Berlin vibriert. Es ist das Jahr 1929, die Stadt hat über vier Millionen Einwohner, überall wird gebaut, die Tanzlokale, Cafés und Revuen am Nollendorfplatz sind überfüllt, die Damen lernen neuerdings Boxen, fahren Auto, tragen einen Doktortitel. Die Herren machen Geschäfte. Falls sie nicht von der Wirtschaftskrise ruiniert sind.
In der Berliner Rundschau laufen die Fäden zusammen. Redakteur Miermann, solide gebildet und vom alten Schlag, hat seinen jungen Mitarbeiter Emil Gohlisch, einen Ästheten mit Neigung zum Schachtelsatz, mit einem Feuilleton über den Volkssänger Käsebier beauftragt. Es ist viertel vor fünf und die Seite muss in den Satz. Der Metteur, wie die Setzer der Bleibuchstaben damals genannt wurden, treibt zur Eile an.
"'Die sozialen Fragen im Reichstag' auf 60 Zeilen! 'Unzufriedenheit bei den gestrigen Boxkämpfen' auf die vierte Seite! Feuilleton zu lang! 25 Zeilen an Wiener Uraufführung streichen! Da ist noch die Vierzehnjährige, die ein Kind bekommen hat! 'Gohlisch, lesen Sie schnell Korrektur, sonst kommen Sie nicht mehr mit.' Gohlisch las. Ein Mist, dachte er, Erde für Seele gesetzt. Druckfehler, Druckfehler! Nie konnte man sich auf die Korrektoren verlassen. Blumenfeld, der Sportredakteur, rief rüber: 'Für das Rennen 'One thousand Guineas' ist gesetzt worden: 'Ohne Thaus und Guineas'.
'Gohlisch, schnell streichen, 20 Zeilen.' "Ich kann nicht mehr streichen, der Artikel ist aufs knappste gefasst, wie kann ich da streichen?' 'Streichen, streichen', rief Miehlke. 'Sie denken immer, es kommt druff an, es kommt nicht druff an. Sonst streich ich. Ich kann nich auf’n Rand drucken.' 'Da haben Sie schon recht, Herr Miehlke.' Gohlisch strich. Ein alter Mann kam mit der Kneifzange und knipste das Überflüssige ab. Die Seite stand. Miermann bestellte einen Abzug. Nass und übelriechend hielt ihn Gohlisch in der Hand. Die Seite sah gut aus, sehr gut sogar. Ein Achtel Annoncen. Oben 'Montmartre in Berlin'. Die Überschrift Cicero Sheltanham kursiv, fette Versalia."
Unterhaltsames Lehrstück über die Mechanismen der Massenkultur
Die Schriftstellerin Gabriele Tergit, Jahrgang 1894, gestandene Gerichtsreporterin beim Berliner Tageblatt und ein Beispiel für das neue weibliche Selbstverständnis, kennt die Abläufe in einer Zeitung bis ins Detail. Der kleinteilige, rasante Herstellungsprozess ist typisch für die neue Verdichtung der Arbeitswelt.
Ob Druckverfahren mit eisernen Kuchenbretterschiffen und Abziehmaschinen, ob Schrifttypen, die "Schwabacher Tertia" oder "Renata III" oder "Fette König Korpus" heißen, Tergit verwendet das Fachvokabular und beschreibt den Setzersaal der Berliner Rundschau genauso akkurat wie die überkandidelten Salons mit den Barockkommoden, Silberschalen und Gründerzeitschränken in Charlottenburg und die staubigen, armseligen Zimmer zur Untermiete in Mitte.
Vor allem aber erzählt sie in ihrem literarischen Debüt "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", das 1931 erschien und ein großer Erfolg wurde, die Geschichte eines unvermuteten Aufstiegs: Der Sänger Käsebier wird zum Star, ausgelöst durch Gohlischs wohlwollenden Artikel. Tergit gelingt nicht nur ein mitreißender Berlinroman, sondern ein ebenso brisantes wie unterhaltsames Lehrstück über die Mechanismen der Massenkultur und illustriert das, was der Soziologe Sigfried Kracauer 1927 in seiner Studie "Das Ornament der Masse" auf theoretischer Ebene verhandelt hatte.
