Gerhard Schröder: Herr Riexinger, seit zweieinhalb Jahren sind Sie Vorsitzender der Linkspartei, gemeinsam mit Katja Kipping. Und zweieinhalb Jahre war es auch relativ ruhig in der Partei - aber jetzt fliegen wieder die Fetzen. Brechen hier die alten Flügelkämpfe wieder auf?
Bernd Riexinger: Nein, es fliegen auch nicht die Fetzen. Da hatten wir, glaube ich, schon ganz andere Verhältnisse. Ich bin da ganz ruhig. Es sind auch keine typischen Flügelkämpfe. Es ist einfach ein Thema mit Israel und Palästina und mit den Vorfällen, was irgendwie Die Linke weltweit immer mal wieder bewegt und offensichtlich mehr auseinander treibt als zusammen treibt. Dabei sind eigentlich unsere Positionen ganz klar und auch ganz einfach.
Schröder: Auslöser des jüngsten Streits war eine israelkritische Fachtagung am 9. November – organisiert von drei Bundestagsabgeordneten. Im Anschluss daran wurde Fraktionschef Gregor Gysi bedrängt mit einer Kamera und bis auf die Bundestagstoilette verfolgt. Das ist ja ein nicht ganz üblicher Vorgang. Viele finden ihn empörend, beschämend und fordern Konsequenzen.
Riexinger: Ganz klar, hier handelt es sich um eine Grenzüberschreitung. Natürlich macht man am 9. November nicht so eine Fachtagung, am Jahrestag der Reichspogromnacht. Man hätte wissen können, dass die Journalisten, die eingeladen wurden, Aktivisten sind, die diesen Besuch bei Gregor Gysi nutzen, um ihr eigenes Spiel zu spielen. All das war eine Grenzüberschreitung – dafür haben sich die Abgeordneten entschuldigt bei der Fraktion. Gregor Gysi hat diese Entschuldigung angenommen. Wir haben beide erklärt, dass bei künftigen Veranstaltungen unser Grundsatzprogramm die Basis sein muss. Unser Grundsatzprogramm sagt ganz klar: Wir wollen Gerechtigkeit herstellen im Nahen Osten, wir wollen Frieden herstellen, wir wollen einen lebensfähigen palästinensischen Staat, aber wir erkennen das Existenzrecht Israels an. Künftig müssen alle beachten: Da ist die Prämisse.
Schröder: Nun gibt es aber einen öffentlichen Aufruf. Über 900 Personen haben den inzwischen unterzeichnet, darunter namhafte Vertreter, vor allem des Reformerlagers. Zum Beispiel Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Petra Sitte oder auch Gabi Zimmer, die Fraktionsvorsitzende im Europaparlament. Und die werfen den Initiatoren dieser Veranstaltung vor, sie würden obsessiven Hass auf Israel schüren und damit antisemitische Argumentationsmuster fördern. Können Sie da einfach zur Tagesordnung übergehen?
Riexinger: Nein, die Frage "Israel und Palästina" wird uns inhaltlich weiter beschäftigen. Ich glaube auch, dass dadurch eher die Diskussion verbaut ist, im Übrigen, wenn auf beiden Seiten mit solchen scharfen Geschützen geschossen wird. Die Position der Partei – das habe ich schon gesagt – ist sehr klar und sehr eindeutig. Und an die müssen sich alle halten. Ich halte jetzt nichts davon, diesen Konflikt zu verschärfen, sich gegenseitig mit Ausschlussdrohungen zu versehen. Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass das die Partei will. Sie will eine inhaltliche Debatte, sie will eine klare Politik dazu, aber wir wollen jetzt keinen Dauerkonflikt daraus machen.
Schröder: Ich darf noch einmal aus dem Aufruf zitieren: "Wir sind es leid, dass ständig aus den eigenen Reihen unser Parteiprogramm angegriffen wird. Wir sind es leid, immer wieder selbst Denunziation und Verleumdung ausgesetzt zu sein." Das klingt nach einem ziemlich vergifteten Klima?
