Claudia van Laak: 13. August, Tag des Mauerbaus, da haben wir eine Andacht auf dem ehemaligen Mauerstreifen in der Kapelle der Versöhnung, eine Kranzniederlegung. Das ist ein Ritual, Herr Lederer, ist das vielleicht schon ein entleertes Ritual?
Klaus Lederer: Für mich ist es das nicht, aber das hat vielleicht auch damit zu tun, dass man natürlich als linker Politiker auch noch mal ganz anders in der historischen Verantwortung steht. Insofern ist es mir seit Jahren immer wichtig, dorthin zu gehen, so war es dann eben diesmal auch. Darüber hinaus ist mir aber noch was anderes wichtig, nämlich, dass wir 27, 28 Jahre nach dem Fall der Mauer auch darüber nachdenken müssen, wie kriegt man solche Ereignisse eigentlich Menschen vermittelt, die kurz vor '89 oder nach '89 geboren sind, die eigentlich mit dieser Zeit aus unmittelbarem Erleben überhaupt nichts mehr anfangen können. Und da denkt man natürlich auch über neue Formen nach.
Es wird so sein, dass beispielsweise die East Side Gallery, die ja als Ausstellungsort im Jahr '89/'90 entstanden ist, die Rückseite aber nach wie vor eigentlich authentischer Ort der Teilung der Stadt war, des Kalten Krieges, dass wir dort versuchen, auch künstlerische Ausdrucksformen zu nutzen, um zu erinnern und auch Gegenwartsbezüge herzustellen. Ist gestern Abend eröffnet worden eine Galerie, die Adrienne Göhler kuratiert hat, wo der Künstler Stefan Rohloff, der schon zu Zeiten der Teilung von Westberlin aus den Osten mit der damals gebräuchlichen Videotechnik gefilmt hat und der die damals aufgenommenen Bilder jetzt dort an die Wand projiziert, an die Wand tapeziert hat und sie dort in Beziehung setzt zu Menschen, deren Biografien er erzählt oder wo er Ausschnitte der Biografien thematisiert, wo die Teilung ganz unmittelbar, ganz tief ins Leben eingegriffen hat, in der unterschiedlichsten Art und Weise, zum Teil auch, weil sie die DDR verlassen wollten, wie beispielsweise Maju Röllich, der als schwuler junger Mann drangsaliert worden ist von den Sicherheitsbehörden, und der dann versucht hat, über Ungarn zu fliehen und der dann verhaftet ist und in Hohenschönhausen saß. Ich finde, es muss einfach darüber nachgedacht werden, wie können wir in der heutigen Zeit solche Ereignisse auf eine Art und Weise zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen, die auch die Menschen berührt, die sich natürlich um die heutigen Fragen Gedanken machen.
"Menschheitsgeschichte, die uns alle angeht"
van Laak: Und wir haben ja auch eine ganz veränderte Stadtlandschaft, die sich immer stärker noch verändern wird. Die Zugezogenen aus vielen Ländern der Welt, die Geflüchteten, die jetzt hier in Berlin leben, wie vermitteln wir denen denn so ein Thema?
Lederer: Da sprechen Sie ein Problem an, was jetzt nicht mal nur unbedingt die Frage des Mauergedenkens betrifft, sondern überhaupt die deutsche Geschichte. Wir haben im ständigen Arbeitskreis der Gedenkstättenleiter solche Debatten, wir haben sie im Historischen Beirat - wie gelingt und in einer multiethnischen, in einer unglaublich vielfältigen Stadtgesellschaft, auch Menschen, die sich von ihrer persönlichen Herkunft her einer ganz anderen Identität zuordnen oder die vielleicht auch verschiedenste Identitäten in sich auch im Konflikt in irgendeiner Weise wahrnehmen, dass das auch ihre Geschichte ist und dass auch sie damit was zu tun haben. Nehmen wir das Thema Antisemitismus. Antisemiten sind immer die anderen. Umgekehrt ist es heute so, dass, wenn wir in einer bunten Gesellschaft auch muslimische Kids haben, die sagen, Antisemitismus? - wir waren das ja gar nicht, das ist nicht unser Thema, das hat mit uns nichts zu tun.
