Vor dem Bund-Länder-Treffen am Mittwoch (10.02.2021) zu den weiteren Corona-Maßnahmen hat Berlins Regierender Bürgermeister zum gemeinsamen Zusammenhalt auch auf Bundesebene appelliert: "Wir haben es bundesweit noch nicht geschafft unter die Inzidenz 50 zu gekommen, aber es gibt natürlich regionale Unterschiede", sagte Michael Müller (SDP) im Deutschlandfunk. Man habe eine gemeinsame Aufgabe und werden den Weg noch einige Zeit weiter zusammen gehen müssen, aber man werde auch über konkrete Lockerungsmaßnahmen nachdenken, da einige Regionen die 50er-Marke schon erreicht haben oder in Kürze erreichen werden. Die 50 sei nach wie vor wichtig, weil sie die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter und der medizinischen Versorgung in den Kliniken zeige. "Unter 50 ist das alles sehr viel besser möglich", sagte Müller.
Allerdings hätten die Virus-Varianten die Situation auch verschärft, man dürfe deswegen nicht alles auf den Inzidenzwert 50 ausrichten, die Gefahr sei, dass die Zahlen nach Lockerungen dann wieder in die Höhe steigen könnten und es deswegen vielleicht besser sei, die Zahlen noch deutlich stärker zu drücken. Allerdings gebe es bislang eine dünne Datenbasis zu den Mutationen.
"Virusvarianten haben die Lage verschärft"
Man wisse aber, dass die Variante aggressiver sei und man sich deutlich schneller anstecken könne. "Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten, innerhalb von wenigen Tagen gibt es eine Vervielfachung der Infektionszahlen", sagte Müller. Die Variante sei aggressiver und man stecke sich schneller an. Es sei aber unsicher, inwieweit die Virusvarianten schon in Deutschland verbreitet ist. Es sei aber umstritten, in welcher Größenordnung und inwieweit man darauf mit zusätzlichen Maßnahmen reagieren müsse, so Müller im Dlf.
Die Politik bewege sich bei der Debatte um mögliche Lockerungen in einem schmalen Grat. So würden bestimmte Bereiche, wie der Einzelhandel oder die Kultur und Menschen in Deutschland von der Politik Perspektiven verlangen. Andere Teile in der Bevölkerung würde von der Politik verlangen, die Menschen und Risikogruppen zu schützen. "Genau in diesen Wochen befinden wir uns", sagte der Berliner Bürgermeister.
Müller sprach sich deswegen gegen vorschnelle Lockerungen aus, um die Inzidenz weiter zu drücken: "Man kann sich jetzt nicht zurücklehnen. Wenn wir jetzt zu schnell öffnen, sind wir wieder bei einer Inzidenz von über 100 und beginnen alles von vorne. Das wäre unzumutbar." Schulen sollen aber als Erstes bedacht werden, wenn es Lockerungen geben werde, sagt der SPD-Politiker. Der Schulbetrieb könnte durch mehr Testungen und Impfungen der Lehrer schneller möglich gemacht werden.
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Barenberg: Herr Müller, wir sind von der angestrebten Sieben-Tage-Inzidenz von 50 ja noch ein gutes Stück entfernt. Die Gefahren der mutierten Corona-Varianten sind weiter schwer abzuschätzen. Ist damit eigentlich schon klar, dass es nächste Woche keine Lockerungen geben kann?
Müller: Sie sagen, wir sind ein Stück weit entfernt. Das stimmt. Wir haben es bundesweit noch nicht erreicht, aber es gibt natürlich regionale Unterschiede. Wir wissen, wir müssen soweit es geht zusammen bleiben und haben hier eine gemeinsame Aufgabe.
Insofern gehe ich davon aus, dass wir diesen gemeinsamen Weg auch noch weitergehen werden. Aber natürlich beschäftigen wir uns deswegen auch schon mit möglichen ersten Lockerungsschritten, ein Stück Normalität auch wieder zurückzugewinnen, weil wir auch Länder haben, die die 50 schon in greifbarer Nähe haben oder in den nächsten Tagen erreichen werden, und insofern ist es richtig, sich auf unterschiedliche Szenarien vorzubereiten.
"Diese Virusvarianten haben die Situation verschärft"
Barenberg: Diese Inzidenz-Zahl von 50, die ist für Sie weiterhin die zentrale Richtschnur bei diesen ganzen Diskussionen? Da gibt es ja auch Kritik.
Müller: Na ja, es gibt von beiden Seiten Kritik. Die einen sagen, ihr habt doch jetzt endlich den Punkt erreicht, wo es auch mal wieder ein Stück Normalität geben muss, und die anderen sagen, ihr habt es noch längst nicht erreicht. Auch aus der Wissenschaft gibt es da ja unterschiedliche Positionen.