Kein klassischer Flügelkampf
Riexinger: Ja, das ist übertrieben und entspricht auch nicht der Realität der Partei. Wie gesagt, man kann auch sehen, dass es kein klassischer Flügelkampf ist. Wobei, unsere Partei ist eine linkspluralistische Partei, da gibt es verschiedene Strömungen. Das wollen wir auch. Wir wollen auch, dass an der Sache entlang diskutiert wird, und alle sind gut beraten, zur Diskussion in der Sache zurückzukehren.
Schröder: Vertreter aus dem Reformerlager, wie zum Beispiel Stefan Liebich, sagen: "Eine Entschuldigung, das reicht nicht. Wir brauchen hier Konsequenzen", und legt den betroffenen Abgeordneten ein Mandatsverzicht nahe. Sahra Wagenknecht wiederum, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, sagt: "Hier sollen drei linke Abgeordnete fertiggemacht werden!"
Riexinger: Na ja, ich habe schon gesagt, das war eine große politische Dummheit, die da gemacht wurde. In allen Fraktionen gibt es immer wieder Leute, die politische Dummheiten machen. Würden die Fraktionen im Deutschen Bundestag – es betrifft nicht nur Die Linke – die immer alle aus der Fraktion ausschließen, dann müssten die ihr Mandat niederlegen, wären wahrscheinlich die Fraktionen ziemlich ausgedünnt. Ich glaube, das ist nicht die Lösung der Probleme. Man muss das ernst nehmen. Ich glaube, die Fraktion hat auch einen ernsten Warnschuss verteilt. Auch die Partei hat sich da klar positioniert. Aber ich glaube, die Forderung, Mandate niederzulegen oder nach Ausschlüssen oder ähnlichen Dingen, führt zu nichts. Das wird bloß dazu führen, dass von anderer Seite auch wieder solche Forderungen erhoben werden. Das ist keine Form, wie wir diese Probleme lösen können.
Schröder: Aber der öffentliche Eindruck, der hier entsteht von der Partei, von der Fraktion, der ist ja ziemlich verheerend. Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter sagt: "Das ist ein Beleg dafür, dass die Linkspartei doch nicht regierungsfähig ist."
Riexinger: Na ja, also ich meine, das halte ich jetzt, ehrlich gesagt, für übertrieben und auch einen Witz der politischen Auseinandersetzung. Jetzt hat die grüne Partei ja nicht gerade damit geglänzt, dass sie mit einer Stimme spricht. Bei uns spricht die Partei- und Fraktionsführung mit einer Stimme. Wenn wir Äußerungen oder Handlungen einzelner Abgeordneter als Beleg dafür nehmen, ob wir regierungsfähig oder politisch handlungsfähig sind, dann ist das, glaube ich, der völlig verkehrte Weg. Entscheidend ist doch, wie sich die Partei insgesamt aufstellt, wie die Parteiführung handelt und ob die Parteiführung die Autorität hat, diesen Kurs auch durchzusetzen. Und da kann es ja bei der Linken gar keinen Zweifel geben. Also, wenn die grüne Partei hier mit dem Finger auf uns zeigt, soll sie doch beachten, dass drei Finger auf sie selber zurückzeigen.
Schröder: Das Interview der Woche, mit Bernd Riexinger, dem Vorsitzenden der Linkspartei. Herr Riexinger, das Kontrastprogramm zu dem internen Streit in der Fraktion erleben wir derzeit in Thüringen. Dort steuert die Linkspartei auf ihren vielleicht bislang größten Erfolg zu. Am 5. Dezember könnte mit Bodo Ramelow in Thüringen erstmals ein Linken-Politiker Ministerpräsident werden. Wie bewerten Sie das? Ist das eine Zäsur? Ein Beleg dafür, dass die Linkspartei endgültig als politische Kraft angekommen ist?
"Wir erleben einen Schritt zur Normalität"
Riexinger: Ja, ich glaube, das ist eine positive Zäsur. Wir erleben einen Schritt zur Normalität. Die Normalität in Deutschland ist, dass die stärkste Partei in einer Koalition den Ministerpräsidenten stellt. Die Linke ist dort die stärkste Partei geworden und stellt demnach auch den Ministerpräsidenten. Das ist ein Beitrag zur Normalisierung der politischen Kultur. Und ich glaube, das wird dazu beitragen, dass die linke Partei – und zwar völlig zurecht – aus ihrer Schmuddelecke ein Stück weit rauskommt und sich auch bundesweit stärker etablieren kann.