Ich war letzte Woche im Anne-Frank-Zentrum, wo wir diese Frage auch miteinander diskutiert haben. Wie kriegt man geschichtliche Ereignisse eigentlich heute in einer Art und Weise vermittelt, dass man sie herausholt aus einer spezifischen Nationalgeschichte oder einer spezifisch deutschen Identität, um deutlich zu machen, das ist in gewisser Weise, ohne damit Verantwortung in irgendeiner Weise breittreten oder verwischen zu wollen, aber letztlich Menschheitsgeschichte, die uns alle angeht. Und Dinge, die einmal geschehen sind, können wieder passieren, und zwar nicht nur zwangsläufig nur hier, sondern unter spezifischen historischen Kontexten an anderen Orten und hier immer auch wieder. Und diese Sensibilität zu erzeugen, letztlich so etwas wie Menschenrechtsarbeit zu leisten, Menschenrechtsaufklärungsarbeit zu leisten, Demokratieerziehung zu betreiben, das ist eine Herausforderung, die bewegt uns sehr. Und ich glaube, dass das nicht nur für das Bildungssystem, sondern auch für die Gedenkstättenarbeit eine erhebliche Herausforderung ist. In vielen Einrichtungen wird viel stärker inzwischen Abstand davon genommen, Historie einfach nur zu präsentieren, einfach nur auszustellen, einfach nur Dokumentarfilme zu zeigen, sondern tatsächlich auch zu arbeiten.
Kulturpolitik: "Eine Frage der sozialen Hürden"
van Laak: Aber es ist ja auch eine Frage an die gesamte Kulturpolitik. Wir haben jetzt hier in der Stadt, in Berlin, jedes zweite Kind, jeder zweite Jugendliche hat ausländische Wurzeln. Was heißt das denn insgesamt für die Kulturpolitik in der Stadt? Das ist ja auch eine Entwicklung, die Berlin vorwegnimmt?
Lederer: Absolut. Da haben wir ganz klare Zielsetzungen. Wir haben in Hinblick auf die Diversität der Stadtgesellschaft das Ziel, die Einrichtungen nicht nur auf der Bühne, sondern natürlich auch im Publikum zu verändern. Das gelingt nur, wenn dort Kunst in Bezug auf die Vielfalt der Stadtgesellschaft tatsächlich auch passiert. Das kann ich den Intendanzen nicht vorgeben, das ist ihre Entscheidung natürlich, klar. Aber wir können Hilfsmittel bereitstellen, wir können Nutzerbefragungen machen. Wer geht eigentlich in unsere Einrichtungen? Wir können den Kultureinrichtungen im Grunde ein bisschen den Spiegel vorhalten und sagen, wenn ihr wollt, wenn ihr euch damit beschäftigen wollt, dann haben wir alle Daten und Fakten hier, die euch die Auseinandersetzung ermöglichen. Dann gibt es die berühmten drei P´s: Programm, Personal und Publikum. Das sind langsame Prozesse der Veränderung, aber es sind Prozesse, die funktionieren können.
Wir sehen derzeit, dass in einzelnen Einrichtungen da auch vorangegangen wird. Stichworte sind dann eben immer wieder Maxim-Gorki-Theater oder das Ballhaus in der Unionstraße, wo man natürlich dann auch anmerken muss, wir müssen aufpassen, dass wir das nicht auf einzelne Einrichtungen schieben und der Rest macht so weiter wie bisher. Aber im Grunde beginnen wir dort, im Kleinen zu experimentieren, was irgendwann mal Standard werden soll. Und da ist es natürlich dann eine Frage der sozialen Hürden. Es ist eine Frage der Kulturtechniken, was wiederum eine Aufgabe ist für Kulturarbeit in der Breite und kulturelle Bildung und auch die Frage, wie Menschen mit Behinderungen stärker im kulturellen Leben tatsächlich auch Freiräume und Entscheidungen haben, bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit, was auch immer noch ein Thema ist. Wie viele weibliche Intendantinnen kennen Sie? Wie viele Stückeschreiberinnen kennen Sie, wie viele Filmemacherinnen kennen Sie, die tatsächlich in diesen immer noch sehr männlich geprägten Strukturen tatsächlich am Ende eine Chance haben? Diese Herausforderungen nehmen wir absolut an.
