Erzbischof Heiner Koch forderte im Deutschlandfunk mehr "Hochachtung voreinander". Dies sei Voraussetzung für eine sachliche politische Debatte. Als eine "ziemliche Unverschämtheit" bezeichnete Koch den von AfD-Politikern geäußerten Verdacht, wonach die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel mitverantwortlich für das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt sei.
Der Anschlag am Montag, bei dem zwölf Menschen starben, habe ihn "geschockt", sagte Erzbischof Koch. Bei einem Besuch der verletzten Opfer des Anschlags habe er jenseits von "blindem Optimismus und blinder Schönfärberei auch Grund zur Hoffnung" erlebt. Darüber hinaus sei er "beeindruckt", wie Christen, Juden, Muslime und Konfessionslose bei zentralen Gottesdiensten nach dem Anschlag zusammengerückt seien. "Das ist gut so."
Immer mehr Menschen würden sich jedoch als heimatlos empfinden. Rechtspopulisten wie Linkspopulisten seien angesichts komplexer Zusammenhänge überfordert. Sie neigten deshalb zu "sehr starker Vereinfachung".
Koch betonte, dass er die Grundaussagen der AfD "überhaupt nicht teilen" könne. Zugleich warnte er davor, mit einfachen Lösungen auf die Anliegen dieser Partei und ihrer Wähler zu reagieren. Er kenne Christen in der AfD, denen er "nicht von oben, von der Kanzel herab absprechen möchte, dass sie sich aus Gewissensgründen" engagieren. Er sei "gegen Ausgrenzung und gegen den Abbruch von Gesprächen." Er wünsche sich auf allen Seiten "die Weite des Geistes, die den Anderen und die andere Position nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung sieht".
Angesichts des Krieges in Syrien kritisierte Koch die Großmächte, die "faktisch nicht mehr über Syrien sprechen". Dass sie sich nicht auf "gemeinsame politische und vielleicht auch militärische Schritte" einigen könnten, sei "bedrückend", so Erzbischof Heiner Koch. In diesem Krieg gehe es "nicht mehr um die Menschen", mit ihrem Leid werde "geschachert". Daher empfinde er eine "innere Wut und eine grenzenlose Ohnmacht".
Das Interview in voller Länge:
Andreas Main: Heiner Koch, Erzbischof von Berlin, ein Jahr geht zu Ende und angesichts des Terroranschlags in Berlin oder angesichts der gnadenlosen Kriegsführung in Syrien haben viele Menschen den Eindruck, der Mensch ist schlecht oder es gibt zu viele schlechte Menschen. Inwieweit passt dieses verbreitete Entsetzen in Ihr Menschenbild?
Heiner Koch: Es ist ein realistisches Menschenbild zu sagen und wahrzunehmen, dass es Gutes und Böses in jedem Menschen gibt und dass das im Menschen durch seine Entscheidung, aber auch durch seine Prägung und geschichtliche Verquickung natürlich manchmal auch zu ganz Bösem werden kann - bis zu dem Punkt, dass er vielleicht gar nicht mehr frei handeln kann. Auch das ist schon an sich ein böser Akt.
"Es gibt das Böse im Menschen"
Vielleicht haben wir in unserer Gesellschaft zu stark das strahlende Menschenbild, das Gute, alles wird immer besser, auch als gesellschaftliche Grundlinie gesehen, um jetzt wahrzunehmen in dem letzten Jahr und vielleicht auch in den letzten Jahren: Nein, es gibt auch das Böse und es gibt das Böse im Menschen und es gibt diese Macht des Bösen, in die wir alle verquickt sind.
Main: Das schockt Sie auch?
Koch: Es schockt mich, wenn ich solche Ereignisse sehe. Ich erlebe das allerdings auch wirklich in mir selbst, auch in anderen, auch in kleineren Dingen, die nicht so spektakulär sind, immer wieder. Manchmal tut man etwas und denkt etwas, was man eigentlich gar nicht tun und denken will. Aber es ist eine Realität und die Menschlichkeit besteht darin, mit dieser Realität auch umzugehen.
"Weihnachten ist ein Fest der Nacht – mit einem kleinen Lichtblick"
Main: Massive Gewalterfahrung mal ganz nah, mal aus der Ferne medial vermittelt, das prägt zunehmend den Alltag der Menschen, das verunsichert uns. Auf der anderen Seite hat sich das Weihnachtsfest als ein Friedensfest in unsere Köpfe eingebrannt. Viele bekommen es nicht mehr zusammen. Gelingt es Ihnen - oder ist Weihnachten heute einfach eine Überforderung?