Schröder: Nun haben Linke, Sozialdemokraten und Grüne im Erfurter Landtag nur eine Stimme Mehrheit. Wie groß ist die Gefahr, dass die Wahl von Bodo Ramelow am 5. Dezember doch noch scheitert? Wie groß ist auch die Gefahr, dass gerade diese Störmanöver aus der Fraktion zur Gefahr werden?
Riexinger: Nein, ich glaube, da handelt es sich auch nicht um Störmanöver, sondern die Fraktionsführung und die Parteiführung steht wie ein Mann und wie eine Frau hinter den Thüringern und hat sie auch unterstützt. Wir wissen, was dort auf dem Spiel steht. Ich bin auch sehr froh, dass es eine klare Entscheidung der SPD und der Grünen gibt, diese Koalition mit einzugehen. Dass auch die SPD weiß, noch einmal fünf Jahre an der Seite der CDU wird ihnen nicht bekommen und wir somit eine Chance auf einen nachhaltigen Politikwechsel in Thüringen haben. Davon werden alle drei Parteien profitieren. Davon bin ich überzeugt. Und insofern: Natürlich haben wir alle ein bisschen Angst vor dieser Wahl, aber ich gehe davon aus, alle drei Parteien wissen, was auf dem Spiel steht. Und manchmal sind ja Koalitionen mit einer knappen Mehrheit stabiler, als mit einer großzügigen Mehrheit.
Schröder: Der Koalitionsvertrag steht; er sieht unter anderem ein kostenfreies Kita-Jahr vor, mehr Geld für freie Schulen und für Langzeitarbeitslose, mehr Geld auch für die Kommunen und für die Energiewende. Reicht das, um die Hochgesteckten Erwartungen – Sie haben von einem Politikwechsel gesprochen – zu erfüllen?
Riexinger: Ja, da steht ja schon noch Einiges mehr drin. Es werden auch Bereiche, wie der universitäre Bereich, wie die Pflege, Tarifverträge bekommen, damit der Grundsatz gilt, dass Menschen in der Regel unter tariflichen Bedingungen arbeiten und nicht unter willkürlichen. Wenn die Thüringer hinterher sagen können: Wir haben ein kostenloses Kindergartenjahr, wir haben einen besseren öffentlichen Personennahverkehr, wir haben ein besseres Bildungssystem und die Kommunen – wo ja der Lebensmittelpunkt der Menschen stattfindet – haben mehr Möglichkeiten und mehr Geld, dann, glaube ich, haben wir viel erreicht.
Schröder: Nun ist aber – das wissen Sie auch – der finanzielle Spielraum begrenzt. Die Koalition hat sich auch darauf verständigt, keine neuen Schulden aufzunehmen, die Schuldenbremse zu akzeptieren. Das heißt doch gleichzeitig auch, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können, dass unpopuläre Maßnahmen getroffen werden müssen, dass am Ende auch viele enttäuscht sein werden?
Riexinger: Ja, da müssen wir deutlich machen, dass wir eben auch einen Politikwechsel auf Bundesebene brauchen. Die Steuerpolitik wird eben auf Bundesebene gemacht. Und wenn CDU und SPD keinen Mut haben, den Reichen in den Geldbeutel zu greifen, damit sie ihren Beitrag leisten zur Finanzierung des Gemeinwohls, dann büßen eben die Länder und die Kommunen. Und deswegen brauchen wir eben auch eine starke Linke auf Bundesebene, damit es dort einen Richtungswechsel gibt. Das ist uns völlig klar.
Schröder: Das hilft Ihnen in Thüringen jetzt aber erst mal nicht weiter. Dort müssen Sie mit dem leben, was Sie haben. Das heißt, wie groß ist die Gefahr, dass Sie mit Ihren großen Versprechen, einen Politikwechsel herbeizuführen, am Ende entzaubert werden?
