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Berliner Philharmoniker
Kluger Charismatiker am Pult

Morgen wählen die Berliner Philharmoniker ihren neuen Chefdirigenten. Zu den Favoriten gehörte eigentlich der Lette Mariss Jansons, der allerdings gerade seinen Vertrag in München verlängert hat. Wie elektrisiert das Orchester unter ihm jedoch spielt, durfte er jetzt noch einmal beweisen.

Von Julia Spinola |
    Mariss Jansons beim Neujahrskonzert 2012 in Wien.
    Mariss Jansons beim Neujahrskonzert 2012 in Wien. (picture alliance / dpa / Herbert Neubauer)
    Transparent, duftig und kristallin ließ Mariss Jansons den Klang in Ravels zweiter Orchestersuite aus "Daphnis et Chloé" aufblühen. Betörender, atemvoller hat man dieses lichtdurchflutete symphonische Gemälde aus Zwitschern und Zirpen und Harfenrauschen kaum je hört. Die Berliner Philharmoniker ließen den Farbenreichtum dieser Partitur in einer solch brillanten Nuanciertheit zur Geltung kommen, als wollten sie an den Vorabenden zur Wahl des neuen Chefdirigenten abermals beweisen, dass sie das beste Orchester der Welt sind. Auch das Programm war geeignet, jene Überlegenheit vorzuführen, die sich das Orchester längst auch jenseits des Kernrepertoires erarbeitet hat. Gespielt wurden drei Werke der Moderne, die in unterschiedlichste Klanggefilde führen. Die melancholisch-verinnerlichten Zwiesprachen zwischen Solist und Orchester in Dmitri Schostakowitschs zweitem Violinkonzert fordern einen völlig anderen Ton, als die harmonisch vitalisierten Naturimpressionen Ravels. Und mit Béla Bartóks raffinierter Aneignung der ungarischen Volksmusik in seiner "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" tritt man wiederum in eine völlig neue Klangwelt ein.
    Wenn die Berliner Philharmoniker sich heute im Repertoire des frühen 20. Jahrhunderts mit ebenso großer Selbstverständlichkeit bewegen wie in den Werken der großen Symphonik, dann ist das Simon Rattles Verdienst. Natürlich hatte schon Claudio Abbado damit begonnen, den Karajan'schen Breitwandsound aufzubrechen und das Orchester in neue Ausdrucksregionen zu führen. Doch die Flexibilität, die technische Brillanz und die enorme stilistische Vielseitigkeit, die an diesem Abend zu bewundern waren, gehen auf das Konto jener detailversessen, ja akribischen Probenarbeit, mit der Simon Rattle seinen Klangkörper getriezt hat – nicht ohne sich auch den entsprechenden Unmut darüber zuzuziehen. Entgegengekommen ist Rattle dabei die starke Verjüngung des Orchesters innerhalb der letzten zehn Jahre, aber auch die Öffnung für höchst unterschiedliche Gastdirigenten, die Rattle stets von Herzen gefördert hat. Das Orchester kann jetzt alles.
    Thielemann-Wahl würde in Ästhetik der Karajan-Ära zurückführen
    Und doch ist etwas auf der Strecke geblieben: eine gewisse Leidenschaft, ein Wille zur Grenzüberschreitung, eine spontane Lust am Klang. Gerade unter Rattle hörte sich das Orchester phasenweise auch leblos an, manieriert, wie abgeschnitten von den eigenen Ausdrucksimpulsen. Erst nachdem er seinen Abschied bekannt gab, fand er mit dem Orchester wieder zu jenem frischen, befreiten Ton, mit dem er seinerzeit in Birmingham Furore gemacht hat.
    Wenn die Berliner Philharmoniker morgen ihren neuen Chefdirigenten wählen, wird es harte Diskussionen darum geben, was dieses Orchester, das doch meint, alles schon zu können, zukünftig braucht. Die Fronten scheinen verhärtet. Ein Teil des Orchesters sucht einen dynamischen Dirigenten der jüngsten Generation, von dem man sich neue Energie und Lebendigkeit erhofft. Ein anderer Teil sehnt sich nach der starken Künstlerpersönlichkeit eines erfahrenen Maestros. Und quer dazu gibt es noch eine starke Fraktion für Christian Thielemann, der als strenger Kapellmeister alter Schule mittleren Alters auf den ersten Blick beides zu vereinen scheint. Seine Wahl würde das Orchester auch ein Stück weit zurückführen in die Ästhetik der Karajan-Ära.
    Wie bereitwillig sich das Orchester elektrisieren lässt, wenn ein kluger Charismatiker am Pult steht, das hat das umjubelte Konzert mit Mariss Jansons gezeigt. Als Nachfolger hat sich Jansons durch seine Vertragsverlängerung in München scheinbar gerade selbst aus dem Rennen genommen. Aber wer kann schon sagen, was wirklich passieren würde, wenn ihn das Orchester morgen anrufen würde? Sicher ist jedoch: Die Berliner Philharmoniker brauchen für die Zukunft eine starke, künstlerische Herausforderung, einen Chef, der sie im Konzert so über sich hinaustreibt, dass sie ihre Selbstgewissheit und Könnerschaft für Minuten vergessen.