Thekla Jahn: Wenn es darum geht Ursachen des Fachkräftemangels zu identifizieren, ist es wichtig in die Praxis zu schauen. Und genau das leistet das Südwindinstitut für Ökonomie und Ökumene in Bonn. Das Südwindinstitut ist ein wissenschaftliches Institut, das – wie es sich selbst beschreibt – handlungsorientierte Recherchen betreibt zu weltwirtschaftlichen Themen. Dabei richtet es seinen Blick insbesondere auf benachteiligte Menschen. Eine der Studien, die gerade veröffentlich wurde, befasst sich mit den weiblichen Fachkräften, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Das zentrale Ergebnis: Bei der beruflichen Integration in Deutschland werden gerade unter den Migrantinnen viele Talente vergeudet: Dr. Sabine Ferenschild ist Autorin der Studie und sie habe ich gefragt: Was schätzen Sie, wie viele vergeudete Talente gibt es unter den Migrantinnen in Deutschland?
Sabine Ferenschild: Man kann generell erst mal sagen, dass Frauen mit berufsqualifizierendem Bildungsabschluss deutlich häufiger in Hilfstätigkeiten tätig sind als Männer mit berufsqualifizierendem Abschluss und auch als die lokale Bevölkerung. Nämlich wenn man das mal so im Vergleich nimmt: Fünf Prozent der Frauen, die keinen Migrationshintergrund haben und einen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss, sind in Hilfstätigkeiten, aber 16 Prozent der Frauen mit Migrationshintergrund. Das heißt, der Anteil ist deutlich höher.
Familiäre Verpflichtungen, die Männer nicht so haben
Jahn: Jetzt haben Sie gerade gesagt, das sieht bei Frauen so aus, als ob die Talente deutlich mehr vergeudet werden, bei Männern offenbar nicht so doll. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ferenschild: Ja, ich würde zwei Gründe ganz primär nennen: Das eine ist, Frauen haben familiäre Verpflichtungen, die Männer nicht in dem Umfang haben. Wenn Frauen im Rahmen der Fluchtmigration oder des Familiennachzugs nach Deutschland kommen, dann kümmern sie sich erst mal darum, dass ihre Familie, ihre Kinder hier ankommen. Also Migrantinnen mit Kindern oder anderen familiären Verpflichtungen sind die, die am seltensten erwerbstätig sind und auch die größten Schwierigkeiten haben, ihre Talente und ihre Qualifikation wirklich einzusetzen. Der zweite wichtige Aspekt, der betrifft, glaube ich, eher die Mehrheitsgesellschaft hier, den würde ich mal unter dem sogenannten Putzfrauen-Vorurteil zusammenfassen. Die deutsche Öffentlichkeit, deutsche Behörden begegnen Migrantinnen oft mit dem Vorurteil, sie sind nicht qualifiziert, sie haben keine Berufserfahrung, sie werden also in Qualifizierungsmaßnahmen gesteckt, die ihren ursprünglichen Qualifikationen nicht entsprechen. Sie werden sehr stark in frauenspezifische Sektoren weiterempfohlen und vermittelt und fortgebildet, wie eben Pflegesektor, aber auch Gastronomie oder Reinigungsgewerbe. Und dieses Putzfrauen-Vorurteil ist, glaube ich, das Problem in unseren Köpfen, das geändert werden muss.
Sehr schwierig, beruflich Fuß zu fassen
Jahn: Eine Frau in Ihrer Studie wird zitiert, die aus dem Senegal kommt und davon berichtet, dass sie das Gefühl hat, dass bei der Anerkennungsprozedur ihr vermittelt wurde, dass ihr Studium im Senegal überhaupt gar nichts wert sei. Ist das ein Problem, vor dem viele Akademikerinnen aus dem Ausland, aus dem Nicht-EU-Ausland stehen in Deutschland?
Ferenschild: Ja, aber das muss man sicher differenzieren nach den Fachbereichen, in denen die Frauen akademisch gebildet sind. Das Problem, dass die Senegalesin oder heute Deutsche darstellt, das hängt sehr eng mit unseren Ansprüchen an die Lehrerausbildung zusammen. In Deutschland muss man ja zwei Fächer plus Didaktik studiert haben, um als Lehrer oder Lehrerin tätig zu sein, in den meisten Ländern der Welt braucht man nur eine fachliche Qualifikation neben der pädagogischen Qualifikation. Und das macht es gerade in diesem qualifizierten Bereich, in dem Frauen ja sehr stark präsent sind, für Migrantinnen sehr schwierig, hier in diesem Beruf Fuß zu fassen. Und da ist auch meines Wissens und auch nach den Ergebnissen der Fachtagung, die wir zu diesem Thema in der letzten Woche geführt haben, keine Besserung in Sicht.
