Bei vielen Jugendlichen in Deutschland steht mit dem Verlassen der Schule die große Frage an: Was will ich werden? Die Auswahl ist immens. Allein in der klassischen dualen Ausbildung kann aus über 360 Berufen gewählt werden. Hinzu kommen unzählige Studiengänge. Für die Betroffenen bedeutet das die Qual der Wahl – für die Behörden geht es um Defizite bei der Steuerung und Qualität der Angebote.
Wer ist ohne Berufsabschluss und wie viele sind es?
Immer mehr jungen Menschen gelingt der schwierige Übergang zwischen Schulabschluss und Berufsausbildung nicht: 2022 hatten fast 2,9 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren keinen Berufsabschluss - also weder eine abgeschlossene Ausbildung, noch einen Studienabschluss. Das entspricht etwa 19 Prozent der Altersgruppe.
Diese Zahlen gehen aus dem neuesten Berufsbildungsbericht 2024 hervor. Die Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss ist schon zuletzt immer weiter angestiegen, die aktuellen Zahlen für das Jahr 2022 sind nun wieder ein Rekord. Das ist nicht nur für die Betroffenen ein Problem. Denn dieser Rekord trifft auf einen anderen Rekord - den bei der Zahl der fehlenden Fachkräfte.
Für jeden Jugendlichen gibt es individuelle Gründe, warum der Übergang von der Schule zum Berufsabschluss scheitert. Es gibt allerdings auch statistische Gemeinsamkeiten: Drei Viertel der jungen Menschen ohne Berufsabschluss haben auch keinen Schulabschluss. Die Hälfte von ihnen besuchte Förderschulen. Unter ihnen haben überproportional viele einen Migrationshintergrund. Und es sind mehr junge Männer als Frauen betroffen.
50.000 Menschen jedes Jahr ohne Hauptschulabschluss
Klaus Klemm, emeritierter Professor für Bildungsforschung, kennt diese Statistiken seit langem. „Wir haben bei der Quote der jungen Leute, die keinen Schulabschluss haben, seit vielen Jahren Werte um sechs, jetzt sogar 6,9 Prozent. Deutschlandweit. Da gibt es Länderunterschiede, aber immerhin 6,9 Prozent. Das sind mehr als 50.000 Leute jedes Jahr, die die Schule ohne den Mindestabschluss, den Hauptschulabschluss, verlassen. Und wer keinen Hauptschulabschluss hat, hat kaum eine Chance, ein Ausbildungsverhältnis anzutreten.“
Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders oft ohne Abschluss
Bei anderen ist der Notenschnitt beim Schulabschluss so schlecht, dass die Betriebe sie nicht akzeptieren. Viele brechen auch eine Ausbildung ab, und beginnen keine neue. Jugendliche mit Migrationshintergrund laufen laut Statistik überproportional häufig Gefahr, keinen Berufsabschluss zu machen.
Maßnahmen gegen fehlende Berufsabschlüsse und ihre Probleme
Weil das Problem nicht neu ist, wird sehr viel getan, um junge Menschen vor allem im Übergang von der Schule zum Ausbildungsplatz zu unterstützen. Es gibt hunderte Angebote, sagt Frank Neises. Er ist Experte beim Bundesinstitut für berufliche Bildung (Bibb): „Wir zählen im Moment 160 Programme von Bund und Ländern in den Handlungsfeldern Berufsorientierung, Berufsvorbereitung, Übergangsmanagement. Dahinter verbergen sich so Angebote wie Beratung, Vermittlung, Trainingscoachings." Hinzu kämen noch rund 115 schulische Bildungsgänge, bei denen es berufsqualifizierten Abschluss gebe.
Warteschleifen verzögern Entscheidungen
Viele junge Menschen nutzen diese Übergangsmaßnahmen, um Zeit zu gewinnen für ihre Entscheidung, sagt Neises. Und viele Angebote seien auch sinnvoll, wie das Nachholen des Schulabschlusses, oder Praktika in Betrieben. Aber es ufere zu oft aus: „Ein Problem ist es, wenn mehrere Maßnahmen sich anschließen, wir dann von Maßnahmenketten oder auch Warteschleifen sprechen, die dann die Jugendlichen davon abhalten, eine Entscheidung zu treffen oder in reguläre Ausbildungen zu gelangen.“
Für viele junge Menschen sei es außerdem auf den ersten Blick durchaus attraktiv, keine Ausbildung zu machen und direkt arbeiten zu gehen. In vielen Helferjobs verdient man mit dem Mindestlohn mehr als mit einem Ausbildungslohn.
Datenprobleme der Behörden
Sich auf Maßnahmen zu konzentrieren, die nachweislich besonders gut funktionieren, ist allerdings kaum umsetzbar. Denn dafür bräuchte man laut Fitzenberger alle Daten im Überblick: „Eine gesamte Evaluation ist mir nicht bekannt. Das scheitert schon an der fehlenden Datenverfügbarkeit bei der Schnittstelle Schule, Übergang, Beruf, Ausbildung. Da sind wir in verschiedenen Bereichen.“
Weitere Gegenmaßnahmen, weitere Probleme
Immerhin wird derzeit für einen besseren Datenaustausch ein neues Gesetz entworfen, das Forschungsdatengesetz. Dafür gibt es aber bisher nur Eckpunkte. Auch die sogenannte Schülerdatennorm ist noch nicht vollständig umgesetzt. Mit diesem Instrument, das 2020 beschlossen wurde, soll die Kooperation zwischen Bund und Ländern erleichtert werden.
