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Berufsbildung und -förderprogramme
"Da herrscht teilweise Wildwest in diesem Bereich"

An fehlenden Förderprogrammen zur beruflichen Bildung liege es nicht, dass mehr als 2,1 Millionen junge Menschen in Deutschland keinen Berufsabschluss haben. Es gäbe zu viele dieser Programme, sagte der Sozialwissenschaftler Stefan Sell im Dlf. Er plädiert für weniger, dafür langfristigere Projekte.

Stefan Sell im Gespräch mit Regina Brinkmann |
Ein Mann liest in der Agentur für Arbeit in Halle (Saale) (Sachsen-Anhalt) in einer Broschüre zur Berufsausbildung.
Man brauche Monate, nur um eine Bestandsaufnahme zu machen, welche Berufsförderprogramme es gibt, sagte Stefan Sell im Dlf-Interview (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
Regina Brinkmann: Wir wollen noch etwas ausführlicher auf den aktuellen Berufsbildungsbericht eingehen, den Bundesbildungsministerin Anja Karliczek heute in Berlin vorgestellt hat. Am Telefon begrüße ich dazu Professor Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz. Guten Tag, Herr Sell!
Stefan Sell: Guten Tag!
Brinkmann: Die Zahl derjenigen, die im Alter von 20 bis 34 keinen Berufsabschluss haben, ist noch mal im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Wir reden von aktuell mehr als 2,1 Millionen Menschen, die das betrifft. Das hat die FDP, das haben wir ja eben in dem Beitrag gehört, zu Kritik veranlasst, die Regierung habe die berufliche Bildung zu lange links liegengelassen. Teilen Sie die Kritik, Herr Sell?
Sell: Na ja, wir reden ja über ein Berufsbildungssystem, was überaus komplex ist. Da sind die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände maßgeblich mit drin, das wird auf Länderebene gesteuert, der Bund hat einen Anteil. Also, da wirken ganz viele mit. Aber wir haben in den vergangenen Jahren tatsächlich gesehen, dass der Stellenwert der dualen Berufsausbildung vor allem, daneben gibt es ja auch noch die schulische Berufsausbildung, dass die schon deutlich abgenommen hat, parallel ist der Akademisierungsgrad gestiegen. Und ja, es gibt bestimmte Bereiche, die eine schwere Seitenlage haben jetzt.
Mobilitätsförderung als Teillösung
Brinkmann: Das sind wahrscheinlich die Bereiche, wenn es um die jungen Menschen geht, die eben keine berufliche Qualifizierung erreichen. Was muss denn in diesem Bereich noch konkret passieren?
Sell: Ich denke, aufgehängt an der Zahl 2,1 Millionen, das ist ja eine gewaltige Gruppe, sollten wir aber differenziert hinschauen, denn das betrifft ja die 20- bis 34-Jährigen. Wir haben hier im Prinzip zwei Gruppen: Die Jüngeren, da wird es darum gehen, dass wir unbedingt die Zahl derjenigen, die nicht in eine Ausbildung reinkommen, dass wir die deutlich reduzieren, das ist ja ein Ziel schon seit Jahren. Das konzentriert sich aber auf bestimmte Regionen, zum Beispiel Ruhrgebiet, kleinere oder mittlere Städte in Hesse, Niedersachsen, der Norden von Schleswig-Holstein, während es andere Regionen - Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg - gibt, wo händeringend überhaupt noch junge Leute gesucht werden, die man nicht mehr findet.
Also, wir haben sehr große Ungleichgewichte. Und das bedeutet, wenn sich der Zugang zu einer Ausbildung für junge Leute in bestimmten Regionen äußerst schlecht darstellt, dann kann eine Teillösung zum Beispiel sein, deren Mobilität zu fördern. Und nur ein Beispiel: Für Studenten gibt es zahlreiche Wohnheime in den Hochschulstädten. Hier, das wird schon seit vielen Jahren gefordert, müssten wir eigentlich eine gewaltige Wohnbauanstrengung für Auszubildende im beruflichen Bildungssystem vornehmen, damit überhaupt die Voraussetzung für so eine Mobilität geschaffen werden kann.
Investitionen "würden sich mehrfach refinanzieren"
Brinkmann: Jetzt sprechen Sie die jüngeren Auszubildenden an. Was ist denn mit denjenigen, die vielleicht mit Ende 20 noch keine Ausbildung haben. Wie sehr ist denn da zum Beispiel die Wirtschaft daran interessiert, auch ältere Azubis einzustellen?
Sell: Das ist ein ganz, ganz wunder Punkt. Denn hier handelt es sich um Leute, die vor vielen Jahren, als wir noch viel zu wenig Ausbildungsplätze hatten, das ist noch gar nicht so lange her, sind die durch das Raster gefallen. Und dann haben die keine Ausbildung gemacht oder machen wollen und jetzt hängen die da, und das ist eine Hochrisikogruppe. Es gibt schon seit Jahren die Forderung, dass man gerade hier ein großes Reservoir hat, ein paar Hunderttausend, die man zu Handwerkern, Facharbeitern weiterqualifizieren könnte. Aber die sind ja in einer anderen Lebenslage, die werden sich nicht mit 300, 400 Euro Azubivergütung und einem normalen Berufsschulbesuch abspeisen lassen.
Hier wird gefordert, dass wir Geld in die Hand nehmen und sagen: Okay, die bekommen auch einen größeren Geldbetrag, damit sie sich überhaupt dieser Anstrengung einer Ausbildung unterziehen und einen Anreiz haben, das zu machen. Und hier hat die Bundesregierung bisher immer in der Vergangenheit geblockt, Geld in die Hand zu nehmen, das aber gut angelegt wäre. Stellen wir uns mal vor, wir schaffen das: Die zahlen dann ja die Jahre danach Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aus höheren Einkommen, das würde sich mehrfach refinanzieren. Aber am Anfang steht erst mal natürlich eine größere Summe, die man investieren müsste.
Zu viele Förderprogramme
Brinkmann: Wenn man sich den Berufsbildungsbericht anschaut, der ist 200 Seiten stark, ich fand es interessant, allein 30 Seiten sind gefüllt mit allen möglichen Förderprogrammen, die es da gibt. Man kann jetzt nicht sagen, dass es zu wenig Angebote gibt.
Sell: Nein, leider zu viele. Sie brauchen sozusagen wirklich Monate, nur um eine Bestandsaufnahme zu machen, welche Förderprogramme es gibt. Vom Bund, von den Bundesländern, auf kommunaler Ebene gibt es welche, dann gibt es von den Unternehmen welche und noch zahlreiche andere. Und vor allem: Viele Modellprojekte, viele dieser Programme sind alle befristet - und das ist ein wirkliches Krankheitssyndrom in unserem Land.
Da werden Strukturen aufgebaut, und dann läuft das Programm nach viel Jahren aus, wird irgendwann wieder aufgelegt, unter neuem Namen, aber in der Zwischenzeit werden die Strukturen zerschlagen. Und die Leute, die dort arbeiten, haben in der Regel nur befristete Arbeitsverhältnisse, da herrscht teilweise Wildwest in diesem Bereich. Hier wäre deutlich weniger mehr im Ergebnis. Und dann verbunden mit einer ordentlichen finanziellen Ausstattung, denn diese Investitionen lohnen sich oder würden sich lohnen. Aber hier haben sich die Systeme mittlerweile irgendwie ineinander verhakt, und das bedürfte dringend der Reform.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.