Koch: Ich erlebe gerade in diesem Jahr, dass Weihnachten vielleicht wieder auf die ganze Tiefe zurückgebracht wird. Das ist dann ein Jahr, das damals in Betlehem gefeiert wurde, als das Volk Israel unterdrückt war und nicht mehr weiter wusste, ein Spielball der Mächtigen war. In diese Nacht hinein, auch der persönlichen Verzweiflung und Unsicherheit, ist – so bekennen wir als Christen – Gott Mensch geworden in Betlehem, Gott in diesem Kind Mensch geworden: in der Nacht, in der Nacht der Dunkelheit, in der Nacht der Traurigkeit, der Verzweiflung.
Dieses glitzernde, helle, jahrmarktartige Fest, das es manchmal geworden ist, verstellt diesen Charakter. Es ist ein Fest zunächst einmal der Weih-’Nacht’, die gerade dadurch, dass Gott in diese Nacht eingetaucht ist – so bekennen wir – einen Stern am Himmel hat, also, ein kleiner Lichtblick.
Und wir wissen ja aus unserer eigenen Erfahrung: Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tags. Das ist schon beides richtig, aber es ist ein Fest der Nacht. Nicht umsonst feiern wir die zentralen Weihnachtsgottesdienste nachts.
Main: Sie haben kurz nach jenem dunklen nächtlichen Montagabend in Berlin, den viele als eine Zäsur wahrnehmen, wörtlich gesagt: "Gerade jetzt müssen wir Weihnachten feiern." Da steckt auch ein wenig Trotz drin. Kann Trotz heilsam sein?
Koch: Trotz ist eine gute Reaktion auf manchen Schock, den man erlebt. Allerdings ist der Trotz kein guter Ratgeber für eine grundlegende Entfaltung meiner Einstellung, meiner Überzeugung. Es ist eine Kraft, eine vitale Kraft. Aber was ich aus dieser vitalen Kraft dann langfristig mache, wie ich sie positiv weiterentwickele, positiv heißt für mich allerdings dann wiederum nicht blind optimistisch, karnevalistisch sozusagen, sondern wirklich auch eine Tiefe, die mit auch dem Bösen rechnet.
Ich war gestern in einem Krankenhaus, habe dort viele Kranke besucht, auch mit Opfern gesprochen, die das Unglück überlebt haben, da versagt Ihnen alles an blindem Optimismus und blinder Schönfärberei. Aber es gibt auch Grund zur Hoffnung. Aus dem Gespräch möchte ich auch sagen, es gibt auch Grund zur Hoffnung - gerade der Betroffenen.
Main: Gerade jetzt Weihnachten feiern, feiern als vitale Kraft, so haben Sie es gerade formuliert. Das könnte auch für Nicht-Gläubige oder konfessionsfreie Zuhörer anschlussfähig sein oder auch für Gläubige anderer Konfessionen, die gerade Hanukkah feiern oder demnächst muslimische Feste. Also, das Leben feiern, könnte das eine Klammer sein, um Zusammenhalt möglich zu machen, Zusammenhalt der jetzt so oft gefordert wird?
Koch: Mich hat das sehr beeindruckt, wie jetzt nach dem Ereignis sowohl in der Hedwigs-Kathedrale wie auch in der Gedächtniskirche bei dem Gottesdienst auch viele Muslime waren, auch viele, die ich als Atheisten kenne.
Irgendwie führt solch ein Ereignis auch zusammen und das ist gut so. Die Weihnachtsbotschaft führte ja die Menschen auch zusammen. Die Hirten und die drei Könige kamen ja zusammen, aus verschiedenen Kulturen zusammen.
Allerdings wird man sich in Ruhe natürlich danach fragen müssen: Worin sind wir eigentlich zusammen? Was hält eine Stadt, eine Gesellschaft noch zusammen? Vielleicht haben wir die Frage nach den gemeinsamen Grundwerten zu schnell immer beantwortet: Ja, es gibt gemeinsame Grundwerte.
Was ist das, das Grundgesetz? Ja, also das ist zu wenig. Was steht da drin, welche Werte sind es? Also, wir müssen den Prozess, der gerade in der Gefährdung, meine ich, emotional und von der Ergriffenheit noch einmal auf den Weg gebracht ist, auch in einer zweiten intellektuellen redlichen Phase noch einmal neu stellen: Was ist uns wertvoll?