Es erlaubt den Bundesländern, Daten wie Name, Adresse und Alter von Schülerinnen und Schülern, die noch nicht wissen, wie es beruflich weitergehen soll, an die Jobcenter zu schicken. Diese können dann Kontakt aufnehmen und Angebote machen. Doch bis heute wartet die Bundesagentur für Arbeit bei mehreren Bundesländern darauf, dass sie die Norm erfüllen.
Instrument Jugendberufsagentur
Statt Maßnahmen auszusortieren, hat die Politik ein anderes Instrument eingesetzt: die Jugendberufsagentur. Das sind Servicestellen der Arbeitsagenturen und Jobcenter, die vor allem eine Aufgabe haben: junge Menschen im Dschungel der Angebote bestmöglich zu beraten. Diese Servicestellen gibt es schon seit 2010 – aber sie seien in den Kommunen sehr unterschiedlich entwickelt, sagt Frank Neises vom Bundesinstitut für berufliche Bildung.
Instrument Ausbildungsgarantie
Seit April dieses Jahres gibt es zudem ein weiteres neues Instrument: die Ausbildungsgarantie. Allerdings ist damit nicht ein Rechtsanspruch auf einen dualen Ausbildungsplatz in einem Betrieb gemeint, sondern es sind eher Hilfsangebote: So werden damit Praktika gefördert oder ein Zuschuss für die Fahrt zum Betrieb gezahlt. Erst wenn gar nichts hilft, gibt es einen Ausbildungsplatz – aber außerbetrieblich, das heißt in Schulen.
Welche Maßnahmen gegen fehlende Abschlüsse helfen wirklich?
Wirklich hilfreich wäre ein früh einsetzendes, praxisnahes, kontinuierliches Angebot zur Berufsorientierung an den Schulen. Im Jahresbericht des Bundesinstituts für berufliche Bildung fordert eine solche Berufsorientierung nicht nur das Institut selbst, sondern Arbeitgeber und Gewerkschaften schließen sich dem an.
Beispiel 1 Berufsorientierung: Oberschule Kirchmöser
Tatsächlich kann eine intensive Berufsvorbereitung viel erreichen. Das zeigen Schulen, die darauf einen besonderen Fokus setzen. Dazu gehört etwa die Oberschule in Kirchmöser, einem Stadtteil von Brandenburg an der Havel.
Diese Schule setzt den Gedanken der Berufsorientierung radikal um: Wenn die Schülerinnen und Schüler nach der 6. Klasse hierhin wechseln, müssen sie vom ersten Schultag an mindestens einen Tag in der Woche in einen Betrieb. Schulnahe Betriebe, die mitmachen, sind allerdings in ländlichen Regionen oftmals eine Herausforderung.
Beispiel 2 Berufsorientierung: Hamburger Modell
Es gibt ein weiteres Modell, das den Übergang erfolgreich gestaltet, und dabei viel Praxis mit Schule verbindet: das Modell der Stadt Hamburg. Von Experten wird es als Leuchtturm gelobt. Auch Bildungsforscher Klaus Klemm ist von dem Modell überzeugt.
Vor rund 15 Jahren gingen in Hamburg Tausende von Jugendlichen von der Schule ab, ohne dass man wusste, wie es für sie weiterging. Dann hat die Stadt zahlreiche Reformen umgesetzt: Seitdem sind Berufsorientierung und Betriebspraktika ab dem 8. Schuljahr Pflicht. Die Jugendberufsagenturen haben die Daten der Schüler und können Kontakt aufnehmen. Und es wurde ein intensives, verpflichtendes Ausbildungsvorbereitungsjahr für Minderjährige eingeführt, die nach der 10. Klasse von der Schule abgehen und noch keinen Ausbildungsplatz haben.
Hamburger Schulgesetz geändert
Dafür wurde in Hamburg das Schulgesetz entsprechend geändert. Zudem hat die Stadt 2011 alle Beteiligten, also Schulen, Arbeitsagenturen, Träger von Berufsvorbereitungsmaßnahmen und Betriebe zusammengebracht. Gemeinsam wurde eine für alle Stadtteilschulen gültige Struktur beschlossen: Die betroffenen Jugendlichen sollen nicht einfach weiter zur Schule gehen, sondern sollen vor allem in langen Praktika in Betrieben ausprobieren, was zu ihnen passt. Dabei werden sie intensiv betreut.
Das Beispiel Hamburg und die Schule in Kirchmöser zeigen: Frühe und enge Kontakte zu den Jugendlichen, viel Praxis und eine individuelle Betreuung der Jugendlichen helfen diesen, den Übergang in das Berufsleben zu schaffen.
aha