Von fast gespenstischer Aktualität ist die spektakuläre Insolvenz einer Bank, Gegenstand eines weiteren Erzählstrangs, ebenfalls losgetreten durch die allgemeine Käsebierhysterie. Drum herum gruppiert Tergit eine ganze Serie einprägsamer Figuren und liefert einen Querschnitt durch die unterschiedlichsten Milieus der Hauptstadt.
Neben den alteingesessenen Kaufleuten mit Berufsethos tauchen plötzlich die neureichen Inflationsgewinner und Spekulanten auf, die zynisch kalkulieren und auf Pump leben. Außerdem gibt es die Vertreter des urbanen, gebildeten jüdischen Bürgertums wie Miermann und Gohlisch, zu dem Tergit selbst gehörte.
Schilderungen sind anschaulich, bissig und treffsicher
Den Typus des Aufsteigers verkörpert ein gewisser Herr Frächter aus der Provinz. Er weiß jede Entwicklung für sich auszuschlachten. Er knüpft Kontakte, macht das Konkurrenzblatt Berliner Tageszeitung auf Käsebier aufmerksam, lanciert eine Rezension, steht schon nach wenigen Tagen als der eigentliche Erfinder des Phänomens da, gibt ein Buch über ihn heraus, vermittelt den Sänger für ein Gastspiel an ein größeres Varieté, arrangiert Filmaufnahmen und kassiert überall Prozente. Zuerst allerdings pilgern Konsulin Margot Weißmann und andere Damen vom Kurfürstendamm in das volkstümliche Neukölln zur Hasenheide.
"Da kam die Hauptnummer, Er, Er, Käsebier, und sang! Zuerst etwas Neues. 'Wer mit mir will, der komme mit, wer mich nicht will, der jeht alleene.' Dann: 'Mensch, ist Liebe schön.' Und zuletzt: 'Wie soll er schlafen, durch die dünne Wand?' O Freund Käsebier, wie er litt, wie er dastand, weinend, 'ach Jott, ach Jott, ach Jott, ach Jott, ach Jott, bin ich betrübt.' So stand er da, Falten nach unten, ein treuer Jagdhund, hängende Ohren. Und dann: 'Ach Jott, ach Jott, ach Jott, ach Jott, ach Jott, bin ich vergnügt.' Strampelbein, Mundwinkel nach oben, Seligkeit im Augenlid, die Ohren stramm aufgerichtet. Käsebier war kein Adonis, kein Harry Liedke, kein Menjou, keiner, von dem die Mädchen träumen, keiner, der das erotische Ideal vorliebt. Blond, dick und quibblig, Schnauze, fast schon Fresse zu nennen."
Das ist vielleicht Gabriele Tergits größtes Talent: ihr Witz. Ihre Schilderungen sind nicht nur anschaulich, sie sind bissig und treffsicher. Die Autorin arbeitet mit satirischen Verzerrungen und Übertreibungen, was sich bis in die Namenswahl fortsetzt. Außer dem Urgestein Käsebier mit dem ungeschlachten Körperbau und dem berlinisch anmutenden Familiennamen taucht ein Graf Dinkelsbühl auf, selbstverständlich passionierter Golf- und Polospieler, dann Senta Sieger, Altistin der Staatsoper, der Tenor heißt Glübart, ein Herr von Trappen ist beim Auswärtigen Amt beschäftigt.
