Im nächtlichen Leipzig singen Studenten ihre Lieder, während Doktor Faust einen Kranken operiert. Oder hantiert er an einer Leiche herum? Das bleibt ebenso kunstvoll im Unklaren, wie vieles andere in David Martons Inszenierung von Berlioz "La damnation de Faust". Schon die Ortsangabe Leipzig führt in die Irre, denn dieser Faust agiert in einer weiten amerikanischen Landschaft unter einer unvollendeten Autobahnbrücke. Hier spielt zu Beginn der Aufführung eine Kinderschar mit großem Ernst Autobahneinweihung.
Die Erwachsenengesellschaft steht wenig später wie in einem Gemälde von Edward Hopper beziehungslos in der Weite der Landschaft, unfähig zu engen Bindungen, geheimnisvoll ins Weite strebend, sich selbst nicht verstehend. Immer wieder drängt sich der rote Theatervorhang ins Geschehen. Mal schließt sich der große Bühnenvorhang, mal kommen kleinere Vorhänge heruntergeschwebt. Die teilen sich, bieten Auftritts- und Versteckmöglichkeiten oder auch bloß den Hintergrund für einen Auftritt, in dem der Darsteller zwar zu sich selbst zu finden meint, aber doch nur spielt. Jede Geste hat eine Bedeutung. Die kann mal sehr philosophisch sein, wie der Umgang mit Alter und Unvollkommenheit, mal literaturwissenschaftlich, wie eine Anspielung auf Goethes Fußfetischismus, seltener auch rein assoziativ, wie das lebende Pferd auf der Bühne.
Während der erste Teil des Abends an Edward Hoppers stille Seelenlandschaften anknüpft, zitiert der zweite die surrealen Welten eines René Magritte. Das Bühnenbild von Christian Friedländer ist nun mit riesigen weißen Laken verhüllt, identische Männer mit Bowlerhüten und Frauen in den gleichen Kleidern fassen sich vollkommen ungerührt synchron an, während Faust und Margarethe ihr Stelldichein haben und zumindest sie sich in ihn verliebt.
Kazushi Ono leitet das Orchester unaufgeregt
Der Dirigent Kazushi Ono hat sich zu einigen Änderungen überreden lassen, wenn etwa der Chor Takte der Solisten übernimmt. Partituren sind eben auch in der Oper entgegen gerne kolportierten Gerüchten schon längst nicht mehr sakrosankt. Selten gelingt die Bearbeitung im Dienst der Inszenierung aber so überzeugend wie hier. Solist und Kollektiv, Empfindung des einzelnen und Massengefühl, diese Themen der Inszenierung werden so auch hörbar.
Kazushi Ono leitet das Orchester unaufgeregt, stellt die ohnehin hörbare Eigenwilligkeit des Werks nicht eigens heraus und betont dadurch die Schönheit der Komposition. Der Tenor Charles Workman ist ein nicht mehr ganz junger Sänger und mit einer eher spröden Stimme die ideale Verkörperung des alten Faust. Sein Gesang erreicht eine bewegende Ehrlichkeit, während man sich bei Kate Aldrichs Marguerite doch etwas mehr Charme und Rundung in der Stimme wünschen würde. Laurent Naouri ist hingegen ein durch und durch verführerischer Mephisto, der während des Höllenritts im Pick-Up-Van das Autoradio aufdreht und mitsingt. Zum Erlösungsschluss der Oper sehen wir dann noch in einer Videoprojektion, wie dieser Mephisto das Opernhaus ganz unspektakulär verlässt. Er geht am Inspizientenpult vorbei, durch die Foyers der Lyoner Oper, verschwindet schließlich im Trubel der nächtlichen Großstadt. Faust wurde unterdessen zu einem der charakterlosen Bowlerhutträgern aus den Magritte-Gemälden, Margarethe geht im himmlischen Chor unter. Aber das Böse ist immer noch da. Unerkannt. Unheimlich. In jedem von uns.