Berthe Arlo war Pflegehelferin, 19 Jahre lang arbeitete sie im Nachtdienst eines Altenheimes. In dieser Zeit ist sie vielen Menschen begegnet – und aus diesen Begegnungen hat sie kurze Texte gemacht. Insgesamt sind in ihrem Buch „Nachts wach“ fast 30 Miniaturen versammelt, die vom nächtlichen Leben im Altenheim erzählen. Inzwischen ist Berthe Arlo in Rente gegangen, und obwohl die Begebenheiten mindestens 20 Jahre her sind, sind diese Geschichten, aktuell. Allzuviel hat sich nämlich nicht geändert.
Von Tragik, Schmerz und später Liebe
Berthe Arlo geht es nicht darum, ein Plädoyer für die Pflege zu schreiben oder einen Brandbrief, um auf die unhaltbare Situation aufmerksam zu machen. Sie interessiert sich für die großen Geschichten im Kleinen, die den Menschen in diesem Heim passieren: die Tragik unerklärlicher, vielleicht körperlicher, vielleicht auch seelischer Schmerzen. Das Glück der späten Liebe kommen hier vor, die Freude, die Freundlichkeit mit sich bringt und die Komik, die entsteht, wenn Menschen ihre liebgewonnene Konventionen zelebrieren; oder sie völlig hinter sich lassen. Das alles erzählt sie in einem kurzangebundenen direkten Stil, der bisweilen fast schon schnoddrig wirken kann, aber sehr genau wiedergibt, wie Pflegende über die ihnen anvertrauten Menschen sprechen.
„Pfarrer Hartmann lebt schon einige Jahre hier im Haus. Vor kurzem feierte er seinen 80. Geburtstag, und in der Lokalzeitung erschien ein Artikel über ihn, natürlich mit Foto. Fit wie ein Turnschuh lacht er einen darauf an, der alte Herr. Aus diesem Anlass war er in seiner ehemaligen Pfarrgemeinde zur Heiligen Messe mit anschließendem Sektempfang ihm zu Ehren eingeladen. Bei der Gralulationskür erkannte er zwar alle Leute wieder. Dennoch sprach er jeden, aber wirklich jeden mit dem falschen Namen an.“
Entwaffnend unmittelbare Geschichten
Zwei Eigenschaften sind besonders hilfreich in der Pflege: Geduld und Humor. Wie viel Geduld nötig ist, das zeigen manche der Episoden eindrücklich: wenn eine Bewohnerin wieder einmal die ganze Nacht durchruft, sie hielte alles nicht mehr aus, all die Schmerzen und überhaupt, und der eilig gerufene Notarzt dann Blähungen konstatiert zum Beispiel, oder wenn ein Magen-Darm-Virus die Bewohner*innen der Station heimsucht. Aber es gibt auch die stillen Nächte, den lustigen Pfarrer Hartmann oder die lustig vor sich hin schimpfende Frau Schneider, die in ihre Tiraden auch einmal ein Gebet mit einflicht.
Berthe Arlo erzählt aus der Perspektive der teilnehmenden Beobachterin, und sie erzählt die unmittelbare Gegenwart: sie kennt diese Menschen, wie sie jetzt sind. Ihre Geschichte, ihre Vergangenheit interessieren sie nicht sonderlich, es geht nur darum, wie sie in diesem Augenblick durch die Nacht kommen. Dadurch gewinnen die Geschichten eine entwaffnende Unmittelbarkeit: die Protagonist*innen in „Nachts wach“ sind im besten Sinne eigen. Die eine wähnt sich im Kurhotel und klingelt nach den Angestellten, als wären es Bedienstete; die andere freut sich übermäßig jeden nächtlichen Besuch und ist sehr froh, sich endlich einmal im Leben um nichts mehr kümmern zu müssen; noch einer rastet nachts oft derart aus, dass man sein Zimmer nur zu zweit betreten sollte.
Erfüllende Seite des Pflegeberufs
Dass dieser Job anstrengend ist und zehrend, hat man oft gehört, und auch das zeigt dieses Buch: die Angst der Pflegenden, etwas falsch zu machen, jemanden zu töten; und die Wut, die Schuldgefühle, die entstehen, wenn Bewohner*innen aggressiv werden. Aber das Buch zeigt auch, warum diese Arbeit für viele Menschen eine erfüllende ist: Es ist auch ein Privileg, Menschen so nahe zu kommen, sie so gut kennenlernen zu dürfen. Berthe Arlo vermag es, diese schöne Seite dieses Berufes anschaulich zu zeigen: diese Menschen sind liebenswert bisweilen, anstrengend manchmal, und immer auch auf eine feine, unaufdringliche Weise interessant.
„(Frau Schneider) hat ihre Zimmertür nur einen Spaltbreit offen. In ihren zahllosen Klamotten gehüllt steht sie dahinter und flötet sanft in den stillen Flur: „Ko-ko-lo-orum, Koko-lei-ei-chen. Neulich hat sie Pia mal mächtig verblüfft. Die hatte sie zu Bett gebracht, ihr eine gute Nacht gewünscht und dann die Bettdecke statt bis zum Hals nur bis zur Brust über sie gebreitet. „Du Du bist sehr lieb. Aber deck mich jetzt mal richtig zu. Sonst-zieh-ich-dir-gleich-die-Ham-mel-bein-chen lang.“ Man kann gar nicht anders. Man muss sie einfach lieb haben.
Nur indirekte Kritik an den Zuständen
Das hier vorgestellte Heim ist eine abgeschlossene Welt. „Ein einsames letztes Ufer“ nennt es Arlo. „Wie Strandgut“, schreibt sie, „landen die Menschen hier an.“ Kritik an den Zuständen übt sie nur indirekt: lieber zieht sie ein klein wenig den Vorhang auf, damit auch jene, die weder hier arbeiten noch leben, einen Blick darauf werden können. Und was da zum Vorschein kommt, sind keine Zustände, sondern Persönlichkeiten. Wer sich für Menschen interessiert, wird dieses Buch mögen.
Berthe Arlo: „Nachts wach“
Mikrotext Verlag, Berlin
235 Seiten, 20 Euro
Mikrotext Verlag, Berlin
235 Seiten, 20 Euro