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Berliner Label Habibi Funk
Grenzenloser Groove auf vergessenen Platten

2014 entdeckte Jannis Stürtz in Marokko den Sound, der den Stein ins Rollen brachte: eine Fusion von Orient und Okzident in Form von Vinylscheiben und Tonbändern. Sein erster Mix aus Funk, Soul und psychedelischen Tracks der 70er- und 80er-Jahre kam so gut an, dass daraus das Plattenlabel Habibi Funk wurde.

Von Thomas Ibrahim |
    Ein Mann steht vor mehreren bunten Stapeln mit Vinyl-Singles und blättert darin
    Die Musik der Wiederveröffentlichungen des Labels ist speziell, manchmal bizarr - und gerade dadurch charmant (Habibi Funk/Fabian Brennecke)
    Musik: Ahmed Malek – Omar Gatlatou (unreleased longer version)
    Bevor wir anfangen, gibt es eine Frage zu klären: Was sind Re-Issues?
    "Re-Issues sind glaub ich im allgemeinen Verständnis Wiederveröffentlichungen von Tonträgern, die schon mal erschienen sind. Da gibt es wahrscheinlich keine standardisierte Definition, aber ich würde meinen, wenn jetzt irgendwie die Platte von Cro auf Chimperator fünf Jahre später bei Universal nochmal rauskommt, würde man das nicht als Re-Issue bezeichnen. Es setzt sozusagen auch einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen Erstveröffentlichung und Zweitveröffentlichung voraus, damit es allgemeinhin als Re-Issue bezeichnet werden würde."
    Und jetzt Habibi Funk.
    Musik: Fadoul – "Sid Redad"
    Dieser Song könnte Ihnen bekannt vorkommen. "Sid Redad" ist eine rotzige Adaption des James Brown Klassikers "Papa’s got a brand new bag" und in gewisser Weise der Grund für diese Sendung. Es handelt sich um die zweite Veröffentlichung von Habibi Funk. Aber es ist der Song, der für das Berliner Plattenlabel den sprichwörtlichen Stein ins Rollen brachte. Wie hat das Ganze also angefangen?
    "Ich bin es natürlich vollkommen Leid, diese Frage zu hören, aber gleichzeitig bin ich mir vollkommen im Klaren darüber, dass es Teil meines Berufsprofils ist."
    Jannis Stürtz ist der Kopf hinter Habibi Funk. An einem trüben Februarnachmittag treffen wir uns in seinem Kreuzberger Büro. Ein geräumiges Ladenlokal mit Fensterfront und den obligatorischen hohen Decken ist das Zuhause der Plattenfirmen Jakarta Records und Habibi Funk. Da gerade gearbeitet wird, setzen wir uns auf zwei Stühle, die in der hintersten Ecke des offenen Raumes stehen und bei größeren Bewegungen quietschen.
    "Letztendlich ist es ein Zufall. Ich habe mit einem Freund, schon viele Jahre vor Habibi Funk ein Label namens Jakarta Records gemacht und einer der Künstler dieses Labels hat bei einem Festival in Marokko namens Mawazine gespielt. Und ich bin nach dem Festival noch ein paar Tage dageblieben und hab in einem Plattenladen, den ich wirklich durch absoluten Zufall gefunden habe, eine Platte von einem marokkanischen Künstler in den Händen gehalten namens Fadoul. Und ich habe direkt gedacht, die könnte interessant sein, Basis dessen, dass der Songwriting-Credit auf der A-Seite James Brown zugeschrieben war.
    Tatsächlich handelte es sich nicht um ein Cover im herkömmlichen Sinne, sondern um eine Adaption des James Brown Songs mit arabischen Lyrics. Angespornt durch diesen ersten Fund, durchwühlte Jannis Stürtz marokkanischen Plattenläden nach weiteren Songs von Fadoul und er wurde fündig.