In jeder Zeile bemerkt man Tergits feines Ohr. Sie weiß, wie die Leute reden, macht sich über Floskeln lustig, karikiert modische Ausdrucksweisen, arbeitet mit Dialekt. Etliche ihrer Wörter möchte man sofort wieder einführen in den heutigen Sprachgebrauch. "Quibblig" gehört dazu, worunter man sich eine Mischung aus kompakt und schwabblig vorstellt, aber auch der leichter zu dechiffrierende Begriff "trubulös", außerdem "Präpelei", ein Synonym für Schlemmerei, oder die Redewendung "es klotzig haben", womit ein gewisser Wohlstand gemeint ist. Tergits Spezialität sind Dialoge:
"'Guten Tag, Margot, wie nett, dass wir uns treffen. Ich wollte längst anrufen, ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen.' - 'Ja, ich auch, meine Liebe. Sind Sie ihn los?' - 'Noch nicht ganz.' - 'In acht nehmen.' - 'Geht ganz glatt.' - 'Wir telefonieren einmal.' - 'Ja, bestimmt. Rufen Sie doch einmal an!' - 'Das ist ein furchtbarer Snob', sagte Käte, aber Oppenheimer verstand das nicht."
Wortwechsel wie kleine Kreuzfeuer
Wie kleine Kreuzfeuer prasseln die Wortwechsel durch den Roman und geben den Rhythmus vor. Hier tanzen Konsulin Margot Weißmann und die Gymnastiklehrerin Käte in einem angesagten Etablissement aneinander vorbei. Beide stehen für bestimmte Rollenmodelle. Die allmählich aus dem Leim gehende Margot ist bestens verheiratet und eine Dame mit den Insignien des Großbürgertums, aber wegen ihres ständig abwesenden Gatten unterbeschäftigt. Sie lädt zu Gesellschaften in ihre Zimmerfluchten am Kudamm und gabelt schließlich einen südamerikanischen Begleiter auf.
Die rothaarige Käte mit ihren biegsamen Gliedern lebt in Scheidung und ist eine Mischung aus Garçonne und Girl, geistreich, kritisch, um Kaltschnäuzigkeit bemüht. Sie hält sich mehrere Liebhaber gleichzeitig. Tergits Typologie des Weiblichen geht noch weiter: Das Gegenstück zu Käte ist Fräulein Doktor Kohler, genau wie Gohlisch Reporterin bei der Berliner Rundschau, nervös, überempfindlich, hochintelligent. Ihre umfassende Bildung schützt sie nicht davor, einem zweitrangigen Korrespondenten hinterher zu laufen, der sie schlecht behandelt.
So unbefangen und selbstbewusst Käte ist, so unterwürfig und angepasst ist Lotte Kohler. Käte steht für den Typus der neusachlichen Frau; kühl konzentriert sie sich auf die berechenbaren Dinge des Alltags. Ihr Faible für Leibesübungen passt dazu: Genau abgezirkelte und mechanisch ausgeführte Bewegungseinheiten trainieren einzelne Glieder und machen den Körper zu einem beherrschbaren Instrument. Käsebier, sein massiges Äußeres hin oder her, wird berühmter und berühmter. Jetzt gehen sogar die Theaterkritiker Ixo und Öchsli zu seinen Aufführungen.
"Alle waren entzückt. Es war ein Bombenerfolg. Miermann fand Käsebier vorzüglich. Das Ungemachte, das er hässlich ist, ohne Schmalz, ohne Kitsch. Sehr gut. Ixo sagte: 'Habe ich zu viel gesagt?' Die Müller schrie Öchsli zu: 'Kapitale Sache. Was? Pallenberg und Guilbert, nicht? Mein Zuckerhäschen, mein Goldschnutchen, mein fünfmal teures Leben, ich warte auf Ihren Anruf. Glauben Sie nun wieder nicht? Tatsächlich. Ernst beiseite. Was wäre ernster als die Liebe? Wollen wir noch zusammen ausgehen, oder lieben Sie mich nicht mehr? Mich, die kleine Waldfee? Wieso das denn.' Der Öchsli schüttelte den Kopf. 'Grässliches Weib', sagte Miermann. Käte sagte: 'Furchtbar geräuschvoll.'"