Gefühl, dass Spielräume ausgeschöpft werden
Riexinger: Die Gefahr besteht natürlich immer, aber es besteht auch die Chance zu beweisen, dass Linke regieren können und dass hinterher keine Verschlechterungen, sondern Verbesserungen herauskommen. Mein Gefühl ist, dass die Spielräume, die in Thüringen da sind, gut ausgeschöpft werden von Rot-Rot-Grün, im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung. Und an uns liegt es natürlich auch, ein Stück weit deutlich zu machen, dass wenn wir die Handlungsspielräume der Länder und der Kommunen erhöhen wollen, dann muss bundespolitisch die Steuerpolitik grundsätzlich geändert werden. Es kann nicht sein, dass wir einen ungeheuren Reichtum in wenigen Händen haben und dann für die öffentliche Daseinsvorsorge die Kommunen kein Geld haben, keinen genehmigungsfähigen Haushalt mehr vorlegen können und mit der Hand in den Mund leben müssen.
Schröder: Aber wo soll in Thüringen das Geld herkommen, wenn Sie versprechen: mehr Geld für Bildung, für Energie, für die Kommunen? Da muss ja die Landesregierung dann, wenn sie zustande kommt in Thüringen, eine Antwort finden?
Riexinger: Ja, sie müssen innerhalb des Haushaltes umverteilen. Das werden sie auch tun. Sie haben erst mal nicht mehr Haushaltsmittel zur Verfügung, sie müssen Finanzströme stärker in die Kommunen umleiten. Das liegt ja gerade linker Politik besonders am Herzen, dass die Kommunen gestärkt werden. Und man kann auch natürlich mit ein bisschen Fantasie und mit guten zukunftsgerichteten Konzepten eine sozial-ökologische Energiewende herbeiführen. Also ich habe gerade das Gefühlt, dass die Thüringer einen guten Mix haben, auch aus wirtschaftlicher Kompetenz, sozialer Kompetenz und ökologischer Kompetenz. Also die Bürger und Bürgerinnen wollen stärker mitbestimmen, was ihre Angelegenheiten betrifft. Auch da kann man einen völlig neuen Politikstil einführen. Das könnte auch stilbildend sein.
Schröder: Stilbildend auch für andere Bundesländer? Glauben Sie, dass von Thüringen eine Signalwirkung auf andere Bundesländer ausgehen kann?
Riexinger: Ja, wenn das politische Konzept umgesetzt wird jetzt des Koalitionsvertrages, und tatsächlich sozialere und demokratischere und auch ökologischere Politik gemacht wird, wird das auf die ganze Bundesrepublik ausstrahlen.
Schröder: Konkret – wo sehen Sie die Chance?
Riexinger: Na ja, das nächste Bundesland, das eine Chance hat, im Übrigen auch zum Beispiel einen roten Ministerpräsidenten zu stellen, ist Sachsen-Anhalt. Dort kann es sein, dass da Die Linke auch stärker ist als die SPD. Es kommt dann vielleicht noch Mecklenburg-Vorpommern dazu. Dann haben wir Wahlen in Berlin 2017. Überall bestehen Chancen auf eine linke Regierungsbeteiligung. Ich glaube, das wird automatisch ausstrahlen.
Schröder: In Brandenburg, in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern hat die Linkspartei genau die entgegengesetzte Erfahrung gemacht: Regierungsbeteiligung hat sich in der Wählergunst nicht ausgezahlt. Wie groß ist die Gefahr, dass das auch in Thüringen passiert?
Lernen, Erwartungen nicht aufzugeben
Riexinger: Wir müssen eben lernen, diese Erwartungen auch nicht aufzugeben. Die Kompromisse in einer rot-roten oder rot-rot-grünen Koalition sind ja nicht identisch mit dem Programm und der Zielsetzung einer linken Partei. Die Kunst wird darin sein zu regieren, Kompromisse zu machen und trotzdem an den grundsätzlichen Zielen einer linken Partei festzuhalten.
Schröder: Sie haben das mehrfach betont: Wichtig für rote Politik in den Ländern ist auch ein Politikwechsel im Bund. Heißt das, Rot-Rot-Grün in Thüringen – wenn es funktioniert – kann auch die Blaupause für eine Koalition auf Bundesebene sein, nach den Bundestagswahlen 2017?