Die 50 ist einfach nach wie vor sehr wichtig, weil sie die Leistungsfähigkeit ausdrückt, sowohl der Gesundheitsämter wie dann auch der medizinischen Versorgung in den Kliniken, wo man nicht einen Punkt erreicht, wo man einfach bestimmte Dinge nicht mehr leisten kann. Unter 50 ist das alles sehr viel besser möglich. Aber wir müssen auch ganz klar sagen, diese Virusvarianten, nenne ich es jetzt auch mal, weil es verschiedene sind, haben die Situation verschärft.
Insofern haben wir große Sorge, wenn man es nur an der Zahl 50 misst, dass man möglicherweise dann doch zu früh wieder in einen anderen Status kommt, wo man zu schnell dann auch wieder höhere Zahlen sieht. Viele von uns sagen, jetzt sehr besonnen bleiben und möglichst auch deutlich unter die 50 kommen, wegen der Virusvarianten.
"Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten"
Barenberg: Weil Sie die Virusvarianten jetzt mehrmals angesprochen haben, sind wir damit wieder vor einer völlig neuen Situation, weil unklar bleibt, ob wir das Schlimmste jetzt eigentlich hinter uns haben, oder gar noch vor uns?
Müller: Ja, es ist immer noch eine klare Situation. Ich habe mich auch gestern wieder beraten lassen aus der Wissenschaft und es ist immer noch eine sehr dünne Datenbasis. Wir sehen in anderen Ländern, was diese Virusvarianten anrichten. Innerhalb von wenigen Tagen gibt es eine Vervielfachung der Infektionszahlen.
Und wir wissen offensichtlich, dass diese Virusvariante deutlich aggressiver ist, dass man sich deutlich schneller ansteckt und dass es durchaus auch zu schwereren Krankheitsverläufen kommen kann. Inwieweit sie aber jetzt auch schon bei uns ist, in welcher Größenordnung wir darauf jetzt auch reagieren müssen, vielleicht durch zusätzliche Maßnahmen, das ist immer noch umstritten. Unbestritten ist, dass man es im Blick haben muss und deswegen sehr vorsichtig sein muss mit den ersten Öffnungsschritten.
Barenberg: Aber es gibt ja Stimmen unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – wir hatten gestern Frau Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, die ja in Ihrer Runde auch schon zu Gast war und auch im "Spiegel"-Interview in dieser Woche, die gesagt hat, das ist quasi Naturgesetz, dass diese Mutationen uns überrennen werden. Das kann man jetzt schon sagen. Da haben Sie noch Zweifel?
Müller: Was heißt ich habe Zweifel? Da gibt es in der Wissenschaft auch Zweifel, ob diese Aussage so stimmt, und das ist für uns ja genau das Schwierige, eine Gratwanderung. Wir werden von vielen Seiten beraten und müssen einen Weg finden, der ja akzeptabel ist und der auch mitgetragen wird. Einerseits erwarten die Menschen zurecht, dass wir alles tun, um sie zu schützen, und niemand will ja auch in der Bevölkerung jetzt diese schweren Wochen, die wir hinter uns haben und wo wir gemeinsam so viel erreicht haben, in Frage stellen.
Auf der anderen Seite sagen viele, auch im Einzelhandel, auch in der Kultur, es sind Belastungsgrenzen erreicht, ihr müsst uns eine Perspektive geben. Genau in diesen Wochen bewegen wir uns jetzt, einerseits sensibel auch noch weitermachen mit dem eingeschlagenen Weg, um noch mehr zu erreichen, und andererseits aber auch schon deutlichmachen, wenn es losgeht mit den Öffnungen, wo geht es dann los und in welchen Schritten.
Barenberg: Aber wenn Christian Lindner, der FDP-Chef, jetzt sagt, Öffnungsschritte jetzt unter den Gegebenheiten, die wir im Moment haben, sind möglich und sie sind auch jetzt schon nötig, da widersprechen Sie?
Müller: Da widerspreche ich zum heutigen Stand, weil schlichtweg die Zahlen das nicht hergeben. Ich will einfach mal an meiner Berliner Situation es deutlichmachen. Ich habe im Dezember eine 220er-Inzidenz gehabt und habe jetzt eine knapp unter 70. Das ist eine gute Entwicklung.
Aber die 50 habe ich noch nicht erreicht und es gibt sogar eine Warnstufe in Berlin, die eigentlich bei 30 liegt. So ist es in vielen Ländern. Man kann sich, obwohl wir einen guten Weg eingeschlagen haben, jetzt nicht zurücklehnen. Wenn wir jetzt zu schnell wieder alles öffnen, sind wir sofort wieder bei einer Inzidenz über 100, über 150 und beginnen alles von vorne, und das wäre unzumutbar.
