Der Regisseur Christopher Rüping ist mit seiner Züricher Inszenierung von "Einfach das Ende der Welt" zum Berliner Theatertreffen 2021 eingeladen, das zur Eröffnung aus Zürich live gestreamt wird. Digitales Theater sei auf den ersten Blick einfacher zugänglich, sagt er: "Man muss sich nicht von zu Hause entfernen, nicht so viel Geld bezahlen."
Aber: Was man digital zu sehen bekommt, insbesondere wenn es sich um gestreamte Theaterinszenierung handelt, sei als Erlebnis nicht so ohne Weiteres zugänglich. "Die Hemmschwellen beim digitalen Theater fallen weg, die Distributionsweisen sind demokratischer. Aber das Produkt oder das Erlebnis ist wesentlich enigmatischer und weniger zugänglich." Und das Theater sei ohnehin ein Betrieb, der sich schnell mal "überhitze": "Die digitalen Formate sind wie eine Sparte dazu, die theoretisch jetzt noch mehr Druck auf dem Kessel bringen könnte."
Theater als Versammlungsort fehlt
Zum bereits zweiten Mal findet das tt in digitaler Form statt. In diesem Jahr bedeutet das: Theater wieder ganz ohne Publikum, in unterschiedlicher Form: Von den zehn ausgewählten "bemerkenswerten Inszenierungen des Jahres" werden die meisten live aufgeführt und in Echtzeit gestreamt. Drei der Stücke sind Fernseh-Aufzeichnungen, wie sie seit vielen Jahren 3sat übernimmt und ausstrahlt. Das ist mithin die "altmodische" Art, wie Theater ins Digitale übersetzt wird - die man derzeit hinnehmen muss, weil das 'echte Theater' (noch) nicht wieder zu haben ist.
Die eigentliche Schönheit und spezifische Qualität von Theater habe etwas damit zu tun, Versammlungsort zu sein. Wenn diese Versammlung aber nicht mehr hergestellt werden kann, komme das Theater schnell an Grenzen, so Rüping. Auch deshalb hätten die Theater zu Beginn der Krise erst einmal weiter Pläne produziert. "Dann mussten diese Pläne verworfen und neu gedacht werden, verschoben werden, umgedacht werden, neu gedacht werden. Und das war wahnsinnig kraftzehrend. Es gab auch, obwohl wir so geringen Output hatten, eine wahnsinnige Erschöpfung an den meisten Theatern."
Handkamera als Adressat für die Spielenden
Weil das Publikum als Adressat wegfiel, musste fürs Streamen ein anderer Weg gefunden werden."Ich versuche immer, den Blick des Publikums auf die Figuren auf der Bühne für die Schauspieler zum Bestandteil der Inszenierung zu machen." Für den Stream von "Einfach das Ende der Welt" verzichtete Rüping deshalb auf die Kameras im Zuschauerraum und lief selbst mit einer Handkamera über die Bühne, um für die Spielenden ein Gegenüber erfahrbar zu machen. "Sie konnten sich sozusagen fragen: ‚Was denkt man, wenn man mich durch diese Kamera sieht?‘ – das ist für mich so ein spezifisch theatraler Moment."
Jeder und jede kann die Inszenierung prägen
Die Rolle des Regisseurs oder der Regisseurin zu fassen, fällt Rüping schwer: "Man ist es nur, wenn man es tut. Ich selbst kann eigentlich nichts. Ich muss auf einer Probe sein, um mich selbst als Regisseur oder Regisseurin zu erleben." Ein zentraler Bestandteil seiner Arbeit sei, einen Raum zu schaffen, indem jeder und jede - und insbesondere, aber nicht nur die Spielenden - "die Möglichkeit haben, das, was am Ende auf der Bühne passiert, zu prägen und ihre Fußspuren zu hinterlassen."
Das bedeutet nicht, dass Rüping keine Ideen, Vorschläge oder Vorgaben, mithin ein Konzept hätte, das er mitbringt. "Aber all diese Ideen, Konzepte, Vorschläge stehen auf dem Prüfstein, ob sie die Kreativität der anderen entfachen oder behindern. Und die sind sehr schnell damit, mir auch zu sagen, wenn die Idee denen gerade beim Spielen überhaupt nicht hilft, sondern nur blockiert."
Rüping mag außerdem "extrem gerne, Gänge zu wechseln", also mal kanonische Stücke zu inszenieren und dann wieder Texte, die kaum jemand kennt: "Das finde ich extrem wichtig, um in Bewegung zu bleiben, nicht auf irgendeiner Handschrift, auf einer Ästhetik einzurasten. Es geht vielleicht darum, Geschichten, die alle kennen und die es schon gibt, neu zu erzählen - und Geschichten auf die Bühne zu bringen, die du uns noch fehlen."
Neue Leitungsmodelle gegen Machtmissbrauch
In den vergangenen Wochen wurde viel über Machtmissbrauch im Theater debattiert. Gerade das Theater, das sich für fortschrittlich hält und viele gesellschaftliche Konflikte auf der Bühne thematisiert, hat da offenbar blinde Flecken oder sogar massive Probleme. Die Personen an der Spitze haben beispielsweise sehr viel Macht über Karrieren.
Nach der #MeToo-Debatte gab es zuletzt Rassismus-Vorwürfe am Düsseldorfer Schauspielhaus oder den Vorwurf eines Klimas der Angst am Gorki-Theater in Berlin. Christopher Rüping ist derzeit Hausautor am Schauspielhaus in Zürich, wo Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann seit zwei Spielzeiten ein ungewöhnliches Intendanz-Modell erproben.
Zur geteilten Leitung ist eine ganze Reihe von assoziierten oder Haus-Regisseurinnen und Regisseuren gestoßen, die dafür eigens nach Zürich gezogen sind. Der nur vorübergehend anwesende Regisseur, der seine Inszenierungen als Marke an unterschiedliche Theater verkauft, sollte so verhindert werden.
Christopher Rüping dazu: "Wenn Macht sich in einer Person ballt, dann ist die Chance dass etwas schiefgeht, viel, viel höher, als wenn sie auf mehrere Menschen verteilt ist." Eine Versicherung sei das aber auch nicht: "Ich befürchte, dass Macht strukturell einfach problematisch ist und egal, welche Person Macht ausübt, wird das immer zu Verfehlungen und Verwerfungen führen. Und ich glaube, es ist wichtig, dass man eine Kultur schafft, in der man diese Verfehlungen und Verwerfungen besprechen kann. Bevor sie sich zu ernsthaften Verletzungen und Narben herausbilden können."