"Barenboim würde auch in Marzahn-Hellersdorf mal spielen"
van Laak: Da haben wir natürlich einen Widerspruch: Einerseits die Autonomie der Kunst, die Autonomie der Kulturinstitutionen auf der einen Seite. Sie haben schon gesagt, das kann ich den Intendanten nicht vorschreiben. Andererseits auch Ihr Anspruch, auch linke Kulturpolitik zu machen und zu sagen, ja, das soll alles vielfältiger, das soll diverser werden. Wie gehen Sie da diesen Balanceakt? Gibt es dann Vorgaben, Quotenvorgaben? Heißt es dann irgendwann, ihr bekommt für das Projekt X nur Geld, wenn ihr auch fünf Geflüchtete beteiligt, zum Beispiel?
Lederer: Nein. Das wäre ja genau die Projektitis, oder das wäre ja genau dieses symbolische Handeln, was ich nicht möchte. Ich glaube, das ist weder ein Balanceakt noch ist es ein wirklicher Widerspruch. Es ist etwas, was eher mit dem Bohren dicker Bretter vergleichbar ist. Nein. Ich glaube, viele unserer Intendantinnen und Intendanten sehen dieses Problem als solches durchaus, und sie wollen sich dem auch stellen. Wir haben im März das Projektbüro Diversity Arts Culture, also Diversität Kunst Kultur gegründet mit dem Ziel, Unterstützungsarbeit zu leisten, Hilfen zu geben. Wir haben auch das Ziel in den Kultureinrichtungen, wo alle in unterschiedlicher Weise Dinge probieren, solche Beispiele, die gut funktioniert haben, so aufzuarbeiten, dass auch andere Einrichtungen davon erfahren, sich daran ein Beispiel nehmen können.
Im Friedrichstadt-Palast hat Berndt Schmidt, der Intendant, eine Initiative gestartet, die lautet "Palast für alle", wo sich Menschen in einem Internetportal eintragen können, und die kriegen dann Angebote, für einen Kartenpreis von fünf Euro in diese Einrichtung zu gehen. Und die müssen sich nicht in irgendeiner Weise nackig machen, sag ich jetzt mal. Sie müssen also weder ihre Einkommensbescheide vorlegen noch - sondern es wird auf das Vertrauen gesetzt, dass diejenigen, die sich eine Karte zum vollen Preis leisten können, auch eine Karte zum vollen Preis nehmen, und andererseits, dass diejenigen, die tatsächlich bedürftig sind in diesem Sinne, trotzdem eine Partizipationschance haben, trotzdem in die Einrichtung gehen können. Und wenn man dann plötzlich von einem älteren Ehepaar eine Mail liest an den Intendanten, die sagen, wir sind eigentlich keine im engeren Sinne armen Menschen, aber unsere Enkelin, die wir gerade unterstützen, macht ihr Medizinstudium, und da geht ganz viel Geld drauf, und wir können uns das tatsächlich in dieser Zeit nicht leisten.
Wenn das vorbei ist, sind wir auch gern bereit, den doppelten Preis zu zahlen, dann zeigt sich ein Stück weit doch auch, dass auf den Gedanken von Solidarität zu setzen und aber trotz alledem nicht erst mal das Schlechte zu sehen, sondern erst mal zu unterstellen, dass Menschen solche Angebote annehmen, die sie tatsächlich auch brauchen, um an Kultur teilzuhaben, das ist eine ganz tolle Initiative. Sie finden in der deutschen Oper solche Beispiele, Sie finden es in der Staatsoper, in der komischen Oper. Das sind ja nur die großen Tanker. Da geht ja nun fast ein Viertel des Etats in diese Einrichtungen, die auch versuchen, ganz explizit mehr als nur die klassischen 25 Prozent, die - in Berlin sind das noch viele - hin und wieder mal in die Oper gehen, tatsächlich auch zu erreichen. Bis hin zu Daniel Barenboim, der sagt, wissen Sie, wir können auch in Marzahn-Hellersdorf mit der Staatskapelle mal spielen.
