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Berliner Short Cuts auf der Bühne

Der Autor Roland Schimmelpfennig hat eine Auftragsarbeit für das Deutsche Theater in Berlin geschrieben. "Auf der Greifswalder Straße heißt es und präsentiert 50 Personen in 63 Szenen in alltäglichen, aber auch träumerischen Momenten. Regisseur Jürgen Gosch hat elf Personen herausgegriffen und sie durchaus nicht in realistischer Umgebung auf die Bühne gebracht.

Von Hartmut Krug |
    Roland Schimmelpfennig montiert seine Stücke gern aus lauter Shortcuts: In seinem Stück "Vor langer Zeit im Mai" warf er in 81 träumerischen Szenen Blitzlichter auf eine umfangreiche und skurrile Figurenschar. "Auf der Greifswalder Straße" besteht aus "nur" 63 kurzen Szenen, führt aber 50 Personen an unterschiedlichsten Orten der Greifswalder Straße in Berlin vor.

    Regisseur Jürgen Gosch, der bereits vier Stücke von Schimmelpfennig auf die Bühne gebracht hat, darunter zwei zur Uraufführung, belässt es bei 11 Schauspielern in einer Einheitsszenerie. Die zeigt kein realistisches Abbild einer Straße oder einer Stadt, wie ohnehin die gesamte Inszenierung sich jede Art von direktem Realismus versagt.

    Bühnenbildner Johannes Schütz hat einen leicht und schräg zum weißen Rundhorizont ansteigenden, mit schmalen bühnenbreiten Stufen versehenen leeren Raum gebaut, in den die Darsteller aus der ersten Zuschauerreihe hinein steigen. Jürgen Gosch zeigt uns überdeutlich, dass hier Theater gespielt wird und alles eine Fiktion ist. Oder besser: ein Alptraum voller Ängste, Sehnsüchte und Wünsche.

    Schimmelpfennigs ausgetüfteltes, aus epischen und dokumentarischen, aus scheinbar undramatischen sowie aus Chor- und Spielszenen montiertes Stück bietet keine genauen sozialen Beschreibungen, sondern führt ein genau beobachtetes großstädtisches Typenarsenal vor. Nicht Arbeitslosigkeit oder soziales Elend, sondern die unerklärlichen Schrecken der Großstadt und die daraus folgenden individuellen Verstörungen der Menschen sucht er, manchmal bemüht poetisierend, zu beschreiben.

    Jürgen Gosch, der in seinen letzten Inszenierungen, ob im Düsseldorfer "Macbeth" oder in den Hannoveraner "Drei Schwestern", sich deutlich kaum um die sozialen oder gar politischen Komponenten der Stücke gekümmert hat, führt auch hier wieder vor allem menschliches Leben vor, das aus wieder erkennbaren Gesten, Haltungen und Handlungen erwächst. An die Stelle von Schimmelpfennigs Poetisiererei setzt Gosch ein Spiel kräftiger, oft überaus komischer Effekte.

    Der Obst- und Gemüsehändler Rudolf erfährt im Albtraum, dass er nur noch 24 Stunden zu leben habe. Wir erleben seinen 24-Stunden-Tag auf der Greifswalder Straße, bei dem ihm viele Menschen begegnen, deren scheinbar vereinzelte Geschichten sich immer mehr verknüpfen. Ingo Hülsmann spielt diesen Rudolf als einen panisch aufgeregten Mann, der, weil er als Verkörperung der menschlichen Seite der Stadt die Liebe zu einer jungen Frau wagt, zunächst völlig nackt auf die Bühne steigen muss.

    Während Maika, das Objekt seiner auch ihn selbst überraschenden Liebe, von der herrlich cool-irritierten Katharina Lorenz mit hypermotorischer Lebendigkeit gespielt wird. Ihre Angst vor dem Gefühl gebiert Aggressivität: Zwar zieht Maika bei Gosch sich und Rudolf nackt für die Liebe aus, doch dann schreckt sie zurück, zerschneidet sich das Gesicht mit einer Scherbe und erschießt Rudolf.

    Die Pistole gehörte einem von drei Rumänen, die mit Macho-Allüren herumstolzieren, zugleich aber mit philosophierenden Sehnsüchten die Sonne und den Mond über der Stadt betrachten (wunderbar in einer weiteren Rolle als einer der Drei: Ingo Hülsmann).

    Wir erleben die Wolfsstunde zwischen Nacht und Tag, in der ein seinem Besitzer fortgelaufener Hund zu einem Wolf wird, der eine junge Frau beißt, die dadurch sich zum Wolf wandelt und erschlagen wird. Diese Passagen unterspielt Gosch nicht, sondern stellt sie mit bewusster Künstlichkeit stark aus.

    Effekt macht die Inszenierung auch damit, dass hier jeder Schauspieler immer wieder in neue Rollen steigen muss. Ob Gleisbauarbeiter Schweißarbeiten verrichten, Bauarbeiter für eine Haussanierung Mauerwerk aus Seitenlogen auf die Bühne kippen, ob der fulminante Bernd Stempel fremde Sprachen oder tierische Eigenschaften aus dem Körper eines verwirrten Mannes hervorwachsen lässt, oder ob ein Chor von kittelbeschürzten Kassiererinnen Geschichten erzählt und Meinungen kundtut: Immer erkennt man in den Theaterfiguren Menschen, deren aus genauer Alltagsbeobachtung gewonnene Gesten sie in sinnlicher Wahrhaftigkeit präsentieren.

    Wenn hier drei Wissenschaftler gezeigt werden, während sie fotografiert werden, erkennen wir Haltungen und Figuren, obwohl wir ihre Worte nicht verstehen können.

    Jürgen Gosch hat es in seiner Methode, Menschen aus Gesten und Haltungen deutlich und real werden zu lassen, mittlerweile zu einer stupenden Meisterschaft gebracht. Damit verhalf er Roland Schimmelpfennigs bei der Lektüre zuweilen etwas bemüht und leichtgewichtig wirkendes Stück zu ganz eigener Bühnenwirklichkeit und großer Bühnenwirksamkeit.