    "Ich habe so die ersten Mixe gemacht, auf Soundcloud, da war die Resonanz irgendwie relativ groß. Und da ich halt eh schon im "Label-Betreiben" Erfahrung hatte und irgendwie realisiert hab, dass es so eine Disparität zwischen dem Interesse gibt, dass die Musik hervorruft und auf der anderen Seite es überhaupt nicht möglich war, die Musik zu hören, wenn man jetzt nicht gerade Tage in marokkanischen Plattenläden verbringt, war halt die Idee geboren, ein Label zu schaffen, was sich nur mit Nordafrika und dem Nahen Osten, also gemeinhin der arabischen Welt, beschäftigt. Und dann allerdings auch nicht mit dem Anspruch, die musikalische Tradition dieser Länder vollständig abzubilden, sondern schon unter der Prämisse mit einem sehr persönlichen Geschmack eine Auswahl zu treffen."
    Der gemeinsame Nenner
    Diese Auswahl überschreitet klangliche, zeitliche und räumliche Grenzen. Auf den Compilations, Alben und in den DJ-Mixes, die das Label bislang veröffentlicht hat, hört man Bläser neben Surfgitarren und Trommeln und Perkussion, die man sonst eher aus der traditionellen Musik der Gnawa kennt – alles eigen, alles mit groove, alles irgendwie elektrifiziert und im Großen und Ganzen nicht das, was den Klischees von Musik aus der arabisch-sprachigen Welt entspricht. Dabei greift der Name "Habib Funk" etwas zu kurz, denn Funk ist nur ein Musikstil im Portfolio des Labels.
    "Wenn ich versuchen würde zu beschreiben, was ein gemeinsamer Nenner ist, dann haben glaube ich all diese Releases die Gemeinsamkeit, dass lokale Einflüsse musikalischer Natur mit Einflüssen zusammenbringen, die von außen kommen. Das können dann musikalische Genres sein, die man gemeinhin dem Westen zuschreibt, von Soul, Funk, Disco, Jazz, aber z. B. bei den sudanesischen Wiederveröffentlichungen ist kongolesische oder äthiopische Musik mindestens genauso prägend."
    Musik: Kamal Keila – "Al Asfir"
    Die Musik auf den Wiederveröffentlichungen und Compilations von Habibi Funk, ist speziell, manchmal bizarr.
    Musik: Jalil Bennis Et Les Golden Hands - "Mirza"
    Der Sound der Aufnahmen ist oft sehr roh und vor allem bei Stücken mit Gesang wird deutlich, dass die Songs sich von westlichen Produktionen dieser Zeit abgrenzen. Einerseits natürlich durch die Sprache, andererseits durch die unbeschwerte Performance und Attitüde, die manchmal eher an Punk als an Soul, Disco und Jazz erinnert. Die Liebe zu diesen Kuriositäten war die eigentliche Motivation für die Gründung des Labels. Doch das Herzensprojekt Habibi Funk ist mittlerweile auch ein funktionierendes Business.
    Dass das Label sich bewähren konnte, lag nicht zuletzt an den günstigen Umständen zum Zeitpunkt der Gründung. Denn gerade für den Beginn von Habibi Funk war es essenziell, dass es die gleiche Firma war wie Jarkata Records, was zu dem Zeitpunkt ein Label war, das bereits ökonomisch funktionierte.
    "Ein Herzensprojekt, was auch Rechnungen bezahlt"
    "Ich glaube, diese Anfangsphase eines Musiklabels ist immer schwierig, wenn man versucht davon direkt leben zu wollen. Jakarta hatte so eine Wachstumsphase, während Malte und ich studiert haben und man sozusagen nicht davon leben musste. Und dann nach fünf, sechs Jahren waren wir irgendwann an dem Punkt, wo wir sagen konnten, wir machen das jetzt.
    Ich glaube bei so einem Label, was noch Research intensiver ist und wo man x-Mal nach Marokko fährt, um einen Künstler zu finden, wäre das noch viel schwieriger das als eigenständiges Projekt ökonomisch sinnvoll zu betreiben." Status Quo würde das wahrscheinlich gehen, aber letztendlich hat Habibi Funk den unheimlichen Vorteil gehabt, dass es ein funktionierendes Schwesterlabel hatte. Und natürlich sind wir in der privilegierten Position, davon leben zu können was wir sozusagen als Hobby betrachten, deswegen ist, glaube ich für uns das jetzt – Herzensprojekt und ein ökonomisches Projekt – glücklicherweise überhaupt kein Widerspruch. Also es ist ein Herzensprojekt, was auch Rechnungen bezahlt."