Jahn: Weshalb greifen dann bisherige Maßnahmen, die es ja zur beruflichen Integration auch gibt – also Weiterbildungen oder Nachqualifizierungen –, warum reichen die nicht aus?
Ferenschild: Ich will nicht sagen, dass die nicht greifen, ich glaube, es hat sich in den letzten Jahren sehr vieles auch zum Positiven verändert. Aber die Hürden, die ich gerade schon genannt hatte, dass eben Frauen auch familiäre Verpflichtungen haben und dass in unseren Köpfen dieses Putzfrauen-Vorurteil existiert – auch wenn das jetzt ein bisschen plakativ ist –, diese Hürden, die tragen eben dazu bei, dass Frauen nicht in gleichem Umfang wie Männer an Sprachkursen, an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen können. Es müsste also viel stärker darauf geachtet werden, dass da eine Kompatibilität ist zwischen Kinderbetreuungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen, dass es Maßnahmen gibt, die in Teilzeit durchgeführt werden können und dass eben die Migrantinnen stärker noch dort abgeholt werden, wo sie sind.
Frauen haben weniger Netzwerke
Jahn: Jetzt gibt es bei der Fachkräftezuwanderung natürlich auch Menschen, die aus dem Ausland kommen, die keinen formalen Abschluss entsprechend unserem haben, aber die ausreichend Berufserfahrung auch auf akademischem Niveau vorweisen können. Wäre da auch eine Ansatzmöglichkeit einer anderen Beurteilung oder einer anderen Begleitung dieser Menschen?
Ferenschild: Jede Form der Fortbildung, der Qualifizierung, aber auch des Vergleichs von Erfahrungen und auch Ausbildung, erworbenen Zertifikaten im Ausland mit den Anforderungen der Berufe hier ist, denke ich mal, wichtig und jede Unterstützung gerade auch für Frauen da willkommen, denn was wir eben auch festgestellt haben, ist, dass Frauen über weniger Netzwerke verfügen als männliche Migranten, die ihnen den Einstieg in Anerkennungsprozeduren und in den Beruf überhaupt erleichtern würden. Und deshalb ist gerade für Frauen auch das Angebot von Städten, von Arbeitsämtern, von freien Trägern so wichtig, um ihnen eben die Unterstützung in der Evaluierung ihrer Berufserfahrungen oder Arbeitserfahrungen aus dem Herkunftsland zu geben, die sie brauchen.
Zeit zwischen Ankunft und Arbeitsmarktintegration
Jahn: Abgesehen von dem, was wir bereits besprochen haben, wie sieht nach Ihrer Studie Ihr Fazit aus, wie könnten Lösungswege aussehen, damit weibliche Migranten nicht vergeudete Talente darstellen?
Ferenschild: Ich glaube, dass eine noch viel stärkere Kooperation der unterschiedlichen Institutionen, Kommunen, Behörden, die jetzt schon gute Angebote leisten, noch wichtig wird in Zukunft – Leitstellen, die durch den Behördendschungel durchführen und ein schnelleres Durchlaufen der Anerkennungsprozeduren und der beruflichen Integration ermöglichen. Ich glaube, ein ganz großes Problem ist einfach die lange Zeit, die vergeht zwischen der Ankunft bis die Frauen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Diese Zeit zu verkürzen, ist, glaube ich, sehr wichtig, denn wir alle wissen, dass je mehr Zeit zwischen diesen Arbeitserfahrungen und der Integration hier liegt, desto mehr Kompetenzen liegen auch brach und gehen eventuell auch verloren.
"Sich stärker die Situation vor Augen führen"
Jahn: Wenn Sie in einem Satz Ihren Wunsch äußern würden heute für den Fachkräftegipfel in Berlin, wie würde er lauten?
Ferenschild: Dass die Personen, die dort beraten und entscheiden, sich stärker noch gerade die Situation von Migrantinnen vor Augen führen und gerade Frauen besser unterstützen, also Maßnahmen entwickeln, zu denen dann auch Frauen Zugang haben und eben nicht nur Männer.
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