Zwei Dinge sind es, die auf dem Stückemarkt ausgelotet werden: Neue Formen und neue Inhalte. Die Formen sollen innovativ sein, die Inhalte möglichst politisch. Letztere Forderung ist nicht neu: "Wie definiert man, dass ein Stoff politisch ist?", fragte zurecht der Autor Lutz Hübner, der in der Jury saß, die die Stücke für den Stückemarkt in diesem Jahr ausgewählt hat:
"Ist das einer, der eine politische These in den Raum stellt und die durchspielt? Seit Mitte der 90er sehe ich mich mit dieser Frage konfrontiert. Man müsste eine Definition finden, die eher läuft über gesellschaftliche Relevanz und die Frage - scheint da das Politische durch?"
Gesellschaftliche Relevanz hatte der Stückemarkt in diesem Jahr auf jeden Fall. Ein Beispiel: Gestern Abend zeigte die 1980 in Rumänien geborene, jetzt in Frankreich lebende Autorin Alexandra Badea ihr Stück "Zersplittert". Vier Schauspieler saßen inmitten des Publikums an kleinen Tischen und lasen von Computerbildschirmen ihre Texte - während die Webcam ihre Gesichter über dem Publikum auf Bildschirme projizierte. Thema waren die Arbeitsbedingungen in der globalisierten, digitalen Welt. Die Charaktere: Zum Beispiel eine sich selbst kasteiende Textilarbeiterin in China, ein grenzenlos einsamer, ständig in allen Zeitzonen umherreisender Manager und ein Callcenter-Chef in Dakar, der genaue Vorstellungen hat, wie seine Mitarbeiter zu funktionieren haben.
"Ich will einen Tonfall, der energisch, dynamisch, begeistert ist, ohne aggressiv zu werden. Man muss wissen wann man innehält, wie man seine Intonation variiert - wie man bestimmte Wörter hervorhebt - und vor allem - vergessen wir eines nicht: Wir heißen alle Marie-France Martin und Jean-Pierre Dumont."
Gefordert ist die ständige Selbstoptimierung. Stille ist nicht vorgesehen in dieser Welt. Mitgefühl, ein Miteinander - auch nicht. Autorin Alexandra Badea fühlt sich, wie sie sagte, von der Gewalt, die um uns herum herrscht, angegriffen. Sie will mehr tun, als nur - schreiben:
"Ich gehe auch raus in die Welt. Ich mache Schreibworkshops mit Häftlingen und ich versuche, ihnen eine Stimme zu geben, auch ihrem Hass eine Stimme zu geben - und ich denke, es ist für Künstler heute wichtig, ihren Elfenbeinturm zu verlassen und präsent zu sein."
Wenn Alexandra Badea dieses Jahr für die gesellschaftliche Relevanz auf dem Stückemarkt stand, stand Daniel Cremer für die Innovation der theatralen Form. Er nutzte das gesamte Environment des Theatertreffens für seine - ja, wie soll man sagen - Performance? - Installation? - Interaktion? Für sein "Stück"? Wir Theatertreffen-Besucher wurden zu Besuchern auf dem imaginären Theaterfestival "Talking Straight". Auf dem wurde durchgängig in einer von Cremer entwickelten Kunstsprache gesprochen, in "Fremdsprache". Ging man zum Beispiel zu einem der "Workshops", stellten einen die Erklärungen, was zu tun sei - vor eine Sprachhürde.
Daniel Cremer lud uns auch ein zu einer Tanzperformance, zu einer klassischen Theatervorführung. Doch: Obwohl man nichts verstand, verstand man doch irgendwie alles. Weil man die Abläufe auf einem Festival kennt, weil man die Fragen kennt, die in Dramen verhandelt werden. Daniel Cremer erklärte sich freundlicherweise bereit, dann doch auf Deutsch zu sagen, warum er die Kunstsprache erfunden hat:
"Weil sie eine Möglichkeit darstellt, alltägliche, normale institutionalisierte Situationen inhaltlich zu entkernen und zu reduzieren auf Machtverhältnisse, die man angucken kann, analytisch. Oder auf Emotionen. Und die Situation, die einem vertraut vorkommt, plötzlich fremd erscheinen zu lassen."
Gewohnheiten will der Stückemarkt hinterfragen - und das ist ihm auch dieses Jahr wieder hervorragend gelungen. Theater findet nicht mehr unbedingt auf Bühnen statt. Das Publikum wird involviert. Ein sogenanntes "politisches" Stück kann sehr viele unterschiedliche Formen haben. Dieser Trend hält an - und der Stückemarkt hat wieder gezeigt, wie lebendig die junge europäische Theater-Szene ist.