    Der Erfolg des Labels hängt nicht nur mit dem Flair der Musik zusammen: Die Alben haben schlichte, aber geschmackvoll gestaltete Cover. Darauf sieht man meist alte Bilder der Bands oder des Künstlers sowie den Titel des Albums und den Namen des Interpreten in farbiger, arabischer Schrift. Die dazugehörigen Booklets sind aufwendig recherchierte und ordnen die Künstler und ihre Alben zeitlich sowie musikalisch ein. Relativ detailliert erfährt man dort, wie die jeweilige Veröffentlichung zustande gekommen ist. Wer sind oder waren die Künstler? Wo haben sie gelebt? Unter welchen Umständen ist die Musik entstanden? Und wie ist das Label auf die Musik gestoßen?
    Da die Songs aus den unterschiedlichsten Teilen der arabischen Welt und aus mehreren Jahrzehnten stammen, ist das Aufspüren der Künstler oder der Angehörigen nur das erste einer Reihe von Hindernissen auf dem Weg zu einem Re-Issue.
    "Ich glaube, auf Jakarta machen wir im Jahr so zehn Releases, auf Habibi Funk sind es drei, das ist meist sehr viel aufwendiger als ein kontemporäres Release zu machen. Fotos finden, die Musik in einer Qualitätsstufe finden, dass ein Remastering, also ein Wiederherstellen des originalen Sounds möglich ist, das ist meist mit sehr viel Aufwand verbunden."
    Mehr als nur neu aufgelegte Songs
    Doch der Aufwand lohnt sich und das Ergebnis ist mehr als eine schöne Verpackung. Wie viel sich manchmal über einen Künstler und seine Musik zutage fördern lässt, sieht man im Fall von Ahmed Malek. Der 2008 verstorbene, algerische Komponist ist einer der etwas bekannteren Künstler im Katalog von Habibi Funk. Sein Album war eine der ersten Veröffentlichungen des Labels.
    "Ich weiß nicht wie bekannt er wirklich in Algerien gewesen ist. Ich glaub ganz oft, wenn du so Leute nach dem Namen fragst, hat das jetzt nicht so eine unmittelbare Assoziation. Aber ganz viele Leute kennen die Musik, weil er halt für wahrscheinlich die Hälfte der bekannten Kinofilme Algeriens der 70er Jahre die Musik gemacht hat. Wobei er halt über seine Arbeit für diese Soundtracks hinaus einfach auch sehr aktiv war Algerien zu vertreten. Also der hat bei Weltausstellungen teilgenommen, hat im algerischen Pavillon gespielt, war bei ganz vielen Musikkonferenzen. In den 80ern war regelmäßig jedes Jahr in Cuba und hat da auf so einem Festival in Varadero für Avantgarde-Elektronik Musik gespielt. Also der war einfach sehr, sehr umtriebig auch über seine unmittelbare Aufgabe als Komponist hinaus."
    Ein Mann mit Schiebermütze, beigem Leinenhemd und Bart sitzt an einem kleinen runden Tisch, vor sich ein Kaffee. Mit der rechten Hand hebt er den Tonarm eines tragbaren Plattenspielers auf eine schwarze Vinyl-Single.
    Jannis Stürtz in einem Café in Marokko: auf der Jagd nach Habibi Funk (Fabian Brennecke/Habibi Funk)
    Dass es überhaupt zur Wiederveröffentlichung von Ahmed Maleks Musik kam, ist auch einem Zufall zu verdanken: Bei einem DJ-Gig in Beirut erzählt Jannis Stürtz einer Freundin, wie versessen er auf die Musik von Ahmed Malek sei. Diese Freundin fragt daraufhin eine Bekannte um Hilfe bei der Suche nach der Familie des Komponisten. Zwei Wochen später dann die unglaubliche Antwort: Kein Problem, denn Henya, Maleks Tochter, war jahrelang die Nachbarin der Bekannten in Algier. Durch diesen Zufall erhält das Label mehr, als nur die Erlaubnis Ahmed Maleks Musik neu aufzulegen. Dokumente, Fotos, unveröffentlichte Videoaufnahmen und Musik, der Nachlass des Künstlers ist so reichhaltig, dass Habibi Funk daraus mehr macht als eine einfache Plattenveröffentlichung. In Zusammenarbeit mit dem "Goethe Institut" und dem "Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst" in Algier entsteht die Ausstellung Planète Malek – Une Rétrospective, die ab Juni 2019 gut einen Monat in Algier zu sehen ist.