Main: Das Grundgesetz ist uns sicher wertvoll und da steckt einiges drin. Was ist es denn darüber hinaus, an das Sie gerade denken?
Koch: Das Grundgesetz ist ein Ausdruck, ein Ausdruck der Geisteshaltung, die damals die Menschen gehabt haben. Geprägt vor allen Dingen von den Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Naziherrschaft, geprägt wirklich von der Bedrohung des Menschseins und der vernichtenden Bedrohung des Menschseins. Denen war damals klar, was es heißt, die Würde des Menschen, der Umgang mit Minderheiten, der Schutz von verschiedenen Weltanschauungen, die Achtung vor der religiösen Größe des anderen, die Gastfreundschaft auch gegenüber Ausländern, fremden Kulturen.
Das war damals aus eigener Erfahrung, weil man selbst in einer anderen Position war und weil die Deutschen Flüchtlinge auch waren, bewusst. Das müssen wir, glaube ich, heute neu buchstabieren, weil wir diese Erfahrung der direkten Kriegserfahrung nicht mehr haben.
"Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit und Ohnmacht stehen lassen"
Main: Erzbischof Heiner Koch im Interview der Woche, im Deutschlandfunk. Der Terror zielt auf die Symbole der Gesellschaft, auf Orte der Freude, auf Orte, die für westliche Werte und Haltungen stehen. Was empfehlen Sie uns, egal ob Christ oder Nicht-Christ, wie sollten wir reagieren, wie uns verhalten?
Koch: Zunächst einmal, ich finde es richtig, dass wir eine Phase auch haben, in der man Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit und Ohnmacht auch stehen lässt. Wir müssen nicht gleich wieder alles auflösen. Auch Christen, aber auch Menschen anderer Weltanschauung müssen in dieser Welt damit leben, dass vieles nicht gelöst ist. Gerade in Bezug auf die Politik sage ich immer, Politik schafft keine Erlösung, die müssen Lösungen in vielen Sachfragen treffen, Kompromisslösungen manchmal, aber wir sind eben ein Stück auch unerlöst. Da kommt natürlich auch die Bedeutung der Religion wieder vor, aber man muss das erstmal aushalten.
Das Zweite ist, das kann eine tiefe Solidarität auch auslösen – eine Solidarität der nicht-fertigen Antworten, der Ratlosigkeit und des dennoch Handelns und dennoch Hoffens und dennoch Weitergehens. Dann kommt sicherlich die Phase, in der wir das auch begründen müssen, vertiefen müssen, auch in eine Sprache bringen, in den Diskurs bringen müssen.
"Ein bisschen Hochachtung voreinander"
Main: Innehalten, das war eines der am meisten gehörten Wörter in diesen Tagen nach dem düsteren Berliner Montagabend. Das ist auf beeindruckende Weise geschehen, so meine Wahrnehmung. Es gab aber auch Ausreißer. Was halten Sie von jenen Politikern, die noch am Abend des Massakers wie aus der Pistole geschossen die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin verantwortlich gemacht haben für die Toten?
Koch: Ich habe es zunächst überhaupt nicht verstanden, wie man in so einem Moment so etwas äußern kann.
Zweitens, ich kann es auch inhaltlich überhaupt nicht teilen. Ich kann es inhaltlich nicht teilen, einen solchen Moment zu instrumentalisieren für die Eröffnung des Wahlkampfs, so kam mir das manchmal vor.
Das Dritte ist: Man kann zur Flüchtlingsfrage, zur Migrantenproblematik, zu den juristischen Konsequenzen, zur Abschiebepraxis et cetera unterschiedlicher Meinung sein. Aber was man nicht kann, dass man Menschen oder Gruppen, die sich in dieser Frage sehr stark engagieren, vorwirft, weil sie vielleicht Schwächen haben in ihrer Position, sie würden schlicht und ergreifend solch ein Leid verursachen und sie würden nicht den Menschen und ihre Sorge um den Menschen und auch um den Flüchtling in den Mittelpunkt ihres Bemühen stellen.
Wir alle haben keine perfekten Lösungen, aber ich kenne viele, und die Bundeskanzlerin, von ihr weiß ich es auch, der das zu Herzen geht und die für diese Menschen und für unsere Gesellschaft das Beste will.