Riexinger: Ich glaube, dass es 2017 entscheidend sein wird, ob der Wille besteht, bei SPD und Grünen, eine wirkliche Reformpolitik zu machen, soziale Reformpolitik zu machen oder sozial-ökologische Reformpolitik zu machen, die einen grundlegenden Politikwechsel herbeiführt. Diesen Willen kann ich bisher nicht erkennen auf der Bundesebene. Ich glaube, ohne ein gemeinsames politisches Projekt, wird es sehr, sehr schwer, Rot-Rot-Grün zu verwirklichen. Ein solches Projekt wäre aber dringend notwendig, wenn wir uns nicht mit der falschen Politik der Großen Koalition abfinden wollen.
Schröder: Woran machen Sie das fest, dass dieser Wille zum Politikwechsel bei Grünen und SPD nicht da ist?
Riexinger: Na ja, wir erleben gerade, dass die Große Koalition ein paar "Reförmchen" macht zur Rente, aber sie löst das Problem der Lawine der Altersarmut, die auf uns zu kommt, nicht. Sie macht eine Rentenverbesserung für wenige kleine Gruppen, für zwei Jahrgänge, macht aber keine soziale Rentenreform. Das wird ganz deutlich. Wir erleben, dass Sigmar Gabriel selber einräumt: 'Wir leben auf Verschleiß bei der öffentlichen Infrastruktur.' Wir haben eine Investitionsquote in Straßen, Schienen, Schulen, Altenpflege, Gesundheit, die ist unterirdisch und die Hälfte von dem, was Ende der 70er Jahre der Fall war. Wir bräuchten dringend eine Investitionsoffensive in diesem Bereich, um sowohl die Infrastruktur sowie auch die soziale Daseinsvorsorge zukunftsfest zu machen. Dazu besteht kein Wille, weil da müsste man quasi für höhere Einnahmen sorgen, und höhere Einnahmen ...
Bernd Reixinger (geb. 1955 in Leonberg) ist gelernter Bankkaufmann und seit 1991 Gewerkschaftssekretär. 2003 gehörte er zu den Initiatoren von Protesten gegen die Agenda 2010, seit Juni 2012 ist er zusammen mit Katja Kipping Bundesvorsitzender der Linken.
Schröder: Sprich, höhere Steuern?
Riexinger: Ja, aber höhere Steuern für die Millionäre und für die Milliardäre. Und da muss natürlich die SPD und die Grünen, die müssen den Mut haben das zu machen. Ohne Umverteilung geht es nur über den Weg der Verschuldung oder die kleinen Leute, die Durchschnittsverdiener müssen bezahlen. Aber gerade die Durchschnittsverdiener haben ja so oder so das Problem, dass sie mit Reallohnverzicht die ganze Krise 2008 und 2009 und die Folgen bezahlen mussten. Dort müssten wir dringend das Gegenteil machen, wir müssten quasi die Einkommen der Durchschnittsverdiener und -verdienerinnen verbessern, im Übrigen auch, um in Deutschland den Binnenmarkt anzukurbeln. Das sind, meines Erachtens, die zentralen Fragen. Dazu kommt, dass das deutsche "Jobwunder" zweigeteilt ist. Wir haben zwar mehr Arbeitsplätze, aber mehr Arbeitsplätze, von denen die Leute nicht leben können, die prekär sind, die befristet sind, in Leiharbeit, in Werkverträge. Wir bräuchten dringend eine Reform des Arbeitsmarktes, die ein neues Normalarbeitsverhältnis definiert, dass ich von meiner Arbeit leben kann, dass ich meine Zukunft planen kann, dass ich mir eine Rente ansparen kann.
Schröder: Das Interview der Woche mit Bernd Riexinger, dem Vorsitzenden der Linkspartei. Aus Sicht von SPD und Grünen ist der Knackpunkt für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei die Außen- und Sicherheitspolitik. Müssen Sie sich hier im Gegenzug von alten, vertrauten Grundsätzen trennen, wenn Sie auf Bundesebene regieren wollen? Stichwort "Militärische Auslandseinsätze", Stichwort "Auflösung der NATO" – auch das steht in Ihrem Programm.