    Musik: Ahmed Malek – "Henya"
    "Da sind wir tatsächlich bei diesem Künstler schon sehr nah dran so etwas wie ein Archiv zu haben. Weil der Künstler zu Lebzeiten sehr gut war, Materialien aufzubewahren – z. B. gibt es 15-20 Pässe von ihm. Der erste ist von Anfang der 40er und das ist sein Kinderarbeitsausweis während der französischen Kolonialzeit, für seine Arbeit in der Fabrik. Der heißt auch tatsächlich "Kinderarbeitsausweis" auf Französisch. Dann die ganzen Ausweise, die er immer hatte als Vertreter Algeriens bei den Weltausstellungen – und er einfach sehr gut war, Sachen zu archivieren bezüglich seiner eigenen Arbeit und seine Töchter dann glücklicherweise auch dieses ganze Material aufbewahrt haben. Also ganz oft hört man dann doch so Geschichten, wo Leute sagen: ‚Ja da hatte ich ganz viel von, hab ich alles weggeschmissen.‘ Und das ist eines dieser positiven Beispiele, wo das glücklicherweise nicht passiert ist."
    Die liebevolle Aufbereitung des Nachlasses, die intensive Zusammenarbeit mit Ahmed Maleks Familie und den Menschen vor Ort – Jannis Stürtz unternimmt mit seiner Arbeit, offensichtlich bewusste Anstrengungen die Künstler und ihr Umfeld in die Ausgestaltung und Produktion der Re-Issues einzubeziehen.
    "Für mich ist dieses Kontextualisieren eher so einer Verantwortung geschuldet, die ich spüre als Label, was sich aus einer westlichen Perspektive mit nicht westlicher Kultur beschäftigt. Wo es sozusagen, dieses Nord-Süd-Gefälle gibt, wo ich finde, dass es wichtig ist, dass man nicht mit einer komplett eigenen Perspektive diese Releases beschreibt, sondern möglichst viel die Stimmen der Macher mit einführt. Natürlich haben wir auch immer so eine persönliche Narrative, es geht immer auch drum, wie haben wir die Musik gefunden, aber trotzdem ist es das wichtig, so eine Balance zu finden, dass es nicht nur darum geht, wie wir zu der Musik gekommen sind und was unsere Assoziationen sind, sondern was die ursprünglichen Ideen dahinter waren."
    Partnerschaft auf Augenhöhe
    Die Reaktionen der Künstler auf die erste Kontaktaufnahme fallen sehr unterschiedlich aus. Ob die Künstler wissen was genau das Label von ihnen will und dass ein Re-Issue auch finanziell lohnend sein könnte, hängt stark davon ab, wie lang sie noch aktiv waren und wie sehr sie in einem professionellen Kontext gearbeitet haben.
    "Wir haben jetzt gerade von Majid Soula, einem algerischen Künstler ein Album gesignt, der hat all seine Sachen immer selber rausgebracht, ist noch halb aktiv, mit dem kann ich direkt über Vertragspunkte diskutieren und das ist eine Diskussion auf Augenhöhe. Auf der anderen Seite hab ich eine Diskussion mit einem sudanesischen Musiker gehabt, dessen Platte wir veröffentlicht haben, und der fand das völlig absurd, dass wir ihn jetzt nochmal bezahlen wollten, weil er meinte, das ist doch 40 Jahre alt, da bin ich doch damals bezahlt worden, ihr könnt die Musik ja einfach nehmen. Also die Spanne ist relativ groß."