Sprachcodes und satirische Schlagseiten
Immer wieder lässt Gabriele Tergit, passionierte Kabarett- und Theatergängerin, soziologische Feldforschung einfließen und markiert einen Umschlagpunkt: Die Intellektuellen goutieren seichte Unterhaltung, die Unterscheidung zwischen U- und E-Kultur, zwischen "low" und "high" ist aufgehoben. Tergit stammte aus einem wohlhabenden assimilierten jüdischen Umfeld und hatte Ende der Zwanzigerjahre bereits eine ganze Reihe unterschiedlichster Lebenswelten kennengelernt.
Mit Lotte Kohler teilt sie die Herkunft aus einer Fabrikantenfamilie. Gegen den Willen der Eltern machte sie Abitur, verfasste schon als Schülerin erste Reportagen und arbeitete bald für verschiedene Blätter, von der Vossischen Zeitung über die Weltbühne bis zum Berliner Tageblatt, wo später ihre berühmten Gerichtsreportagen erschienen.
Wie man aus dem fundierten Nachwort von Nicole Henneberg erfährt, sind die Feuilletonisten Gohlisch und Miermann auch eine Hommage an damalige Kollegen. Ihr Studium der Geschichte schloss Tergit mit einer Promotion bei dem Historiker Friedrich Meinecke ab. Sie war mit dem Architekten Heinz Reifenberg verheiratet, was sie mit einer speziellen Expertise für Fragen des Bauwesens ausstattete. Auch davon profitiert der Roman.
Die Präzision, die genaue soziale Verortung ihrer Figuren, die Sprachcodes und die satirische Schlagseite verbindet Tergit mit Vertretern der Neuen Sachlichkeit. Marie-Luise Fleißer, Irmgard Keun, Lion Feuchtwanger oder auch Erich Kästner fallen einem ein, dessen "Fabian" im selben Jahr wie "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" erschien. Ähnlich wie ihre Kollegen operiert Tergit mit dokumentarischen Verfahren, nennt Produktnamen und Preise, zitiert Werbesprüche und leuchtet die Großstadt als Erfahrungsraum aus.
Ästhetik der Plötzlichkeit
Sie bedient sich einer Ästhetik der Plötzlichkeit mit schnellen Schnitten, fragmentiertem Satzbau, funktionalistischen Sprachbildern, feuerwerksartigen Dialogsequenzen und raschen Schauplatzwechseln. Bei Tergit allerdings spielt auch die Analyse der Verhältnisse eine zentrale Rolle. Die Reporterin besaß ökonomischen Sachverstand und zeichnet die Gesetze der Marktwirtschaft nach.
Kaum entdeckt, ist Käsebier der Mann der Stunde. Weil jeder ihn sehen will, kommt es zu einer Verknappung der Gelegenheiten, Karten sind rar, was ihn noch populärer macht. Dann greifen die Möglichkeiten der Reproduktion. Es entstehen Fotostrecken in neu gegründeten Illustrierten, Filme und Tonaufnahmen, eine Vermarktung auf allen Ebenen beginnt. Schließlich multipliziert sich das Phänomen in der Alltagskultur, was eine komplette Verflachung mit sich bringt. Als Gohlisch und Fräulein Doktor Kohler einen weihnachtlichen Einkaufsbummel unternehmen, gibt es sogar Käsebier-Schuhe. Das ist aber längst noch nicht alles:
"Die Käsebierpuppe sang. 'Käsebier, die echte Gummipuppe, platzt nicht, springt nicht, ist unverwüstlich', sagte der Nebenmann. Gohlisch und Fräulein Kohler gingen weiter. 'Lametta, Lametta, 3 Pakete `n Groschen.' 'Weihnachtskerzen, Weihnachtskerzen.' Sie gingen in ein Wäschegeschäft. 'N‘ Kleinigkeit?' sagte das Fräulein, 'darf ich Ihnen unsere Neuheiten zeigen? Hier dieser entzückenden Blumenstrauß aus Staubtüchern, reizend, nicht wahr? Oder hier das Neuste, 'Käsebier' aus vier Staubtüchern!' 'Nur noch Käsebier zu Weihnachten', sagte Gohlisch. Sie kauften den Staubtücher-Käsebier. 'Kein Weihnachten ohne Käsebier' stand in Glühbirnen über einem Geschäft mit Füllfederhaltern, in dem Gohlisch den seinen reparieren lassen wollte. 'Es lohnt sich nicht, ihn reparieren zu lassen', sagte die Ladnerin verächtlich, 'die Reparatur kostet 3 Mark, es ist ein überholtes System. Kaufen Sie den neusten 'Käsebier'. Für 3 Mark bekommen Sie schon einen ganz guten."