Ein bisschen Hochachtung voreinander, Achtung, dass der andere es gut meint, ist für mich die Voraussetzung, dass man dann auch inhaltlich sachlich politisch wieder diskutieren kann.
"Eine ziemliche Unverschämtheit"
Main: Ich höre raus und sehe Ihnen an, dass Sie sich auch persönlich angegriffen fühlen, weil kaum jemand so sehr den Schulterschluss mit der Kanzlerin gepflegt hat wie die beiden großen Kirchen in Deutschland.
Koch: Eben in der Sorge und in der Verpflichtung auch gegenüber denen, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Ja, eindeutig ja. Dass wir auch unter Christen, auch in der Kirche, unterschiedliche Positionierungen haben, welche Konsequenzen das juristisch, politisch, strafrechtlich et cetera hat und welche Flüchtlinge wirklich bei uns ohne Obergrenze Platz finden müssen und welche nicht, das ist für mich keine Frage. Da muss die sachliche Diskussion hinzukommen. Da haben wir auch Lernerfahrungen machen müssen. Auch das ist nicht negativ, dass wir lernen, auch Fragen wahrzunehmen lernen.
Aber dieser Grundverdacht, der Grundverdacht, jemand sei schuld an dem Elend der Welt und an dem Elend dieser Tage, das finde ich schon eine ziemliche Unverschämtheit.
"Gegen Ausgrenzung von AfD-Anhängern"
Main: Auf der anderen Seite gab es auch jene, die keine Minute der Toten gedenken konnten, ohne sofort vor jener Partei warnen zu müssen, die sich als Alternative ausgibt. Instrumentalisieren jene, die sich als die Hochmoralischen verstehen, die Toten nicht womöglich genauso?
Koch: Auch das kann eine Instrumentalisierung sein. Noch einmal, das ist auch nicht der Moment des Innehaltens. Abgesehen davon, ich habe als Bischof von Dresden PEGIDA, das Wachsen vor meiner Hofkirche, der Kathedrale, damals erlebt. Ich habe die Begründung der AfD dort miterlebt, die ersten Schritte. Ich erlebe jetzt die AfD, auch gerade in Mecklenburg-Vorpommern, das zu meinem Gebiet gehört, jedenfalls Vorpommern.
Viele Grundaussagen kann ich überhaupt nicht teilen, aber ich warne davor, mit zu einfachen Lösungen sowohl gegenüber den Anliegen dieser Partei und den Anliegen der Menschen, die sich in dieser Partei und ihrem Wählerpotenzial sammeln, umzugehen und vor allen Dingen eine Achtung auch gegenüber den Menschen, die das tun.
Ich kenne auch unter ihnen Christen, die es sehr verantwortlich tun. Ich würde diese Positionen nie teilen. Aber ich möchte ihnen nicht von oben, von der Kanzel herab absprechen, dass sie das aus Gewissensgründen auch tun.
Wir müssen diese Diskussion einsetzen. Deshalb bin ich gegen Ausgrenzung und gegen den Abbruch von Gesprächen. Kritisch ja, aber kritisch setzt ein Gespräch voraus.
"Überforderung angesichts komplexer Zusammenhänge"
Main: Erzbischof Heiner Koch, im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Es scheint so, als würde der Riss durch die Gesellschaft immer breiter. Hier die Hetzer, die unter sich bleiben wollen, aber eben auch die, die mit der Populismus-Keule schwingen und auch unter sich bleiben wollen. Was kann ein Bischof dazu beitragen, dass diese Parallelwelten nicht immer weiter auseinanderdriften?
Koch: Das ist ein ganz großes Problem, ich sehe das gerade in Berlin. In Berlin ist alles möglich. Es gibt nichts, was es nicht gibt; aber es gibt alles in versäulten Grenzen. Jeder lebt in seiner Säule und bestärkt sich mit denen, die in der gleichen Säule leben. Und man wird schon erstaunt angesehen, wenn man von einer Säule auf die andere übergeht und mal mit denen spricht.
Wir brauchen schlicht und ergreifend die Weite des Geistes, die den Anderen, der eine andere Position hat, nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung sieht, dieses Gespräch wagt.
Ich erlebe hinter diesen populistischen – rechts- wie linkspopulistischen Äußerungen – sehr starke Vereinfachung, vielleicht auch Überforderung, Überforderung angesichts komplexer Zusammenhänge, die man oftmals nicht mehr im Blick hat.