    Der Umgang des Labels mit den Künstlern zeigt, dass Habibi Funk die Musiker als Partner ansieht. Fairness steht im Fokus, die Re-Issues sollen sich auch für die Künstler lohnen nicht nur für das Label.
    "Ich glaube von den 20 Verträgen, die wir bisher gemacht haben, hätte ich wahrscheinlich gut die Hälfte für Peanuts machen können, weil entweder die Künstler nur froh waren, dass die Musik wieder rauskam oder sie sich auch über 500 $ gefreut hätten, und ich glaub da ist es dann auch wichtig mit so einem moralischen Kompass sicherzustellen, dass die Verträge die man abschließt auch wirklich fair sind, was bei uns bedeutet, wir teilen die Gewinne 50-50, wir übernehmen nicht die Rechte an den Masterbändern, sondern wir bekommen nur eine Lizenz zu einer zeitlich begrenzten Auswertung, danach fallen die Rechte an die Künstler zurück. Und ich glaube, das ist auch in so einem postkolonialen Kontext, wo die Austauschbeziehungen zwischen dem in Anführungszeichen globalen Norden und dem globalen Süden immer schon geprägt waren von Ausbeutung und von kultureller Fehlrepräsentierung, halt besonders wichtig da eine aktive Verantwortung zu übernehmen und sich dieser historischen Kontinuität bewusst zu sein und daraus abgeleitet auch anders zu handeln."
    Musik: Freh Khodja – "La Coladera"
    "Bei eigentlich jedem Release gibt es jemanden, der aus der Stadt oder aus dem Land kommt, wo die Musik auch herkommt, der mit uns an dem Projekt arbeitet. Das sind Leute, die ich zufällig treffe oder ich frage Freunde und die connecten mich mit jemanden und ich hab relativ schnell festgestellt, dass es unheimlich sinnvoll ist, Leute aus den Ländern mit einzubinden. Zum einen führt das dazu, dass man eine gewisse Kontinuität hat, in der Zusammenarbeit mit den Künstlern, die dann ja auch oft sehr alt sind und nicht unbedingt WhatsApp, E-Mail und Co. benutzen und es dann meistens einfacher ist, wenn es dann noch eine Frage gibt oder was gemacht werden muss, einfach mal kurz vorbeifahren kann. Aber es führt halt auch dazu, dass ich noch eine sehr viel informiertere Person neben mir habe, wenn es darum geht kulturelle Besonderheiten zu erkennen, bestimmte Problemfelder zu antizipieren und ich letztendlich ja immer nur mit so einer Gastperspektive an Orte komme und das unheimlich hilft jemanden zu haben, der in der Kultur zuhause ist, um halt auch bestimmte Fehler nicht zu machen oder Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Themen jetzt vielleicht besonders sinnvoll sind nochmal anzugehen oder vielleicht auch in welchem Archiv man nochmal schauen kann und irgendwelche Fotos findet usw."
    Ohne diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wäre Habibi Funk wohl kaum möglich. Diese Abhängigkeit liegt in der Natur der Sache. Das Label ist immerhin darauf angewiesen vor Ort "neue alte Musikaufnahmen" zu finden. Anschließend ist der Zugang zu den Künstlern oder deren Angehörigen essenziell für die Wiederveröffentlichung. Beides führt dazu, dass Konflikte und Probleme, in den Ländern, in denen das Label gerade aktiv ist, konkrete Folgen für die Arbeit von Jannis Stürtz und seinem Team haben.
    "Wir sind keine NGO, wir sind keine politische Vereinigung"
    "Manchmal sind dann auch noch die politischen Rahmenbedingungen erschwerend. Z. B. sind wir gerade dabei, wir haben bisher so drei bis vier Releases aus Libyen gesignt und da aber ich aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Libyen nicht dorthin reisen kann, läuft das über einen lokalen Kollegen. Aber auch da fällt dann jedes zweite Meeting aus, weil halt die Milizen eine Straße gesperrt haben, hauptsächlich arbeitet er in Tripolis gerade für uns und da gibt es ja gerade die Offensive des Hafta Regimes, was sozusagen aus dem Osten Libyens kommt und wenn da dann wieder gerade bombardiert wird, kann man sich auch in der Stadt nicht mehr so frei bewegen. Und das sind dann natürlich Sachen, wo am Ende des Tages Musik eine völlig untergeordnete Rolle spielt, wenn es erst einmal ums Überleben und die Sicherheit von Personen geht aber was dann sozusagen auch die Grundlage ist, wieso es manchmal anderthalb Jahre dauert von dem Zeitpunkt, wo wir einen Deal mit einem Künstler unterschreiben, bis dann die Platte wirklich rauskommt."
