Kapitalismuskritik
Bernie Sanders' politische Agenda für eine gerechtere Welt

"Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“, lautet der Titel des neuen Buchs von Bernie Sanders. Der frühere Präsidentschaftskandidat vergleicht darin das US-Wirtschaftssystem mit Putins Oligarchie - und skizziert, wie er es stürzen will.

Bücher mit dem Titel "Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein" des US-amerikanischen Politikers Bernie Sanders bei der Vorstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
In "Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein" formuliert Bernie Sanders seine Agenda für eine gerechtere Gesellschaftsordnung. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
Winston Churchill wird der Satz zugeschrieben, wer mit zwanzig kein Sozialist sei, habe kein Herz, und wer mit vierzig noch Sozialist sei, keinen Verstand. Dem kann man nun das Buch von Bernie Sanders entgegenhalten, das den ebenso lässigen, wie aufmunternden Titel trägt: „Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“.
Der mittlerweile 82-jährige Tea-Party-Schreck aus Vermont bekennt darin unter anderem: Je älter er werde, desto wütender sei er auf das „hyperkapitalistische System“ und desto mehr sehne er sich nach „tiefgreifenden Veränderungen“.

Die schlichte Wahrheit lautet doch: Das hyperkapitalistische Wirtschaftssystem, das sich in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren etabliert hat, ein Wirtschaftssystem, das von unbändiger Gier und Verachtung für alle Regeln des Anstands angetrieben wird, ist nicht nur ungerecht. Es ist zutiefst unmoralisch.

Dieser Unmoral will Sanders entgegentreten – „mutig, unverblümt, entschlossen“, wie er schreibt. Seine Entschlossenheit und die Fähigkeit, Menschen von seinen Ideen und Idealen zu überzeugen, hat er bewiesen, als er in den demokratischen Vorwahlen zum vergangenen US-Wahlkampf mit seinem antikapitalistischen Programm dem politischen Establishment die Stirn bot.
Der US-amerikanische Politiker Bernie Sanders spricht bei der Vorstellung seines Buches "Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein" im Haus der Kulturen der Welt in der Berlin
Im Haus der Kulturen der Welt stellte US-Politiker Bernie Sanders sein neues Buch in Berlin vor (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)

Obama und die enttäuschten Hoffnungen

Nach seiner Niederlage stellte er sich konsequent hinter Joe Biden, um einen Sieg Donald Trumps zu verhindern. Dem laut Sanders „korruptesten Politiker der amerikanischen Geschichte“ war es bekanntermaßen gelungen, das politische Vakuum zu füllen, das demokratische Regierungen hinterlassen hatten. Ausgerechnet der Milliardär Trump als „Anwalt der Arbeiterschaft“! Es sei zum Heulen, meint Sanders.

Viele der angeblich rassistischen Trump-Wähler*innen haben ihre Stimme Barack Obama, unserem ersten schwarzen Präsidenten, gegeben und damit für ,Hoffnung‘ und ,Wandel‘ und ‚Yes, we can‘ gestimmt. Und sie haben ihn wiedergewählt. Doch für sie änderte sich nichts zum Besseren ... Zig Millionen Amerikaner*innen haben heute eine tiefsitzende Wut auf das politische, wirtschaftliche und mediale Establishment.

Zunächst rekapituliert Bernie Sanders den US-Wahlkampf von 2020. Er beschreibt den unerwartet großen Zulauf und die Erfolge, die er mit seinem Engagement für soziale Gerechtigkeit, ein funktionierendes Gesundheitssystem und die Entmachtung des Kapitals vor allem bei jungen Menschen erzielte. Einen Großteil führender Demokraten hingegen versetzten die überraschend guten Ergebnisse von Sanders in Unruhe.

Die Aussicht, dass ihnen und ihren reichen Freund*innen, den Lobbyist*innen und Berater*innen, die Kontrolle über eine Partei entglitt, die sie als ihren persönlichen Besitz betrachteten, frustrierte sie ... Mit anderen Worten: Unser Wahlkampf war eine Gefahr für einen Status quo, in dem man sich sehr gemütlich eingerichtet hatte, und die Reaktion darauf war der Schlachtruf: ,Jeder, nur nicht Bernie!‘

Nach dem Wahlsieg von Joe Biden konzentrierte sich Bernie Sanders darauf, möglichst viel Soziales in den „Wiederaufbauplan“ der Biden-Regierung einzubringen. Von den großen Erneuerungsplänen blieb im Senat jedoch nur ein „Wiederaufbauplan light“ übrig.

Soziale Reformpläne gescheitert

Es war weder gelungen, bedürftigen Familien ein Kindergeld von monatlich 300 Dollar bereitzustellen, noch konnten die Vergünstigungen für fossile Brennstoffe gestrichen werden, wie Sanders zerknirscht feststellt. Dafür: Steuergeschenke für Wall-Street-Unternehmen in Höhe von 35 Milliarden Dollar. Ein Scheitern, an dem es nichts schönzureden gebe, meint Bernie Sanders.

In einer Zeit von gewaltiger Not, Kummer und Unzufriedenheit, in der allzu viele Amerikaner*innen die Demokratie abschrieben, klebte der Senat ein kleines Pflaster auf eine klaffende Wunde. Die meisten Menschen sollten es gar nicht merken, geschweige denn sich daran erinnern, was wir da getan hatten.

Doch Sanders wäre nicht Sanders, wenn er sich davon entmutigen ließe. In der zweiten Hälfte seines Buches formuliert er seine politische Agenda, mit der er den „Hyperkapitalismus“ stürzen und eine Zukunft mit wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit Realität werden lassen will. Dabei geht es um eine gerechtere Verteilung erwirtschafteter Mittel, um bessere Gesundheitsversorgung und Versicherungsschutz, um weniger Macht für Konzerne - nicht zuletzt für Medienkonzerne -, um mehr Einflussmöglichkeiten und Wohlstand für die hart arbeitende Bevölkerung.

Kritik an den "Oligarchen Amerikas"

Denn trotz aller Fortschritte in Technologien und Produktivität, so Sanders, gehe es der großen Mehrheit nicht besser, sondern schlechter. Ein System, das auf Gier, Korruption und Eigeninteressen beruhe, gehöre abgeschafft. Er vergleicht es mit Putins Oligarchie.

Oligarchie ist kein russisches Phänomen. Sie ist eine globale Realität, vor der unsere kommerziellen Medien gerne die Augen verschließen. Was ist mit den Oligarchen Amerikas? Was ist mit der perversen und destruktiven Rolle, die sie bei der Ausgestaltung unserer Gesellschaft spielen?

Was dagegen hilft? Ein moralischer Kompass, der sich an Werten wie Gemeinwohl, Solidarität und Menschenrechten orientiert, gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmerschaft und last but not least die wachsende Wut auf ein ausbeuterisches System, die es in die richtigen Bahnen zu lenken gelte. Bernie Sanders spricht von einer Graswurzelbewegung.
Konservative Zeitgenossen, die es eher mit Churchill halten, werden den utopischen Geist und Veränderungswillen von Bernie Sanders wohl als naiv abtun. Doch es tut gut, zu lesen, wie sich ein über achtzigjähriger Politiker treu bleibt und weiterkämpft, buchstäblich bis zum Umfallen - gegen ein von Ungleichheit und ökonomischen Interessen dominiertes oder - wie er sagen würde - „korrumpiertes“ System, und, ja, für eine gerechtere Welt.
Bernie Sanders: „Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“
Aus dem Amerikanischen von Richard Barth, Enrico Heinemann und Michael Schickenberg
Tropen Verlag, 432 Seiten, 26 Euro.