"Rote Haltelinie: Bundeswehr-Kampfeinsätze im Ausland"
Riexinger: Genau. Das steht in unserem Programm, und die "rote Haltelinie" ist aber: keine Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland. Nach den Erfahrungen, die wir in Afghanistan gesammelt hatten, mit einer Militarisierung der Außenpolitik, mit Bundeswehreinsätzen, sollte eigentlich die Schlussfolgerung sein, darauf zu verzichten. Nach den Erfahrungen, die gesammelt wurden jetzt in Libyen, im Irak von anderen oder von anderen NATO-Teilnehmern, müssten wir doch dringend mal Bilanz ziehen, was eigentlich der Erfolg einer Militarisierung der Außenpolitik ist und ob nicht zu einem Rot-Rot-Grünen Reformprojekt gehört, auf die Militarisierung der Außenpolitik zu verzichten.
Schröder: Stichwort "Afghanistan" – da endet nach 13 Jahren die Beteiligung der Bundeswehr am NATO-Kampfeinsatz. Nun soll im nächsten Jahr ein nichtmilitärischer Einsatz der Bundeswehr dort bewilligt werden. Ziel ist, die afghanischen Streitkräfte auszubilden, zu beraten. Unterstützen Sie das?
Riexinger: Nein. Wir haben gesagt, dass man dort 850 Soldaten lässt, ist nicht unsere Position. Wir sind dort für einen kompletten Abzug. Ich bin auch absolut überzeugt, in fünf Jahren werden wir hier sitzen und über die traurige Bilanz der Restabwicklung dort diskutieren. Ich glaube, diese Länder, wie Afghanistan, die ja ein Problem haben, der ökonomischen und sozialen Entwicklung, die wird man nicht befriedigen mit der Ausbildung von Soldaten und Armeen, sondern die wird man nur befriedigen, wenn sie eine ökonomische und soziale Entwicklungsmöglichkeit haben. Wenn man der Jugend eine Perspektive bietet dort, wenn sie nicht nur vom Drogenhandel abhängig sind, sondern eine soziale Lebensbasis finden. Ich glaube, da hätten wir genügend Aufgaben, die wir dort erledigen müssen. Die heißen aber nicht Militär und Polizei.
Schröder: Ein anderer Krisenherd in der Außenpolitik ist derzeit die Ukraine. Darf Europa, darf die EU tatenlos zusehen, wenn Russland die Krim annektiert und damit ein souveränes Land – die Ukraine – angreift?
Riexinger: Die Linke stellt sich ganz klar auf den Boden des Völkerrechts. Sprich, wir haben gesagt: Die Annexion der Krim ist nicht in Ordnung. Die kritisieren wir, die verstößt gegen das Völkerrecht.
Schröder: Aber Sie sind gegen Wirtschaftssanktionen?
Riexinger: Wir sind gegen Wirtschaftssanktionen, und da sind wir inzwischen ja nicht mehr die Einzigen. Also inzwischen ... selbst konservative Politiker sagen, dass die Sanktionen keinen Erfolg haben. Und Politiker, wie Platzeck und andere – selbst Helmut Kohl – warnen davor, dass wir Russland als Verhandlungspartner verlieren. Und es wäre verhängnisvoll nach unserer Geschichte, wenn wir hier Russland nicht aus dieser Konfrontation rausholen. Wir müssen Russland wieder als Verhandlungspartner für gemeinsame Lösungen gewinnen und jede Form von Scharfmacherei, jede Form von Androhungen bewirkt ganz genau das Gegenteil. Das kann nicht im Interesse deutscher Außenpolitik sein.
Schröder: Aber reicht es, an Russland zu appellieren, von ihrem Kurs Abstand zu nehmen und die Souveränität der Ukraine anzuerkennen? Dafür gibt es zur Zeit keine Belege.
Riexinger: Na ja, es wäre deutlich besser, man würde diesen Verhandlungsweg weiter gehen. Ich habe auch das Gefühl, dass Herr Steinmeier erkannt hat, dass quasi die Verschärfung des Konfliktes zu nichts führt, dass nur noch mehr geschossen wird. Auch die Ukraine ist ganz schlecht beraten, wenn sie quasi dort mit militärischen Mitteln eine Lösung des Konfliktes herbeiführen will. Ich glaube, Die Linke ist hier auf dem richtigen Kurs. Sie hat als einzige Partei ein differenziertes Bild von der Ukraine gehabt. Sie hat gesagt: 'Ein gespaltenes Land.' Man kann da nicht einfach auf eine Gruppe setzen, wie es zeitweise die deutsche Außenpolitik gemacht hat. Und wir müssen eine Lösung finden, die das Land zusammenhält und die gleichzeitig die außenpolitischen Interessen von Russland mit einbezieht.