Barenberg: Wenn wir nicht in dieser Endlosschleife bleiben sollen, die ja auch ihren Teil dazu beiträgt, dass die Menschen langsam frustriert sind und immer Pandemie-müder werden, müssen die Zahlen dann nicht noch sehr viel deutlicher nach unten gedrückt werden, bevor es überhaupt Lockerungen geben kann, Stufenpläne hin oder her?
Müller: Ich habe es Ihnen ja gerade gesagt. Die 50 ist das Minimum. Wir orientieren uns in vielen Ländern eher an der 30 oder 35, so auch in Berlin.
Barenberg: Warum nicht an der 10?
Müller: Das ist auch ein Richtwert, den man anstreben kann. Aber auf dem Weg zu einer 10, glaube ich, ist auch schon wieder vieles möglich. Da spielt zum Beispiel der Bildungsbereich eine große Rolle. Wenn wir über schrittweise Öffnung und Lockerung reden, machen Sie ja nicht von heute auf morgen sofort wieder alles auf und wir haben den Normalbetrieb von 2019, sondern Sie werden ja schrittweise das eine oder andere ermöglichen und auch auf dem Weg, die 30 zu erreichen oder unter die 30 zu kommen, werden Sie Dinge wieder ermöglichen können. Zumindest setzen wir uns damit in den Ländern schon ganz konkret auseinander.
Barenberg: Da sind sich auch alle einig? Das ist ja immer die große Frage und später erfahren wir dann, dass die Einigkeit doch nicht so groß ist. Da sind sich aber doch alle einig, die Kinder und die Schülerinnen und Schüler, das sind die ersten, an die bei Lockerungen gedacht werden soll?
Müller: Ja, aus zwei Gründen. Erstens sehen wir natürlich die sozialen Folgen, was man auch den Kindern antut, wenn man ihnen kein Bildungsangebot macht, was es für soziale Folgen in vielen Familien hat. Das ist etwas, was uns alle umtreibt und was wir in allen Bundesländern sehen.
Das zweite ist: Die Wissenschaft sagt nach wie vor, ja, auch in den Schulen gibt es natürlich Infektionsrisiken.
Das zweite ist: Die Wissenschaft sagt nach wie vor, ja, auch in den Schulen gibt es natürlich Infektionsrisiken.
Aber es sind in aller Regel vor allen Dingen in den ganz jungen Jahrgängen nicht Ausbruchsherde, die man dann irgendwann nicht mehr kontrollieren kann, sondern es trägt zum Infektionsgeschehen bei. Aber wenn man zum Beispiel den Schulbetrieb jetzt auch durch deutlich mehr Testungen absichert, oder gegebenenfalls sogar schrittweise durch Impfungen für die Lehrerinnen und Lehrer, dann kann man auch schon schrittweise wieder mit dem Schulbetrieb bei den ganz jungen, bei den Jahrgängen 1 bis 3 zum Beispiel beginnen.
Barenberg: Und Szenarien vermeiden wie in Irland oder Portugal, wo die Zahlen doch wieder explodiert sind.
Müller: Genau!
Barenberg: Was heißt es, wenn Sie sagen, zunächst mal scheint Einigkeit zu bestehen, dass man verlängern soll? Heißt das, unterm Strich werden nicht mehr Zeitpunkte zählen, sondern Zahlen am Ende, Inzidenz-Zahlen?
Müller: Ja! Wir haben ja auch die Zeitpunkte immer wieder schieben müssen. Das ist eine furchtbare Situation. Mitte Januar wollten wir ja schon viel weiter sein und wieder mehr Normalität zulassen können. Aber wir mussten immer wieder schieben durch Veränderungen, weil Zahlen entweder nicht erreicht wurden, oder weil wir diese Mutationen mit zu bewältigen hatten.
Wir sehen jetzt, dass natürlich viele Faktoren wichtig sind: Einerseits die Dynamik, die sich weiter ausdrückt ja durch die Inzidenzen und diesen R-Faktor, also den Reproduktionsfaktor. Aber ganz besonders wichtig ist einfach auch die Zahl, die deutlich macht, wie unser Gesundheitssystem noch die Aufgaben bewältigt. Und auch da wieder: Ich bin in Berlin hervorragend aufgestellt mit der Charité und anderen Kliniken, die helfen. Aber auch die kommen, wenn wir nicht aufpassen und die Zahlen weiter drücken, an Leistungsgrenzen. Und das ist für uns alle ein wichtiger Indikator, wie können wir auch Schwersterkrankten weiter gut helfen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.