue Zeit unausweichlich ist, wenn sie auch noch auf sich warten lässt. Die Probleme von damals, so scheint uns der Regisseur sagen zu wollen, wirken nach bis in die Gegenwart. "Aferim!" gehört zu den stärkeren Filmen des Wettbewerbs und hätte eine Auszeichnung verdient, wie auch die anderen kleinen Meisterstücke, "Taxi" von Jafar Panahi - eine Taxifahrt durch Teheran -, "45 Years" von Andrew Haigh - eine Ehekrise im hohen Alter-, "El Club" von Pablo Larraín - die Schandtaten exkommunizierte Priester - und "Body" von Malgorzata Szumowska - eine Vater-Tochter-Krise.
Wim Wenders und Jiang Wen
Das alles sind keine weltbewegenden Stoffe. Aber im Privaten scheint doch manches über die Verhältnisse unserer Zeit auf. Das gilt auch für Wim Wenders "Everything will be fine". Das märchenhafte Versprechen des Titels, dass nämlich alles gut ausgehen wird, erzählt Wenders mit aller Ruhe und Sorgfalt. Mitunter rätselt der Zuschauer darüber, worauf die Geschichte des jungen Schriftstellers Tomas hinauslaufen soll. Zugleich setzt Wenders kleine Signale, die sich nach und nach zu einem Leitmotiv verdichten. Tomas überfährt zwei Kinder, die plötzlich mit ihrem Schlitten auf die Straße sausen, eines stirbt. Tomas schreibt weiter, über viele Jahre hinweg, bis der Junge, der den Unfall überlebte, plötzlich bei ihm auftaucht. Der autistische Künstler muss sich dem Dialog stellen.
Der Film lebt von seiner behutsamen Inszenierungskunst. Die Zurückhaltung ist hier Stil. Obwohl Wenders ein starkes visuelles Mittel einsetzt - die 3D-Technik. Aber auch damit arbeitet Wenders sehr verhalten und zieht aus ihr eine stille poetische Kraft. Von den Filmen, die mit Opulenz und Megastory aufwarten, konnte bisher kaum einer an die Stärke der kleineren Werke heranreichen.
Die knallbunte und rasante Komödie "Gone with the Bullets" von Jiang Wen über Shanghai um 1920 nicht, Andreas Dresens Nachwendespektakel "Als wir träumten" nicht und auch nicht Peter Greenaways mit Spannung erwarteter Film "Eisenstein in Guanajuato". Greenaway zaubert zwar ein riesiges Bild- und Wortspektakel über den exzentrischen Filmregisseur Sergei Eisenstein und seinen Ausflug 1931 nach Mexico, wo der verkappte homosexuelle Russe die große Liebe erfährt. Elmer Bäck spielt die Titelrolle mit atemberaubender Brillanz. Aber Greenaways Feuerwerk bleibt kalte Augenweide und wärmt keine Sekunde. Das große, alles überragende Kinoereignis hat es im Wettbewerb allerdings bislang noch gar nicht gegeben. Darauf warten wir noch. Viel Zeit bleibt nicht mehr.