Schröder: Herr Riexinger, kommen wir noch mal ins Inland. Die Bundesregierung will die Macht kleiner Berufsgewerkschaften, wie zum Beispiel der Lokführergewerkschaft GDL begrenzen – Stichwort "Tarifeinheit". Wenn mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb die Interessen der Beschäftigten vertreten wollen – so die Idee –, dann soll im Zweifelsfall nur der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Gewerkschaften gelten. Ist das der richtige Ansatz?
Riexinger: Ich bin persönlich kein Anhänger von Berufsgewerkschaften, ich bin ein großer Anhänger vom Einheitsgewerkschaftsprinzip. Weil die stärkeren Gruppen sollen auch für die schwächeren mitkämpfen und nicht nur für sich selber. Aber durch dieses Tarifeinheitsgesetz wird nachhaltig in das Streikrecht eingegriffen. Und das lehnen wir total ab. Ein Eingriff ins Streikrecht wird auch im Übrigen auf die Dauer die Möglichkeiten der großen Gewerkschaften einschränken, und das ist nicht die Lösung des Problems. Dieser Eingriff in das Streikrecht wird auch im Übrigen keinen Bestand in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht haben.
Schröder: Die Arbeitgeber sagen: 'Wenn sich zum Beispiel nach Lokführern und Piloten auch andere Berufsgruppen selbstständig machen, dann droht Chaos in den Betrieben, dann wird Streik zum Alltag.' Ist da nicht was dran?
Riexinger: Die Arbeitgeber haben das Chaos ja selber erzeugt, indem sie immer mehr Bereich ausgliedern, nicht mehr unter Tarifverträge stellen, versuchen, eine Dumpingpolitik zu machen. Sie versuchen, Leiharbeits- und Werkvertragsfirmen reinzubringen und spalten damit die Belegschaften, spielen Belegschaftsgruppen gegeneinander aus. Das haben sie selber verursacht. Zum Teil haben es ja die kleinen Gewerkschaften selber befördert und mitbegründet. Das ist wirklich eine Heuchelei, wenn die jetzt sagen: 'Wir wollen die Tarifeinheit.' Aber die Tarifeinheit müssen wir doch so herstellen, dass in der Regel die Menschen wieder unter Tarifverträge fallen. Unser Problem ist doch, dass wir im Osten gerade noch 37 Prozent der Beschäftigten haben, die unter Tarifverträge fallen, und im Westen sind es auch nur 51 Prozent. Wir müssen dafür sorgen, dass Tarifverträge wieder allgemein verbindlich sind, also für alle Beschäftigten einer Branche gelten. Das wären die wirklichen Lösungen von dem Problem, aber doch nicht, das Streikrecht für Gewerkschaften einzuschränken.
Schröder: Das heißt, wenn eine kleine Minderheit, wie die Lokführer, das öffentliche Leben weitgehend lahmlegt, wie das in den vergangenen Wochen immer wieder geschehen ist, dann müssen wir das einfach hinnehmen?
Riexinger: Na ja, also bei uns wird ja jetzt nicht so viel gestreikt. Also wir sind das Industrieland, das nach der Schweiz die wenigsten Streiktage aller Industrieländer hat. Also wenn wir alle paar Jahre mal einen Streik erleben, wo die Züge ein paar Tage nicht gehen, ist das keine nationale Katastrophe. Und man darf deswegen – auch so lästig es vielen sein mag – nicht Grundrechte einschränken. Ich glaube, wir müssen sehr darauf achten, dass das Koalitionsrecht, sich in Gewerkschaften zusammen zu schließen und für Tarifverträge Streiks zu organisieren, das darf nicht angetastet werden. Und man darf ja nicht hier nur die GDL kritisieren, man muss doch die Bahn kritisieren – die muss halt endlich mal vernünftige Angebote vorlegen. Ich meine, dass die Lokführer zu wenig verdienen, weiß doch jeder. Dass sie zu viele Überstunden machen und mehr Personal benötigt wird, weiß auch jeder. Da müsste halt mal was kommen.
Schröder: Herr Riexinger, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Riexinger: Ich bedanke mich auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.