    Politische Krisen und Konflikte in den Ländern der Region bekommen für den DJ und Labelbetreiber durch die starken beruflichen Verbindungen, zwangsläufig eine persönliche Dimension.
    "Man hat einen ganz anderen persönlichen Bezug zu diesen Nachrichten. Man kennt halt die Leute, die jetzt nur noch 200 Euro pro Woche abheben können oder jetzt als ich am Wochenende in Istanbul gespielt habe war mein Veranstalter Syrer und dann hat man halt einen Bezug zu Syrern die halt in der Türkei relativ entrechtet versuchen über die Runden zu kommen oder den palästinensischen Aktivisten, die um irgendwie in einer Venue in Israel zu spielen über die Mauer springen und denen ins Bein geschossen wird. Das sind alles so Headlines, die man halt kennt, aber natürlich, über meine Arbeit kenne ich mitunter dann auch die Leute hinter der Headline. Dadurch hat man natürlich automatisch einen ganz anderen Bezug und ein anderes Interesse an diesen Nachrichten, die man sonst vielleicht einfach nur so wahrnehmen würde."
    Musik: Fadoul – "Al Zman Saib"
    "Wir sind ein Musiklabel. Wir sind keine NGO, wir sind keine politische Vereinigung. Aber gleichzeitig sind wir ein Musiklabel, was sich in einem Feld bewegt, in dem sich politische Implikationen ganz natürlich ergeben – es gibt wahrscheinlich auch Leute, die das trotzdem sehr unpolitisch gestalten würden – aber es ist für uns sehr naheliegend sich mit denen auch aktiv auseinanderzusetzen."
    Das ist selbstverständlich, wenn die Musik explizit politisch ist. Das Album des Sudanesen Kamal Keila z. B. Es ist eins der wenigen Releases von Habibi Funk, auf dem sich auch vier englischsprachige Songs befinden. "Muslims and Christians", "Agricultural Revolution", "African Unity", "Sudan in the Heart of Africa" – diese Songtitel sind eindeutig, in Kamal Keilas Lyrics spielen die politischen Umstände in seiner Heimat eine große Rolle.
    "Und da hatten wir eine sudanesische Freundin, die Journalistin ist, die so eine Einordnung des politischen Kontextes des Sudan zu der damaligen Zeit geschrieben hat. Das war so der Startpunkt Basis dessen wir dann auch drei kurze Dokumentationen produziert haben zu Künstlern und uns das immer wichtig war nicht nur die Musik, ohne jedwede Erklärung zu veröffentlichen, sondern auch zu versuchen den Kontext Basis derer diese Musik entstanden ist ein Stück weit nachvollziehbar zu machen."
    Musik: Kamal Keila – "Muslims and Christians"
    Doch welche politische Wirkung kann das Wiederveröffentlichen Jahrzehnte alter Musik haben, wenn ein Album ganz und gar unpolitisch ist oder es sich sogar um Instrumentalmusik handelt? Im Fall von Habibi Funk entsteht die Wirkung dadurch, dass die Releases mit dem oberflächlichen und eintönigen Narrativ brechen, das in Europa über die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens vorherrscht.
    Ethnische Spannungen, religiöser Fundamentalismus, wirtschaftliche Instabilität, und autokratische Herrscher – keine Frage, in vielen der Länder, aus denen die Musik im Katalog des Labels stammt, sind diese Probleme Realität. Doch das Leben besteht auch dort nicht voll und ganz aus den politischen Verhältnissen, die die Menschen umgeben. Die Releases und Partys konzentrieren sich genau darauf. Es geht um die Begeisterung für etwas, das zunächst einmal nichts mit Politik oder Religion zu tun hat, etwas das sich den Klischees, Normen und Konventionen, die der arabischen Welt zugeschrieben werden, widersetzt.