Wir müssen auf den Punkt auch kommen, wo wir uns fragen, wie wir differenziert, aber auch verständlich und nachvollziehbar auch politische Entscheidungen, Wege wieder darlegen. Wenn Entscheidungen etwa in Brüssel fallen, die keiner mehr nachvollziehen kann und man sieht nur die Ergebnisse und die Wirkung, ist das auch eine gefährliche Entwicklung.
"Sehr starke Erfahrung von Heimatlosigkeit"
Main: Sehen Sie Entwicklungen in der Gesellschaft darüber hinaus, die erklären, warum die Fähigkeit, die eigene Position zu relativieren, immer weiter zurückgeht? Also, mir scheint das ein wichtiger Punkt zu sein, warum die Gesellschaft auseinanderzudriften scheint.
Koch: Es ist für mich auch eine Frage der Bildung, die Fähigkeit, nachzudenken und in Diskurse einzutreten. Das muss man lernen. Da fängt Demokratie an. Demokratie fängt nicht beim Wahltag an und dabei, wer eine Stimme mehr hat als der Unterlegene.
Das Zweite ist, ich merke bei all dem auch eine sehr starke Erfahrung von Heimatlosigkeit. In dieser komplexen pluralen Welt haben viele Leute das Gefühl, nichts gilt mehr, sie sind nirgendwo zu Hause, sind überall nur angefragt, sind immer Minderheit.
Das hält ein Mensch auf die Dauer auch nicht aus. Da kommt vieles zusammen, etwa das Abbrechen von Ritualen, von Bräuchen, von Traditionen, von dem, was unserem Leben auch Halt gibt. Was ist Halt, was ist haltbar? Das haben viele auch verloren. Und auch nach meinem Empfinden, damit zusammenhängend, die immer stärker werdende Brüchigkeit vieler menschlicher Beziehungen. Viele erleben schon in der Kindheit, dass sie sich auf Menschen, selbst in der engsten Beziehung, nicht verlassen können. Das sind Erfahrungen, die sie ein ganzes Leben lang mitschleppen.
"In der mobilen Gesellschaft Heimat wieder lebendig werden lassen"
Main: Der Bruch geht also viel tiefer, als diese platte Formel von den Abgehängten impliziert. Es geht um Heimatlosigkeit aus Ihrer Sicht, wenn ich Sie richtig verstehe. Wie kann Heimat neu entstehen?
Koch: Heimat ist nicht ein Ort oder eine lokale Größe, sondern Heimat ist da, wo Menschen sind, auf die ich mich verlassen kann und Menschen sind, die sich auf mich verlassen können. Es hat etwas mit Erfahrung und mit Tiefe zu tun. Auch mit Tiefe in Situationen, wo Menschen anderer Meinung und Positionen sind, bin ich irgendwo zu Hause. Hier, glaube ich, haben wir gerade in unseren Metropolen Nachholbedarf.
Ich erlebe hier als Bischof von Berlin unheimlich viele Menschen, die völlig vereinsamt sind, die Angst haben vor dem Wochenende, die nicht wissen, wie sie Weihnachten verleben, hoch positioniert oftmals im beruflichen wirtschaftlichen Leben und doch irgendwie völlig vereinsamt. Das ist eine Konsequenz der mobilen Gesellschaft, der veränderten Gesellschaft.
Wie wir in dieser veränderten Gesellschaft Heimat wieder lebendig werden lassen können und nicht einen billigen Rückblick auf das Mittelalter und Frühromantik et cetera, das wird die große Herausforderung für mich sein.
"Innere Wut und grenzenlose Ohnmacht"
Main: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Heute mit Heiner Koch, dem Erzbischof von Berlin. Wenn wir auf dieses Jahr zurückschauen am Weihnachtsfest, dann kann man wohl sagen, das brutale Spiel, was in Syrien gespielt wurde und gespielt wird, ist wohl einer der Tiefpunkte des Jahres 2016. Welche Erkenntnisse und Eindrücke bleiben für Sie, wenn Sie auf die Gemengelage in Aleppo blicken?
Koch: Zunächst einmal innere Wut darüber, dass es gar nicht mehr um die Menschen geht, wenn man sieht, wie mit Menschen und dem Leid geschachert wird, wie die UNO große Resolutionen vorbereitet und dann tritt irgendeiner auf und sagt: "Veto" und nichts kommt zustande , wie man schlicht und ergreifend den Gewalttätern das Feld überlässt, weil man keinen Konsens derer herbeibringt, die für den gewaltfreien oder -freieren Weg zumindest gehen. Auch eine grenzenlose Ohnmacht, die da ist.