Wir können auch selbst mal unseren eigenen Radius verlassen und uns mal dorthin begeben, wo Menschen, die sonst eine Stunde fahren müssen oder die möglicherweise alle halbe Jahre mal in die Innenstadt fahren, wenn es unvermeidlich ist, wie wir auch diesen Menschen den Zugang zur Kultur ermöglichen. Und insofern, diese schönen Beispiele einfach zu vervielfältigen, Anregungen zu geben und zu sagen, Leute, ihr habt auch selbst was davon in euren Einrichtungen, weil ihr werdet merken, und es wird schöner, und eure Kunst wird vielleicht auch anders noch mal wahrgenommen. Also, Künstlerinnen und Künstler kriegt man am Ende immer damit, dass sie künstlerischen Erfolg haben wollen. Und in einer Stadt wie Berlin, wo ein nicht geringer Teil der Stadtgesellschaft überhaupt nicht teilhat, die auch noch zu kriegen, das ist auch für Künstlerinnen und Künstler eine Herausforderung.
Kultur "soll sich tatsächlich an die gesamte Stadtgesellschaft richten"
van Laak: Nun ist es ja oft nicht die materielle Hürde, sondern auch so das Gefühl, ich bin gar nicht eingeladen und das, was da auf der Bühne spielt, das hat mir eigentlich gar nichts zu tun. Sie haben jetzt angesprochen als Leuchtturm das Maxim-Gorki-Theater. Ja, das ist ein anderes Ensemble auf der Bühne, aber das Publikum ist ja dasselbe.
Lederer: Das glaube ich nicht. Da hat sich natürlich total viel verändert. Und in anderen Einrichtungen ist das auch so. Wenn sich Einrichtungen neu ausrichten, finden auch Veränderungen im Publikum statt, aber Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt an, nämlich dass es weiß Gott nicht einfach nur eine materielle oder rein soziale Frage im, ich sage es jetzt mal, monetären Sinne ist, sondern dass es um Kulturtechniken geht, um Zugänge geht, um Hürden. Und diese Hürden sind weitaus komplexer, sind zum Teil sozialpsychologischer Natur oder haben, wie gesagt, damit zu tun, dass das, was in den Einrichtungen stattfindet, für einen Teil der Menschen in dieser Stadt nichts ist, in dem sie sich wiederfinden. Das ist weitaus komplizierter.
Ich sage auch mal umgekehrt, kulturelle Bildung, in der Kita angefangen - also ein Kind, das in der Kita mal auf einem Instrument gespielt hat oder darstellendes Spiel gemacht hat, sich möglicherweise auch in bildender Kunst versucht hat - in Jugendkunstschulen kuratieren die Kinder und Jugendlichen Ausstellungen selbst. Die werden später natürlich anders in Kultureinrichtungen gehen als diejenigen, die es nicht getan haben, und deswegen ist eben auch der Punkt, kulturelle Bildung zu stärken, den Bezirkskulturfonds zu verdoppeln, wie wir es jetzt im Haushalt vorgesehen haben. Die Kinder- und Jugendtheater ganz massiv zu stärken, wie wir es jetzt auch im Haushalt vorhaben. Ein ganz wichtiger Aspekt. Aber ich gebe mich da auch keiner Illusion hin. Das ist nichts, was von heute auf morgen funktioniert, sondern da muss man ganz lange dranbleiben. Und dennoch bin ich immer der festen Überzeugung, auch wenn mein Kulturetat klein ist - zu klein, ich könnte ihn mir größer wünschen -, er rechtfertigt sich nur dadurch, dass er sich tatsächlich an die gesamte Stadtgesellschaft richtet und nicht einfach nur dem Distinktionsbedürfnis eines Teils der Stadtgesellschaft gegenüber dem Rest.