    "Was lustiger weise glaube ich einer der Faktoren ist, wieso wir auch ein Following haben in vielen der Länder der arabischen Welt. Ich glaube, das ist tatsächlich schon sowas, wo eine jüngere Generation schon sehr sensibilisiert ist, dass man halt irgendwie keinen Bock mehr hat in so Stereotypen wahrgenommen zu werden. Und dementsprechend es auch eine Appreciation gibt, wenn ein Musiklabel aus Europa sich bemüht, da andere Wege zu gehen."
    Musik: Issam Hajali – "Ada"
    "Viel Interesse von einer jüngeren Generation in Nordafrika und dem Middle-East"
    Nach gut fünf Jahren und zwölf Releases kann man sagen, dass Habibi Funk funktioniert. Die Platten verkaufen sich international. Außerdem ist Jannis Stürtz mit dem originellen Sound erfolgreich als DJ unterwegs und legt regelmäßig in Städten wie Beirut, Casablanca und Kairo auf. Mit der Musikauswahl seiner Re-Issues hat das Label einen Nerv getroffen, nicht nur aber auch und gerade in den Ländern der arabischen Welt.
    "Ganz grundsätzlich von der Resonanz haben wir, glaube ich, schon ein weitestgehendes Alleinstellungsmerkmal, als ein europäisches Label, was sich mit dem Wiederveröffentlichen nicht europäischer Musik beschäftigt, als dass die meisten Labels, die das machen schon relative exklusiv das für ein westliches Publikum das machen. Und das ist jetzt auch ein Stückweit richtig für uns, wenn es darum geht, wo verkaufen wir Schallplatten, das liegt aber auch daran – es gibt in Beirut zwei, drei Plattenläden, es gibt einen in Casablanca, einen in Amman – aber sozusagen, diese Struktur der Outlets, wo wir verkaufen können einfach nicht da ist und online bestellen viel schwieriger ist, weil oft die Kreditkarten in der Region nicht international funktionieren, die Post ist unzuverlässig usw. Aber wenn man sich loslöst von den unmittelbaren Verkäufen und es sozusagen um eine Rezeption geht, d. h. woher sind die Leute, die uns auf Social-Media folgen, woher sind die Leute, die die Partys besuche, wo meine DJ-Sets sind, dann gibt es relativ viel Interesse von so einer jüngeren Generation in Nordafrika und dem Middle-East. Und ich nicht einmal genau sagen, wieso uns das gelungen ist, gefühlt mehr Relevanz in den Ländern zu haben, wo die Musik herkommt aber aus irgendeinem Grund ist uns das ein Stück weit gelungen, was die Arbeit für mich auch irgendwie wertvoller macht, wenn es sozusagen auch eine Hilfe ist für Leute, sagen wir in Casablanca vielleicht auch Musik zu entdecken, die vielleicht auch aus der Generation ihrer Eltern kommt, die aber vorher keinen Zugang hatten und vielleicht gar nicht wussten, dass die existiert. Letztendlich bin ich über jeden Hörer froh, aber trotzdem hat das jetzt für mich tatsächlich noch irgendwie eine größere Bedeutung für mich persönlich."
    Musik: Dalton – "Alech"
    "Letztendlich macht es ja auch Sinn, dass möglichst viele dieser in Anführungszeichen Kulturgüter auch da verbleiben, wo sie produziert worden sind"
    Der Erfolg von Habib Funk in der arabisch-sprachigen Welt hat dazu geführt, dass sich heute vor Ort wesentlich mehr Leute für verstaubte Plattenkisten interessieren als noch vor einigen Jahren, die Szene wächst. Die Frage, ob er das Gefühl habe, diesen Trend mit angestoßen zu haben, beantwortet Jannis Stürtz selbstbewusst:
    "Klar, das merkt man ja auch. Wenn ich mir so auf Facebook anschaue was diese, sagen wir mal Sammler in Marokko, als Highlights posten, dann ist das eben Fadoul usw. und ein paar andere Künstler, die jetzt auch bei mir in irgendwelchen Mixes waren."
