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Berufliche Ausbildung
"Junge Menschen bestmöglich qualifizieren"

Dieter Dohmen vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie fordert den Ausbau von Bildungsmaßnahmen im Kita-Bereich. Denn gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten hätten es später sonst schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden, sagte er im DLF. Es brauche eine Strategie für das ganze Bildungssystem, um einem Fachkräftemangel vorzubeugen.

Dieter Dohmen im Gespräch mit Benedikt Schulz |
    Eine Kinderspielecke
    Schon in der Kita fangen die Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel an. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Benedikt Schulz: Gerade eben haben wir über den Hochschulbildungsreport gesprochen und darüber, dass Deutschland viele Fachkräfte gewinnen könnte, wenn man sich nur mal um die ausländischen Studierenden kümmern würde. Deutschland fürchtet den Fachkräftemangel. Nicht nur bei den Hochschulabgängern, sondern auch in der beruflichen Ausbildung. Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie, kurz FiBS, hat nun mal nachgerechnet, wie viele Auszubildende und Hochschulabsolventen wirklich gebraucht werden in Deutschland. Und es liest sich stolz: Bis 2025 muss die Zahl der neuen Ausbildungsverträge um rund 150.000 steigen und die Zahl der Studienanfänger um mindestens 50.000. Direktor des FiBS ist Dieter Dohmen, und mit ihm habe ich vor dieser Sendung gesprochen. Und meine erste Frage: Deutschland fürchtet den Fachkräftemangel. Sie auch?
    Dieter Dohmen: Ja, das ist beziehungsweise wird ein immer größer werdendes Thema, weil die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer in den kommenden 10, 15 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aussteigen und diese Generation rein zahlenmäßig doppelt so groß ist wie die Generation, die nachwächst. Und das führt fast zwangsläufig zu einem Fachkräftemangel.
    Schulz: Ein Ergebnis Ihrer Studie ist aber jetzt, dass es kein Entweder-Oder zwischen Hochschule und beruflicher Ausbildung gibt. Sie sagen auch, es gibt also keinen Akademisierungswahn trotz regelmäßiger Rekord-Studierendenzahlen. Warum denn nicht?
    Dohmen: Ganz einfach, weil wir zunehmend mehr Akademiker brauchen. Das sagen alle Prognosen, völlig unabhängig, ob sie vom BIP, von Prognos oder von Economics sind. Die Frage ist höchstens, wie groß wird der Bedarf sein. Gleichzeitig sinkt der Bedarf an beruflich Qualifizierten in geringem Ausmaß, und wir gleichzeitig dann nicht genügend junge Menschen haben, die ein Studium aufnehmen würden. Also im Endeffekt muss man glasklar sagen, wir müssen beides tun, wir müssen die Hochschulen weiter ausbauen, das passt ja auch durchaus zu dem Hochschulbildungsreport, der heute herausgekommen ist. Und wir müssen gleichzeitig für mehr Ausbildungsplätze sorgen.
    Schulz: Viele rechnen damit, dass die Zahl der Erstsemester nach den Boom-Jahren, Stichwort doppelte Abiturjahrgänge, dass diese Zahl langsam wieder sinken wird. Und wir brauchen auch mehr Auszubildende. Wo wollen Sie die jungen Leute denn herholen?
    Dohmen: Wir haben große Teile, die unzureichend qualifiziert sind. Wenn man diese vernünftig vorbereiten würde und besser ins Berufsbildungssystem eingliedern könnte oder würde, hätten wir hier 20 Prozent. Und 20 Prozent eines Altersjahrgangs sind relativ schnell 160.000 bis 200.000 junge Menschen. Wir haben 1,5 Millionen Menschen, ich glaube, unter 35, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das Potenzial ist da. Wir leisten uns den gigantischen Luxus, diese Generation de facto auszuschließen. Das ist ein Luxus, den sich dieses Land einfach nicht weiter leisten kann.
    "Die kleinen Betriebe fallen hinten runter"
    Schulz: Wo liegen denn konkret die Probleme?
    Dohmen: Na, das liegt daran, zu großen Teilen kommen sie aus bildungsfernen Schichten, unabhängig davon, ob das Migrantenkinder sind oder Deutsche. Und dann in ihren, ich sag jetzt Gettos, das stimmt so vom Begriff her nicht ganz, aber de facto in ihren Stadtteilen zusammengepfercht sind. Und wenn Sie eine Gruppe von zwangsläufig Frustrierten zusammen lassen, dann haben sie auch keine Chance, daran was zu ändern, weil die aus dieser Tretmühle nicht rauskommen. Wir müssten dann tatsächlich aber dann auch im Kita-Bereich wirklich anfangen. Dafür reicht das Geld aber nicht, und das ist dann eine Schraube, die sich immer enger zieht und immer weniger Luft lässt.