"Wir schaffen neue Räume für Kunst und Kultur"
van Laak: Nun ist Ihr Etat ja zu 90 Prozent oder zu über 90 Prozent gebunden durch die großen Projekte, und weniger als zehn Prozent fließen in die Kleinen, in die freie Szene. Gleichzeitig ist ihr Etat gewachsen oder wächst jetzt in den nächsten zwei Jahren. Aber der Aufwuchs geht ja auch zum großen Teil dann nicht in die Programme, sondern in die Tarifsteigerung. Da gibt es jetzt Kritiker, die sagen schon, der Lederer, der macht Kulturpolitik. Für den heißt das, er macht einen Künstlersozialplan und will nur, dass die Künstler jetzt besser bezahlt werden, und dann bleibt zu wenig Geld für die eigentliche Kunst.
Lederer: Es ist tatsächlich so, dass ich gesagt habe, was bei der Polizei, was bei der Feuerwehr und dem Öffentlichen Dienst gilt, muss in der Kunst auch gelten. Es kann nicht sein, dass beispielsweise die Einrichtungen, und zwischen freier Szene und Institutionen oder Einrichtungen besteht da überhaupt keine Differenz, jährlich geringe Steigerungen bekommen, die Tarife aber komplett aus ihren künstlerischen Etats abbilden müssen. Mit anderen Worten, seitdem wir das erste Mal die Tarifsteigerungen auch tatsächlich im Haushalt abgebildet haben, bleibt mehr Geld übrig für die künstlerische Produktion. Das übersehen die Kritiker dann immer gern, dass in den vergangenen Jahren, wo all das nicht passiert ist, sämtliche Tarifsteigerungen, die in den Einrichtungen bezahlt werden mussten oder eben nicht bezahlt wurden, entweder mit Selbstausbeutung oder aber eben mit dem Wegfressen der Mittel, die eigentlich für die künstlerische Produktion zur Verfügung gestellt werden sollen, bezahlt werden musste.
Insofern, wir tun entweder was dafür, dass Künstlerinnen und Künstler von ihrer Arbeit auch leben können, weil Kunst zu erzeugen ist genauso Arbeit, wie Kunst zu genießen Arbeit ist, und das muss dann auch anständig bezahlt werden. Und auf der anderen Seite schaffen wir größere Freiräume für die Kunstproduktion. Trotz dieses wichtigen Schwerpunkts: Wir haben in Berlin, wenn der Haushaltsgesetzgeber zustimmt, den Kulturetat für den nächsten Doppelhaushalt in einer Weise erhöht, wie es in den letzten 15 Jahren nicht passiert ist. Wer gute Arbeit haben will, der muss das auch bezahlen, und dann ist es so, dass immer noch genügend Aufwuchs und zusätzliche Mittel für zusätzliche künstlerische Produktion übrig bleiben auch in einem Maß, wie es in den vergangenen Jahren nie der Fall war. Wir schaffen neue Räume für Kunst und Kultur.
Wir erleben derzeit allerorten in unserer Stadt, dass Orte bedroht sind, wo Künstlerinnen und Künstler selbst produzieren. Das gehört ja auch zu den Rahmenbedingungen von Kunstproduktion, dass ich beispielsweise mit den monatlichen Mietsteigerungen ab irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage bin, mir die Mittel, die Arbeitsmaterialien zu beschaffen, um Kunst zu produzieren ,weil das ganze Geld für die abgezogenen Mietsteigerungen draufgeht. So ist es dann Ende letzter Woche beispielsweise gelungen, eine entsprechende Vereinbarung zu treffen, dass wir in der Prenzlauer Promenade 375 zusätzliche Arbeitsräume zur Verfügung stellen können, und zwar spartenübergreifend, also bildende Künste genauso wie darstellende Künste. Wir haben ja das ehrgeizige Ziel, von in der Vergangenheit 500 Arbeitsräumen auf 2.000 am Ende der Legislaturperiode zu kommen. Da haben wir die Hälfte im Grunde jetzt erreicht, das ist toll, und da werden wir auch noch weitermachen. Orte für die Kunstproduktion zu nutzen, den Sanierungsstau in den Einrichtungen abzubauen.