    Dass junge Menschen in Tunesien, Jordanien oder Marokko sich durch sein Label inspiriert fühlen nun selber nach alten Schallplatten zu suchen, ist für den DJ einerseits ein Kompliment. Andererseits macht es seine Arbeit auch ein bisschen schwieriger.
    "Einer der Effekte, die die Arbeit mit Habibi Funk hat und auch die Tatsache, dass sich immer mehr junge Leute auch vor Ort sich interessieren, ist, dass das finden interessanter Schallplatten immer schwieriger geworden ist. Ich hab natürlich keine Chance gegen irgendeinen jungen Typen oder ein junges Mädel, das in Casablanca lebt, dem Plattenladenbesitzer sagt hier ist meine Nr., ruf mich an wenn eine neue Sammlung reingekommen ist, und sozusagen gerade ein Übergang der Sammlungshoheit in lokale Hände erfolgt, was ja auch ein total sinnvoller Effekt ist. Also letztendlich macht es ja auch Sinn, dass möglichst viele dieser in Anführungszeichen Kulturgüter auch da verbleiben, wo sie produziert worden sind und man nicht in einem Szenario endet, wo jede Fadoul-Platte sich außerhalb Marokkos befindet. Deswegen ist das natürlich eigentlich ein völlig positiver Effekt. Aber ich persönlich, wenn ich dann mal Zeit habe zwischen DJ-Gigs hier und da nochmal eine Platte zu finden und vielleicht nochmal irgendwas irgendeinen Künstler zu finden, den ich noch nicht auf dem Schirm hab, das wird tatsächlich immer schwieriger. Wobei ich auch all diese Leute kenne und zum Teil sich diese Leute dann auch bei mir melden und sagen: ‚Hey, ich hab hier diese Platte gefunden, vielleicht interessiert sie dich ja‘."
    Jannis Stürtz bleibt diesbezüglich also gelassen, die Platten werden ihm schon nicht so schnell ausgehen. Die Sammlerinnen und Sammler vor Ort sind für ihn weniger Konkurrenz, als vielmehr Schwestern und Brüder im Geiste. Und auch mit Musikliebhabern und Labels in der arabisch-sprachigen Welt, die versuchen es Habibi Funk gleich zu tun und sich bemühen alten und vergessenen Songs selber neues Leben einzuhauchen, wird kooperiert nicht konkurriert.
    "Es gibt so zwei, drei Leute, mit denen ich in Kontakt bin, wo es den Plan gibt und wo wir letztendlich auch angeboten haben da zu helfen, was Herstellung von Vinyl angeht, Vorfinanzierung, Vertrieb. Weil natürlich im Vergleich wir in Europa in einer relativ privilegierten Position sind und das natürlich aus Marokko heraus zu tun ein bisschen schwieriger ist. Aber letztendlich ist das natürlich auch was, was total erstrebenswert ist, dass auch Leute aus den Ländern, wo die Musik herkommt, selber sich um diese Wiederzugänglichmachung kümmern. Und ich glaube das ist auch ein Trend, den man ganz oft beobachten kann. Also wenn man sich z. B. Wiederveröffentlichung thailändischer Musik vor zehn Jahren anschaut, waren das klassische westliche Labels und inzwischen sind es fast nur noch thailändische Labels, die es machen. Und der gleiche Mechanismus, dass natürlich jemand der vor Ort diese Dinge sehr viel effizienter gestalten kann, trifft nicht nur auf das Suchen von alten Schallplatten zu, sondern auch auf das Wiederveröffentlichen alter Musik. Das sind Strukturen, die da langsam am Wachsen sind und ich glaube in zwei, drei Jahren, wird es durchaus eine Handvoll von Wiederveröffentlichungen geben und ich finde, das ist eine Entwicklung, die wir wie gesagt auch total gerne unterstützen."
    Habibi Funk war also erst der Anfang und Fans des Sounds können gespannt in die Zukunft blicken. Hauptsache die Musik findet ein Paar Ohren, dem sie gefällt.
    Musik: Hamid El Shaeri – "Ayonha"