Mich bedrückt auch, dass der Westen sich in früheren Jahren wahrscheinlich zu stark hier herausgehalten hat – ich meine das nicht nur militärisch – und anderen Kräften das Feld überlassen hat. Es zeigt natürlich auch, wie hier Entwicklungen zustande kommen, die ganz geschichtliche Wurzeln haben – denken Sie nur an die verschiedenen muslimischen Richtungen. Aber natürlich auch das Machtvakuum, das es dort gibt im Mittleren Osten überhaupt. Der Krieg in Syrien ist nicht ein Jahr alt.
"Das ist bedrückend"
Main: Sie sprachen vorhin über den Eindruck, der Mensch sei schlecht. Sind die Führung Syriens, Russlands und Irans besonders schlecht?
Koch: Ich war jetzt in Moskau gewesen, für sechs Tage im November. Was mich zutiefst bewegt hat, wie die Russen – und zwar auch die einfachen Russen, aber auch zum Beispiel Militärs, mit denen ich gesprochen habe oder Menschen der Wirtschaft und Kultur – die Situation völlig anders sehen, als wir sie wahrnehmen.
'Warum lasst ihr uns im Kampf für Assad allein?' - 'Wir schützen doch die Christen.' - 'Assad hat die Christen geschützt.' - 'Unsere Orthodoxen sagen uns: Schützt die Christen! Warum lasst ihr uns allein kämpfen?' Ich teile diese Position so nicht. Nur eines ist mir da deutlich geworden, wie unterschiedlich die Sichtweisen sind.
Sie sagen uns zum Beispiel: 'Trump, die Nachrichten über Trump waren alle unterlegt mit erregten Kommentaren. Warum nehmt ihr das nicht anders auch wahr?'
Mein Erstes wäre, ich möchte mal deren Sichtweise sehen, wahrnehmen und dann vielleicht verstehen. Ich halte vieles was da steht für brutale Gewalt und unverantwortlich, aber ich muss zunächst einmal wahrnehmen, welche andere Sichtweise da ist.
Dass diese großen Blöcke faktisch nicht mehr über Syrien sprechen und nicht mehr sich einigen können, hier auch gemeinsam politische und vielleicht auch militärische Schritte zu gehen, das ist das Bedrückende.
Main: Sie plädieren immer wieder für Perspektivwechsel – verstehe ich Sie richtig?
Koch: Das ist die einzige Chance. Ich erlebe für mich selbst Perspektivwechsel als bereichernd. Wenn man im Denken immer in den gesetzten Kasten bleibt, kommt man nicht weiter. Man muss manchmal von außen sehen und das etwas wahrnahmen.
Ich bin da längst der Überzeugung, da kommt man zu neuen Schlüssen oft, die kreativ gar nicht im Blick sind. Also, nicht nur der andere wird in Frage gestellt, sondern auch der eigene Punkt.
Main: "Der Mensch ist schlecht". Sie sind kein Diplomat oder Außenpolitiker, sondern Theologe. Theologisch gesprochen ist der Mensch Sünder, allein die Gnade Gottes kann ihn erlösen. Allein der Glaube, das ist der Kern jener Botschaft, die die Welt vor 500 Jahren verändert hat, die Botschaft Martin Luthers. Was können wir im Reformationsjubiläum auch vor dem Hintergrund dieser brutalen Gegenwart von Luther lernen für unsere Gegenwart?
Koch: Das war ja einer der Punkte, die die theologische Spaltung hervorgebracht hat: Ist der Mensch böse oder hat er die Kraft auch zum Guten? Muss er auch eigene Leistungen erbringen oder ist das alles nur Geschenk und Gnade? Da ist heute kein Dissens mehr. Wir sagen ja heute beides. Wir sagen nämlich schlicht und ergreifend: Der Mensch hat die Tendenz auch zum Bösen und in ihm gibt es Böses und er kann das Böse auch nicht überwinden – die Erfahrung zeigt es auch durch alle Jahrtausende.