Ich will damit sagen, obwohl wir viel für zusätzliche Kunstproduktion in den Haushalt eingestellt haben, müssen wir auch das leisten, was in den vergangenen Jahren nicht geleistet wurde, nämlich Mindeststandards sichern, Sanierungsstau abbauen und öffentliche Flächen - also die auch Schutz vor Verdrängung sind - öffentliche Flächen zur Verfügung stellen, damit Kunst produziert werden kann. Sonst sieht es hier in 20 oder 30 Jahren ganz traurig aus in der Stadt. Dann ist nämlich das, was das Flair und auch die Ausstrahlung von Berlin ausmacht, dann irgendwann einfach verschwunden.
"Fünf von sieben Menschen besuchen Berlin auch wegen der Kultureinrichtungen"
van Laak: Berlins Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei heute in den "Kulturfragen". Herr Lederer, ist denn Kunst und Kultur für Sie auch so etwas wie ein Bollwerk gegen Gentrifizierung?
Lederer: Ich habe die feste These überhaupt, dass Kunst relativ autonom und relativ frei zu sein hat, und demzufolge erst mal überhaupt keinem besonderen politischen Zweck unterworfen ist. Kunst ist jetzt per se nicht unbedingt gesellschaftskritisch, ist genauso per se erst mal nicht gesellschaftsaffirmativ. Kunst ist erst mal Kunst. Nun gibt es, egal, ob ich nun Kunst - und das halte ich in der Tat für ein wichtiges Moment der Auseinandersetzung einer Gesellschaft über ihre Zukunft oder über sich selbst - gibt es erst mal keine besonderen Aufträge, die die Politik der Kunst da mitgibt. Ich sehe meine Rolle eher darin, diese Räume, diese Möglichkeiten, diese Arbeitsbedingungen zu erhalten, damit Kunst relativ frei von äußeren Zwängen stattfinden kann, dass Künstlerinnen und Künstler in dieser Stadt arbeiten können.
Das strahlt natürlich auch aus und macht diese Stadt bunt und klasse. Keiner will eine Metropole vollgestellt mit Stahlbetonhäusern, in denen es kaum noch Orte der Begegnung, der Auseinandersetzung, der Inspiration gibt. Das will niemand. Und Sie wissen das ja auch, dass fünf von sieben Menschen, die nach Berlin kommen, Berlin auch wegen der Kultureinrichtungen besuchen, und dass viele, die in unsere Stadt ziehen, viele Berlinerinnen und Berliner selbst es natürlich auch klasse finden, dass Berlin so eine kreative, so eine vielfältige, so eine bunte Stadt ist.
Orte für die Kreativität der künstlerischen Szene geben
van Laak: Wenn ich allerdings immer diesen Milieuschutz da oben dran stelle, bedeutet das nicht irgendwann, ich zementiere da auch bestimmte Milieus und lasse keine Möglichkeit mehr für Veränderung? Kunst und Kultur ist ja auch immer Veränderung.
Lederer: Das ist doch selbstverständlich. Deswegen, künstlerische Freiheit sichern. Ich mache ja keine Vorgaben, was dort stattzufinden hat. Aber die Alternative ist, wir haben im Jahr 2021 zweitausend Atelierräume, die wir Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung stellen können, oder wir haben sie nicht. Und wenn wir sie nicht haben, dann ist Kunst Veränderung in dem Sinne, dass sie aus der Stadt verschwindet. Also diese Atelierräume werden ja nicht lebenslang vermietet und mit Wachs übergossen, sondern diese Atelierräume stehen wechselnden Künstlerinnen und Künstlern für bestimmte Projekte zur Verfügung. Das heißt, die gesamte Entwicklung und die gesamte Kreativität der künstlerischen Szene, der gebe ich Orte. Diese Orte zu füllen, diese Orte auch Veränderungen zu unterwerfen, diese Orte mit Kreativität und Inspiration zu füllen, das ist Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler selbst, nicht meine.
"Dauerhafte Subventionen vermeiden"
van Laak: Also das heißt, Berlin wird dann nicht zum subventionierten Freilichtmuseum der Kiezkultur, wie es mal jemand gesagt hat?