Eine Ikone wird zum Produkt
Aus der Ikone Käsebier wird ein Produktname, selbst Zigaretten sind nach ihm benannt. Vermutlich kannte Tergit den Rummel um die schwarze Tänzerin Josephine Baker in Paris: Dort gab es Josephine-Baker-Puppen, Kostüme, Parfums und Kosmetikprodukte, eines hieß Baker-Fix und versprach eine glänzende Haarkappe à la Josephine. Bei Käsebier ist Weihnachten der Sättigungsgrad erreicht, seine Popularität kippt, Überdruss macht sich breit.
Auch der zweite Handlungsstrang des Romans gewinnt an Fahrt. Ein gewiefter Bauunternehmer hatte Bankier Muschler, seit dem Börsenkrach notorisch in Schwierigkeiten, ein Projekt angedient. Man solle doch auf dessen Grundstücken am oberen Kudamm einen Komplex aus Wohnungen und einem Theater errichten, selbstverständlich ein Käsebier-Theater, Dauerspielstätte für den Sänger und sein Varietéensemble. Von der Rendite aus den vermieteten Wohnungen und der Pacht für die Bühne könne sich Muschler sanieren, während der Bauunternehmer Otto Mitte das gesamte Risiko übernehme.
Sein Architekt plant allerdings ungünstig geschnittene und viel zu große Wohnungen, was Muschlers Gutachter von Anfang an bemängelt. Das Gebäude an sich interessiert den Bankier keinen Deut, dass die Ausführungen ein ästhetisches Vermögen, handwerkliches Können und Sorgfalt verlangen, ist ihm fremd. Käsebier akzeptiert zwar die Offerte, aber das Unterfangen verzögert sich.
Tergit lässt ihre Erfahrungen aus dem Gerichtssaal einfließen und beschreibt die absurden bürokratischen Abläufe, bewussten Verschleppungen und spektakulären Fehlplanungen. Die Zeichnungen des Architekten sind unbrauchbar, in die Küchen passen keine Schränke, in den Badezimmern fehlt das Waschbecken.
Tergit analysiert die fatalen Folgen der Bauspekulation
Immer wieder blitzen zeitgeschichtliche Bezüge auf. Tergits Arbeitgeber Berliner Tageblatt gehörte zum Verlagshaus Mosse, dem ersten Zeitungskonzern Deutschlands. Nach dem Tod des Zeitungsgründers Rudolf Mosse hatte 1920 sein Schwiegersohn, der Bankkaufmann Hans Lachmann-Mosse, die Leitung übernommen. Er verstand nichts vom Zeitungswesen und traf mehrfach umstrittene Entscheidungen. Die Familie war tatsächlich in ein riskantes Bauvorhaben am oberen Kudamm involviert, den Woga-Komplex von Erich Mendelsohn, was sich auf die finanzielle Ausstattung der Zeitung niederschlug.
Aufregender als diese Anspielungen auf das Zeitgeschehen ist für den heutigen Leser aber Tergits Fähigkeit, die fatalen Folgen der Bauspekulation aufzuschlüsseln. Bereits vor seinem Bankrott hatte Bankier Muschler die Papiere der Kunden beliehen und Depots vernichtet. Nun stellt er sämtliche Zahlungen ein, treibt Handwerksbetriebe in die Pleite, löst Privatinsolvenzen aus. Am Ende müssen ganze Haushalte versteigert werden, auch das verzagte Fräulein Kohler und ihre Mutter verlieren ihre gesamte Habe.