Das Zweite aber, das Wissen darum, dass Gott uns annimmt mit diesem Bösen in uns und der Schwachheit, gibt uns Kraft, anders zu leben, anders zu handeln, uns anders einzusetzen. Also, gerade von Christen, die an die Erlösung glauben, die sie selbst nicht schaffen können, erwarte ich, dass sie mit aller Kraft sich einsetzen im Sinne des Guten, im Sinne des Friedens, im Sinne der Verständigung. Also, Christen müssten überall auf der Welt wirklich Orte der Explosion der Liebe sein.
Main: Sie sprechen jetzt von Christen und nicht von Katholiken oder Protestanten. Feiern Sie also dieses Jubiläum, dieses Reformationsjubliäums?
Koch: Wir feiern dies zusammen, wir begehen es zusammen. Für uns ist es natürlich auch ein Jahr der Kirchenspaltung – das ist traurig.
Hier in dem Gebiet waren zum Zeitalter der Reformation über hundert Klöster, alle sind nicht mehr da. Was war das hier für eine geistlich, auch kirchlich intensive und dichte Gegend. Wir sehen also den Schmerz auch der Spaltung – das ist so!
Aber wir sehen auch nach 500 Jahren, dass jetzt vielleicht auch ein Weg dran ist, der uns zusammenführt. Das heißt nicht, dass wir nicht auch theologische und vielleicht auch psychologische Punkte anders sehen und anders praktizieren. Mit meinem evangelischen Kollegen, mit dem ich mich sehr oft treffe, sind wir einer Meinung, dass Ökumene nicht da anfängt, wo wir einer Meinung sind, sondern dass man auch mit Achtung und Respekt vor dem unterschiedlichen theologischen Standpunkt stehenbleibt, ihn auch vielleicht als Bereicherung sieht.
Ja, dann sehe ich schon, dass dies ein Glaubensjahr ist – so ist es ja auch ausgerufen worden. Meine größte Sorge in dem Zusammenhang ist, dass in diesem Jahr vor allen Dingen nur dies bedacht wird: die kulturelle Leistung Luthers, die Sprachleistung, die Leistung für das Verständnis des Menschen und der Gesellschaft. Er hat ja sehr, sehr viel auf den Weg gebracht, er und die ganze Entwicklung, die angestoßen wurde.
Aber die Grundfrage Martin Luthers war ja: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Wenn wir diese Frage verschweigen oder nicht stellen: Wie finde ich Gott in dieser Gesellschaft? Wie finde ich heute Gott, wo viele Menschen sagen: 'Ich sehe keinen Gott'? Oder: Wie finde ich einen Gott, der nicht nur irgendwo ist und abstrakt ist, sondern einen gnädigen Gott, der ein Herz hat, der liebt? Wenn wir diese Frage nicht stellen, dann glaube ich, werden wir auch Martin Luther nicht gerecht.
Main: Sie haben es eben auch schon angedeutet: Auf katholischer Seite wird ja viel mehr auf Einheit der Kirche gesetzt als auf evangelischer. In einer Welt allerdings, in der bestimmt muslimische Kreise eine Einheitsideologie, einen politischen Islam durchsetzen wollen, könnte es nicht sein, dass eine versöhnte Vielfalt im Christentum deutlich attraktiver, demokratiekompatibler – ja – und im besten Sinne auch liberaler ist als ein Einheitskonstrukt?
Koch: Versöhnung und versöhnte Vielfalt setzen das Ringen um Einheit voraus. Wenn wir da einen Gegensatz bauen, dann wird die Wahrheitsfrage in allem rausgenommen - nach dem Motto, auch im politischen Bereich: Wie können wir völlig gegensätzliche Standpunkte noch zusammenhalten?
Nein, wir müssen zusammen nach der Wahrheit suchen, weil wir auch der Wahrheit verpflichtet sind, müssen auf dem Weg natürlich mit dieser Vielfalt versöhnlich auch umgehen. Das ist für mich kein Gegensatz. Toleranz und Vielfalt setzt auch den eigenen Standpunkt und die Überzeugung des Standpunktes voraus.
Main: Heiner Koch, Erzbischof von Berlin. Sie leiten in der Deutschen Bischofskonferenz die Kommission "Ehe und Familie". Vier Kardinäle, darunter zwei Deutsche, nämlich Meisner und Brandmüller, haben vom Papst mehr Klarheit gefordert, was den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen betrifft. Ist das ein berechtigtes Ansinnen aus Ihrer Sicht - oder ist das eine Positionierung und Polarisierung von Scharfmachern, die die päpstliche Autorität untergraben?