Lederer: Das ist ja eine ganz, ganz dumme Herangehensweise. Indem ich öffentliche Räume sichere, um sie Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung zu stellen, erspare ich mir dauerhafte Subventionen. Denn derzeit machen wir was anderes: Derzeit mieten wir zu immer teurer werdenden Konditionen Gebäude, Räume in dieser Stadt an, und die Renditeerwartungen erfüllen wir aus Haushaltsmitteln, aus Steuermitteln. Das bezahlen die Berlinerinnen und Berliner. Wenn ich eigene Flächen sichere, die ich in öffentlichem Eigentum halte, und diese Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung stelle, dann zahlen die die Mieten, die gebraucht werden, um die Kosten wieder reinzuspielen. Das trägt sich selbst.
Aber sie müssen eben auch keine Angst haben, bei der nächsten Überlegung - Warum eigentlich Künstlerateliers, wenn ein tolles Hotel oder ein toller Bürobau mir den dreifachen, fünffachen, zehnfachen, 20-fachen Renditebetrag gibt? Sieh doch zu, wo du unterkommst, wir brauchen dich hier nicht mehr. Ich gehe eher so heran und sage, um dauerhafte Subventionen zu vermeiden, damit wir in unserer Stadt überhaupt noch künstlerische Produktionsräume habe, sichere ich jetzt vorausschauend Räume für dauerhaft öffentliche kulturelle Nutzung. Wie die Alternativen aussehen, kann man sich in europäischen Metropolen im Übrigen ganz gut angucken. Fahren Sie nach London, gucken Sie sich dort an, wie viele Künstlerinnen und Künstler da in der Innenstadt noch sind. Ich hatte in den vergangenen Jahren immer mal die Möglichkeit, Städte wie Tel Aviv oder New York in ihren Veränderungsprozessen zu erleben, und was ich wahrgenommen habe, ist, dass sie von bunten, kreativen Städten immer mehr zu Glasbetongegenden verkommen sind, wo ab 22 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Also, wenn man das nicht will, dann muss man jetzt intervenieren. Jetzt muss man gegensteuern, damit man solche Verhältnisse hier nicht in zehn, 20 oder 30 Jahren hat.
"Jede Auseinandersetzung hat sachlich und fair zu geschehen"
van Laak: Herr Lederer, wir müssen noch mal zum Theaterstreit kommen. Dercon gegen Casdorf oder umgekehrt. Es gibt den Wechsel in der Intendanz der Volksbühne. Ihr Vorgänger hat ja den Belgier Chris Dercon zum neuen Intendanten der Volksbühne gemacht, zum Nachfolger von Frank Casdorf. Seit dem 1. August ist jetzt Chris Dercon im Amt. Es tobt eine Schlacht in den sozialen Medien. Ich weiß nicht, ob Sie es verfolgt haben. Hasstiraden auf die neue Intendanz haben sich da abgeladen. Das Social-Media-Team der Neuen Volksbühne ist erschrocken, die Intendanz auch. Wäre es nicht Ihre Aufgabe als Kultursenator, sich da jetzt schützend vor das neue Team zu stellen?
Lederer: Ich habe mich dazu öffentlich geäußert, und ich habe mich derart öffentlich dazu geäußert, dass ich gesagt habe, ich finde, dass jede Auseinandersetzung um die Frage, was ist Theater, wie soll Theater sein und was ist auch Theater in der Volksbühnen-Tradition, sachlich und fair zu geschehen hat, und dass man weder der politischen Kultur noch der Theaterkultur einen Gefallen tut, wenn man unter der Gürtellinie agiert oder wenn man anfängt, mit Dreck zu werfen. Dazu habe ich mich ganz klar geäußert, dazu stehe ich auch, und wenn das nötig ist, werde ich das auch weiterhin tun.
Über Dercon: "Wir sind uns schon einig, dass wir uns nicht einig sind"
van Laak: Das heißt, Sie sehen nicht, dass Sie dieser Debatte oder diesem Hass, der sich da entlädt, in gewisser Weise Vorschub geleistet haben, indem Sie sich ganz klar gegen Dercon und für Casdorf positioniert haben?
