Was für ein Debakel, was für eine Enttäuschung: Seit Monaten fieberte die musikbegeisterte Öffentlichkeit auf diesen einen Tag hin, an dem die Berliner Philharmoniker ihren neuen Chefdirigenten wählen sollten. Rankings wurden aufgestellt. Die Liste potenzieller Kandidaten wurde wieder und wieder in den Feuilletons diskutiert.
Eine Berliner Tageszeitung und ein lokaler Rundfunksender veranstalteten vor der Scharounschen Philharmonie eine Publikumsbefragung, bei der die treue Berliner Zuhörerschaft aufgefordert war, ihren Lieblingskandidaten zu wählen. Und dann treten nach einem zermürbenden Wahltag gegen halb zehn Uhr abends die Orchestervorstände vor die vom langen Warten nicht minder zermürbte Journalistenschar vor der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem, um ein Scheitern zu verkünden: Es gibt kein Ergebnis. Für keinen der in Frage kommenden Dirigenten wurde eine Mehrheit gefunden. Schlimmer noch: Die Berliner Philharmoniker konnten sich innerhalb ihrer elf Stunden dauernden Sitzung noch nicht einmal auf zwei Kandidaten einigen, zwischen denen es dann wenigstens eine Stichwahl hätte geben können.
Wie kann das sein, nachdem die Diskussionen innerhalb des Orchesters nun schon seit Monaten auf Hochtouren laufen? Ist dem Eliteensemble keiner der Kandidaten gut genug? Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass in der Dirigentenlandschaft von heute eine Brache zu beklagen sei: Jene Handvoll erfahrener Star-Dirigenten, die noch den Nimbus eines Maestros alter Schule verkörpern, seien schon zu alt für den Posten, die neuen Sensationstalente wie Andris Nelsons oder Gustavo Dudamel hingegen seien noch zu jung und künstlerisch zu wenig ausgereift. Oder ist es – horribile dictum – gar umgekehrt, und jene Position, die bislang als die unumstrittene Krönung jeder Dirigentenlaufbahn galt, hat in unseren globalisierten Zeiten an Attraktivität verloren? Immerhin haben sich auffällig viele der Favoriten auf die eine oder andere Weise schon vor der Wahl selber aus dem Rennen gezogen: Gustavo Dudamel, Kirill Petrenko, Daniel Barenboim, Andris Nelsons und zuletzt auch noch Mariss Jansons. Ist also auch das Berliner Philharmonische Orchester heute nur noch ein Spitzenensemble unter vielen?
Beides scheint zu kurz gegriffen. Man muss den Philharmonikern weder Arroganz, noch Statusverlust andichten, um die Ergebnislosigkeit dieser Wahl zu erklären, so deprimierend sie auch ist. Mit der öffentlich eingestandenen Unfähigkeit zu einer Entscheidung ist nun jedoch das ganze Ausmaß jener tiefen Identitätskrise offenbar geworden, in der das Orchester nicht erst seit gestern steckt. Der Richtungsstreit begann die Philharmoniker schon bald nach der Wahl Sir Simon Rattles im Jahr 1999, die alles andere als einhellig erfolgt war, zu spalten. Traditionalisten sorgten sich darum, dass Rattle mit seiner unermüdlichen Erschließung eines neuen Repertoires, die deutsche klassisch-romantische Tradition vernachlässige. Man fürchtete, den silbrig-satten Klang des Orchesters zu gefährden, der als Chimäre eines spezifisch "deutschen" Klangs allenthalben beschworen wird, obwohl er sich nur schwer wirklich definieren, oder gar zurückholen lässt. Rattles Anhänger dagegen begrüßten die Öffnung für noch unerschlossene Repertoirebereiche und eine neu gewonnene Transparenz des Klangs, durch die sich das Orchester zu einem stilistisch hoch flexiblen und technisch brillanten Klangkörper gewandelt hat.
Rattle hat die Berliner Philharmoniker mit seinem ästhetischen Pioniergeist, mit Educationprojekten und einer hochmodernen multimedialen Präsenz zu einem Vorreiterorchester des 21. Jahrhundert gemacht. Das Orchester ist auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Es kann sozusagen alles. Doch die Sehnsucht nach einer unverwechselbaren Klangidentität, nach einer stilistischen Führerschaft spaltet die Musiker. Ein wenig mutet das auch an, wie Angst vor der eigenen Courage. Bis zu einem weiteren Jahr haben sich die Berliner Philharmoniker nun Zeit ausbedungen, um sich als Kollektiv wieder neu zu finden. Sie stehen vor einer Grundsatzentscheidung: Wollen sie den Weg in die Zukunft weitergehen, womöglich um den Preis des Verlustes ihrer Unverwechselbarkeit? Oder flüchten sie sich in den Traum von der Wiederkehr seliger Karajan-Zeiten und wählen sich einen autokratischen Dirigenten alter Schule, der sie wieder aufs klassisch-romantische Kernrepertoire einschwört. Dann freilich würden sie Gefahr laufen, in der internationalen Orchesterlandschaft irgendwann als ein wertvolles Museumsstück dazustehen.