Koch: Ich finde nicht, dass Papst Franziskus Unklarheit gebracht hat. Er hat meines Erachtens völlig klar gesagt, was über unsere innere Überzeugung von Ehe und dem Sakrament Ehe – das eine spezielle Botschaft auch hat – ausdrückt. Und da sehe ich keinen einzigen Punkt, in dem er das in Frage gestellt hat.
Die Frage ist allein die, ob Menschen, die in ihrem Leben – aus welchen Gründen auch immer – scheitern in dem Ziel, was sie eigentlich wollen, ob die ein Leben lang von einem Sakrament ausgeschlossen werden oder ob es nicht sein kann, dass man – wohlweißlich nach reiflicher Überlegung und nicht einfach schlurgsig so dahingesetzt – schlicht und ergreifend auch sagen kann: Es gibt für jeden den Weg der Versöhnung und es gibt für jeden einen Weg, mit seiner Schuld versöhnt zu sein.
Die Eucharistie ist für mich nicht ein Ort, die Heilige Messe, ein Ort, wo die Schuldlosen zusammenkommen – dann könnte ich auch nicht mehr zur Kommunion gehen. Sondern die Frage ist schlicht und ergreifend: Kann sogar jemand, der gültig kirchlich verheiratet ist, mit seiner vielleicht gegebenen Schuld und trotz des Bruchs in seiner Geschichte zur Eucharistie gehen?
Da sagt der Papst: Das kann im Einzelfall der Fall sein. Dann macht er keine Regel daraus, schon gar nicht einen Passierschein für alle Möglichkeiten, aber er lässt die Möglichkeit offen, dass das Leben bunter und anders ist als alle Regeln.
"Ich wünsche mir, dass sich die lebensbejahenden Kräfte durchsetzen"
Main: Herr Koch, vor einem Jahr sprach ich an dieser Stelle mit Kardinal Reinhard Marx, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Auch da gab es viele düstere Momente, über die es zu sprechen galt. Zum Ende des Gesprächs hin blickten wir in die Zukunft. Jetzt an Sie dieselbe Frage wie vor einem Jahr: Welche große Herausforderung sehen Sie für 2017 für die deutsche Politik, für die Religionsgemeinschaften, für jeden Einzelnen von uns?
Koch: Zunächst einmal: schlicht und ergreifend die Hoffnung auf das Gute nicht aufzugeben. Es gibt so viele Gründe, tausend Gründe zum Pessimismus. Aber es gibt noch mehr Gründe und für uns Christen vor allen Dingen einen Grund zu einem wirklichen Schwung, gerade in solchen herausfordernden Situationen: Das ist unser Glaube und das ist die Notwendigkeit, für alle Menschen und mit allen Menschen, diese Gesellschaft und das Leben weiterzuentwickeln. Ich sehe auch im letzten Jahr mehr Licht als Dunkel.
Main: Welches Licht?
Koch: Wenn ich wahrnehme, wie viele Menschen sich bei uns in der Flüchtlingsfrage engagiert haben, wie viele Menschen jetzt beten, wie viele Menschen unruhig – im positiven Sinne – umhergetrieben werden, weil sie weiter dieses Leben und diese Gesellschaft entwickeln wollen, dann wünsche ich, dass die starken Kräfte, die lebensbejahenden Kräfte sich durchsetzen. Die vor uns stehende Bundestagswahl wird da zu einer Nagelprobe werden.
Main: Die wird das kommende Jahr sehr stark prägen?
Koch: Das zweifelsohne. Und natürlich wissen wir auch, dass wir eingebunden sein werden auch in diesem Jahr in weltpolitische Entwicklungen. Das fängt in den USA an – der neue Präsident –, das geht natürlich mit den Entwicklungen in Syrien und in vielen Krisengebieten weiter.
Nochmal, von Deutschland – denke ich – müsste ein Impuls nach vorne gehen, ein Impuls, der nicht blauäugig ist, sondern gerade aus solchen leidvollen Erfahrungen sagt: Und wir gehen trotzdem mit unserer Geschichte, mit unseren Erfahrungen, mit unserem Lebensmut nach vorne. Kommt mit!
Main: Heiner Koch, Erzbischof in Berlin. Vielen Dank Ihnen für das Gespräch und Ihnen ein gutes Weihnachtsfest.
Koch: Danke, das wünsche ich Ihnen und den Hörerinnen und Hörern von ganzen Herzen. Gesegnete Weihnacht.
Main: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.