Lederer: Jemand, der eine bestimmte öffentliche Debatte in einer bestimmten Art und Weise führt, den gleichzeitig mitverantwortlich zu machen dafür, dass andere Debatten - oder versuchen, auf diesen Debatten aufgesetzt unter der Gürtellinie zu agieren, halte ich für falsch. Das würde ja bedeuten, dass man öffentliche Debatten gar nicht mehr führen könnte, insbesondere in einer Welt, in der bestimmte Auseinandersetzungsformen zunehmend die sozialen Netzwerke beherrschen. Nein. Ich stelle mich ganz klar dagegen, wenn Leute die Formen der Auseinandersetzung nicht wahren, und ich stelle mich dann auch ganz klar vor diejenigen, die davon betroffen sind. Und das gilt in dem Fall auch für die Intendanz der Volksbühne, egal, ob ich diese Entscheidung richtig fand oder nicht.
Es ist jetzt in dem Sinne auch mein Intendant, dass ich dafür verantwortlich bin, dass er davor bewahrt wird, dass ihm in unsachlicher oder hassgeladener oder sonstiger Art und Weise entgegengewirkt wird. Das ist ganz klar, und da finde ich, da beißt die Maus auch überhaupt keinen Faden ab. Dass trotz alledem es natürlich völlig legitim ist, eine öffentliche Diskussion darüber zu führen, was ist als Ensemble-, als Repertoiretheater, als Sprechtheater in der Tradition der Volksbühne angemessen? Das ist auch eine Selbstverständlichkeit. Jede Künstlerin, jeder Künstler in unserer Stadt, Theaterintendantinnen und Theaterintendanten, Museumsleitungen - wir haben auch eine wilde Auseinandersetzung ums Humboldt-Forum - müssen Kritik an dem, was sie tun, auch aushalten, das gehört im Übrigen auch dazu.
Und ich gehe mal noch einen Schritt weiter: Künstlerinnen und Künstler provozieren auch geradezu Kritik. Nicht selten gehört das ja zur Kunstproduktion dazu, auch die Auseinandersetzung und die Provokation der Kritik zu suchen. Das halte ich für völlig normal, und ich glaube, das muss die neue Intendanz auch aushalten, und es gilt das, was ich vor einem halben Jahr nach meinem Gespräch mit Chris Dercon gesagt habe: Wir sind uns schon einig, dass wir uns nicht einig sind darüber, was Repertoire- und Sprechtheater ist. Das ist so.
Wir sind uns auch einig darüber, dass wir einen Vertrag haben, an den beide beteiligten Seiten gebunden sind. Das gilt für mich, ich habe gesagt, ich werde mich an den Vertrag halten. Das gilt umgekehrt auch für Chris Dercon. Er hat den Auftrag, die Volksbühne als Repertoire- und Ensembletheater zu führen. Diese Aufgabe muss er selbst jetzt lösen. Und da habe ich jetzt auch gesagt, er kann jetzt natürlich auch nicht dauerhaft sagen, ich habe schwierige Bedingungen, deswegen kommt hier nichts zustande, sondern er muss liefern. Alle wussten auch zu dem Zeitpunkt, auch Chris Dercon wusste natürlich um die Schwere der Aufgabe.
"Herr Dercon hat jetzt die Möglichkeit zu zeigen, was er drauf hat"
van Laak: Ich kann natürlich jetzt sagen, wir warten erst mal ab. Am 10. September große Premiere auf dem Tempelhofer Feld, und dann reden wir weiter.
Lederer: Nein. Herr Dercon hat ja jetzt auf einer Pressekonferenz das vorgestellt, was er sich fürs erste halbe Jahr seiner Intendanz vorgenommen hat. Im Kulturausschuss hat er das vorgestellt, er hat es der Öffentlichkeit vorgestellt. Es gibt eine Menge Debatten darum, ob das dem Anspruch genügt, den er selbst formuliert hat, oder nicht. Ich sage jetzt, man muss ihn jetzt machen lassen. Herr Dercon hat jetzt einfach die Möglichkeit und muss auch die Chance bekommen, der Öffentlichkeit zu zeigen, was er drauf hat. Das ist das, glaube ich, was man von allen jetzt auch erst mal erwarten kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.