    Schulz: Ich habe noch ein anderes Problem auf der Liste, und zwar das Missverhältnis zwischen den Betrieben, die ihre Ausbildungsplätze nicht besetzt bekommen, und den Jugendlichen, die eine Ausbildung gern hätten, aber keine kriegen. Wie kann das denn sein?
    Dohmen: Das kann ganz einfach sein, weil die Jugendlichen bewerben sich dort, bei den Betrieben, die sie kennen. Welche Betriebe kennen sie? Das sind die großen, das sind die Autobauer, das sind die Banken. Wer am Ende hinten runterfällt, das sind durchgängig die kleinen Betriebe, weil man die zum Teil kaum kennt und auch die Kompetenzen fehlen, ein klassisches Ausbildungsmarketing zu betreiben. Und gleichzeitig fehlt ein Unterstützungssystem für die Betriebe während der Ausbildung. Ein ganz simples Beispiel: Wir haben früher ausgebildet und hatten jemand von der Rütli-Schule, die war in Teilen richtig klasse. Dann kam aber das beliebte Thema "Schreib mal eine Rechnung!". Dreisatz? Was ist das, wie geht das? So. Das können Sie als Betrieb mal auffangen, aber wenn Sie jeden Tag zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde damit verbringen müssen, Essentials nachzuholen oder festzustellen, dass die Jugendlichen die Texte, die Sie ihnen geben, gar nicht verstehen, und seien sie noch so simpel geschrieben, dann sind Sie überfordert und müssen irgendwann zwangsläufig die Entscheidung treffen: ich lasse es bleiben. Und damit haben wir zwei Engpässe. Erster Engpass: Wie kommen die kleinen Unternehmen - und es sind ausschließlich die kleinen Unternehmen, die sich zurückziehen, bei großen und mittleren Betrieben steigt die Ausbildungsquote, die könnten es leisten, tun es zum Teil auch, haben aber noch die Situation, dass sie sich die Besseren aussuchen können. Und wenn die keine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen oder können, warum auch immer, entscheiden sie sich nur für die Guten.
    "Die Schule verändert sich nicht"
    Schulz: Aber ist es denn nicht trotzdem, das muss ich jetzt noch nachfragen, so, dass sich einfach auch viele auch große Unternehmen einfach auch angewöhnt haben oder sich daran gewöhnt haben, dass sie sich immer nur die Abiturienten, die top-qualifizierten für ihre Ausbildungsplätze aussuchen dürfen?
    Dohmen: Das stimmt so auch nicht. Wir haben 25 Prozent oder 20 oder 25 Prozent der Ausbildungsplätze sind durch Studienberechtigte, 25 Prozent. Das heißt, 75 Prozent sind es dezidiert nicht, sondern es sind Realschüler, 50 Prozent sind Realschüler, dann haben Sie einen Teil Hauptschüler, und dann haben Sie auch einen Teil von Jugendlichen ohne Schulabschluss. Also, es ist mitnichten so, dass die Betriebe sich nur die Besten aussuchen. Aber natürlich, die großen Betriebe in bestimmten Bereichen müssen sich zum Teil auch diese Jugendlichen mit besseren Voraussetzungen aussuchen, weil sie einfach Anforderungen beruflicher Weise haben, die anderweitig gar nicht gedeckt werden können. Also, Sie brauchen mittlerweile fast überall Englisch. In der Hauptschule Englisch - hm, sehr dünn. Mathe? Sehr dünn. Das heißt, die Welt hat sich komplett verändert, und das ist eine Situation, die das Bildungssystem durchgängig überhaupt nicht mitmacht. Die Lehrkräfte sind zum Teil auf dem Stand von vor 20, 30, 40 Jahren. Ein Teil ist heute dabei, aber die Schule verändert sich nicht, und sie leistet sich die Arroganz, wenn es denn die Gymnasien sind, zu sagen, wir sind halt ein Gymnasium, und wenn du nicht mitkommst, musst du halt auf eine andere Schule gehen. Das heißt, wir brauchen im Prinzip eine komplette Strategie für das gesamte Bildungssystem, die ganz klar darauf abzielt, die jungen Menschen, die wir haben, bestmöglich zu qualifizieren. Das heißt, die 20 Prozent, die nicht lesen, schreiben, rechnen können, müssen lesen, schreiben, rechnen lernen, mit welchem Aufwand auch immer, möglichst früh, unter anderem in der Kita anfangen. Und sie müssen in die Ausbildungen reinkommen, weil das für viele die Chance ist, im Zweifel eine schlechte Schulbildung zu kompensieren. Wenn Sie eine Berufsausbildung haben - ich bin sofort fertig -, dann ist das die beste Voraussetzung, um hinterher einen Job zu finden.
    Schulz: Sagt Dieter Dohmen. Er ist Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Herr Dohmen, ganz herzlichen Dank!
    Dohmen: Danke auch, Herr Schulz!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.