In den präzisen Schilderungen der seit Generationen angehäuften Schätze und Kostbarkeiten zeigt sich wieder Gabriele Tergits neusachliche Prägung: Die Konzentration auf die Dingwelt, der Kult der Oberfläche, die Bewunderung der Sachen und ihren vermeintlich rational zu kalkulierenden Wert, der für das Personal ihres Romans sinnstiftend war, entpuppt sich als Fehler. Alles ist zu Plunder geworden. Besonders beeindruckend aber ist Tergits politische Hellsichtigkeit.
"'Jahrelang hieß es', sagte Miermann, 'Mechanisierung, nur Mechanisierung kann uns vorwärts bringen. Da schaffen sie für Millionen Maschinen in den Betrieben an, dafür werden dann tausend Menschen, die redlich ihre hundert Mark verdienen wollen, entlassen. Plötzlich ist die Krise da. Heißt es, die Rationalisierung war ganz falsch, wir sollen mehr Menschen einstellen, die ganze Rationalisierung hat uns nur die Arbeitslosigkeit gebracht.'
'Man kann die Menschen doch nicht auf die Straße setzen, pflegte mein Vater zu sagen', sagte Fräulein Dr. Kohler. 'Das war der Frühkapitalismus, heute finden wir andere Gestalten', sagte Gohlisch. 'Herr Frächter als Diener des Kapitalismus, das ist richtig', sagte Miermann. 'Was haben Sie eigentlich gegen Frächter, ich finde ihn einen aufgeblasenen Idioten', sagte Gohlisch. 'Nein', sagte Miermann, 'er ist gefährlich. Er ist Konjunkteur. Er unterstützt jede Entwicklung, die man hemmen müsste. Er ist für Bluff. Er ist für Trommeln. Er verachtet den Geist. Er findet albern, von Bildung was zu halten. Sport sagt er und betet den Mikrozephalen an. Ich kenne Frächter.'"
1933 Flucht nach Palästina
Am Ende trägt selbstverständlich Frächter den Sieg davon. Miermanns Zeiten sind vorbei, so wie überhaupt die Tageszeitung ihren Zenit überschritten zu haben scheint. Statt der Feuilletons und Reportagen feiern die von Frächter konzipierten unpolitischen Stilseiten und Klatschkolumnen große Erfolge. In ihrem Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" nahm Gabriele Tergit ihr eigenes Schicksal bereits vorweg.
Als Gerichtsreporterin verfolgte sie den ersten Prozess gegen Hitler und Goebbels wegen eines Pressevergehens und wies auf die unverhohlene Parteinahme des Richters hin. Am 4. März 1933 versuchte ein Überfallkommando der SA, ihre Wohnung zu stürmen, was Tergits Ehemann verhindern konnte. Seine Frau floh am nächsten Tag nach Prag. Die Familie ging gemeinsam nach Palästina, ließ sich wegen des kühleren Klimas aber ab 1938 in London nieder, wo Gabriele Tergit bis zu ihrem Lebensende 1982 blieb.
Zwar erschien "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" in der Bundesrepublik noch einmal, aber eine große Tergit-Renaissance, wie sie ihr eigentlich gebührt hätte, blieb aus. Die sorgfältig gestaltete Neuausgabe ihres Berlinromans könnte der Auftakt sein. "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" ist ein irisierendes Epochenbild und hat nichts von seiner Spannkraft verloren.
Gabriele Tergit: "Käsebier erobert den Kurfürstendamm"
Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg,
Schöffling, Frankfurt 2016, 398 Seiten, 24,95 Euro.
Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg,
Schöffling, Frankfurt 2016, 398 Seiten, 24,95 Euro.