Da steht er, der große Argonautenheld Jason lehnt mit dem Rücken siegesgewiss an einer Mauer und träumt mit geschlossenen Augen von seiner Liebesnacht mit Medea, genauer: vom Glück "mit den Augen zu fühlen und mit dem Gefühl zu sehen". Denn die Begegnung der beiden Liebenden, das war der eigentliche Thrill, fand in absoluter Dunkelheit statt. Damit aber fangen die Verwirrungen in Lucia Ronchettis zeitgenössischer Übermalung und Verdichtung der Erfolgsoper des Monteverdi-Schülers Francesco Cavalli erst an. Denn die Mauer, die Stephan von Wedel für Reyna Bruns Inszenierung in den kleinen Bühnenraum der Staatsopern-Werkstatt gebaut hat, ist in Wahrheit nur ein mit einem goldenen Tuch verhängter Rahmen. Sie bietet keinen festen Halt. Im Gegenteil: In ihrem Inneren beginnt es bald zu rumoren wie im durcheinandergewirbelten Unbewussten des Helden. Erst regen sich die Stimmen eines Vokalquartetts, dann beginnen die Wände zu schwanken und schließlich bringen vier leibhaftige Springteufel des Jason'schen Trieblebens den Rahmen zum Einstürzen.
Der 1963 in Rom geborenen Komponistin ist mit ihren "Lektionen der Dunkelheit", einer einstündigen Studie über das Labyrinth der Seele, ein Wurf gelungen. Cavallis Leistung war es, die Figuren seiner Oper durch verschiedene Vokalstile und differenzierte Ausdruckscharaktere klar voneinander unterscheidbar zu machen. Hier knüpfte Ronchetti an, indem sie die sechs Figuren ihrer "Riduzione", wie sie ihre Fassung nennt, von zwei Sängern darstellen lässt, die beide über einen exorbitanten Ambitus und eine geradezu zirzensische Verwandlungsgabe verfügen müssen.
Mit dem Countertenor Daniel Gloger, der als fabelhaft lyrischer, einfühlsamer Stimmkünstler die Partien des Giasone, des Oreste und der Isifile singt, und der furios ausdrucksstarken Sopranistin Olivia Stahn in den derb-hochdramatischen Rollen der Medea, des stotternden Zwergs Demo und des Egeo, hat die Berliner Inszenierung hier ideale Voraussetzungen geschaffen. Auch die Solisten des Vokalquartetts leisten Außerordentliches.
So wie sich auf der verwirrenden Handlungsebene Traum und Realität, reale und imaginierte Begegnungen kaum voneinander unterscheiden lassen, lotet Ronchettis Musik gleichsam die expressiven Abgründe aus, die sich unterhalb der geordneten Welt musikalischer Affekte auftun. Da beginnt der Sopran plötzlich zu keuchen, animalisch zu grunzen oder hysterisch nach Luft zu schnappen, während der Countertenor sich in den schluchzenden Koloraturen der liebesgekränkten Isifile verströmt. Teile der Originalpartitur sind, insgesamt eher sparsam begleitet von den instrumentalen Gesten eines Streichquartetts und der Schlaginstrumente, übernommen worden. Sie irrlichtern wie Trugbilder durch die kristalline Musiksprache Ronchettis. Wo Cavalli aufhört und Ronchetti anfängt, lässt sich nicht dingfest machen.
Während die Inszenierung der Uraufführung 2011 im Berliner Konzerthaus eine distanzierende, die Handlung durch Puppenspiel abstrahierende Perspektive einnahm, hat Reyna Bruns mit sparsamsten szenischen Mitteln einen intensiv-unmittelbaren und höchst musikalischen Bühnenausdruck für die Gefühls-Exaltationen des Stücks gefunden. Ein Bisschen Goldschminke, die weißen Holzteile des zerborstenen Rahmens und schlichte schwarze Kostüme genügen, um das ganze Geschehen als Blick in die seelischen Innenwelten der Protagonisten aufzufächern. Nicht zuletzt dank der geschmeidig wie Tänzer agierenden Darsteller entfaltet der Abend eine geradezu antikische Wucht.