"Das menschliche Gehirn ist geschrumpft - in den vergangenen 5000 Jahren um rund 200 Milliliter – das ist unglaublich schnell. Wenn unsere Hirngröße um weitere 200 Milliliter abnimmt, haben wir nur noch so große Gehirne wie Homo erectus. Das ist beschleunigte Evolution."
Der Mensch unterliegt wie alle Lebewesen dem "Kampf ums Dasein". Er ist zwar weit davon entfernt, sich in neue Arten aufzuspalten – aber die Evolution schreitet voran. Doch wohin soll es gehen?
"Und da frage ich immer meine Studenten: Warum schrumpft unser Gehirn? Und da gibt es nur zwei Antworten: entweder wir werden immer dümmer oder unser Gehirn arbeitet immer effektiver."
"Hier untersuchen wir sozusagen die Wirkung von Duftstoffen auf Zellen."
Hanns Hatt führt durch seine Laborräume an der Ruhr-Universität Bochum. Nicht nur menschliche Zellen kommen hier unters Mikroskop, sondern auch die von Mäusen, Insekten und Fröschen. Hatt:
"Hier sind so Froscheier, und in jedes Ei wird dann ein Gen für einen bestimmten Rezeptor injiziert und das Ei stellt dann innerhalb von drei, vier Tagen das Protein her, in großen Mengen, und baut dann die Membran ein und dann kann man eben diese Froscheier messen, wie die auf – wenn es eben ein Riechrezeptor ist – auf Düfte reagieren."
Mithilfe der Frösche vermessen die Bochumer Physiologen die Grundlagen des Riechens. Diese sind bei allen Tieren gleich. Hatt:
"Also, man kann quasi dann die Froscheier als Tool benutzen, um über lange Zeit, oft viele Stunden, zehn Stunden lang, die Rezeptoren zu studieren, chemisch zu aktivieren und den Strom zu messen."
Das Riechen ist der älteste aller menschlichen Sinne. Im Institut für Zellphysiologie untersucht Hanns Hatt nicht nur wie das Riechen funktioniert, sondern auch, wie es sich seit den Anfängen der Menschheit verändert hat.
"Die Zahl der Riechrezeptoren ist natürlich im Vergleich zu den höchst entwickelten Säugetieren, also Mäuse, Ratten, Hunde und ähnliches, die etwa 1000 verschiedene Riechrezeptoren haben, beim Menschen mit 350 schon mal um Zweidrittel weniger geworden."
In den Genen lassen sich die verloren gegangenen Riechrezeptoren heute noch nachweisen. Aber wieso kam es zu diesem Verlust? Auch wenn Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren schlechter riechen, hilft ihnen die Nase noch immer beim Überleben. Und das nicht nur, weil die Nase ein effektiver Feuermelder ist, sagt Hanns Hatt.
"Natürlich brauchen wir das Riechen, um viele Gefahren zu erkennen. Wir müssen also erkennen, ob etwas zum Beispiel Essen verdorben ist, dass Fleisch verdorben ist, Gammelfleisch und ähnliches. Aber wir wissen inzwischen auch, dass das Riechen auf unsere Emotionen, auf unsere Entscheidungen, auf unsere Befindlichkeit und sogar auf unseren Hormonhaushalt Einfluss hat."
Wenn dieser Sinn weiter eine große Bedeutung für das Leben und Überleben des Homo sapiens hat, wieso wurden die Riechrezeptoren reduziert? Ein Blick zu den nächsten lebenden Verwandten – den Altweltaffen in Afrika – zeigt, dass sie die gleichen Verluste hinnehmen mussten. Der Vorgang muss also schon früh in der Evolution passiert sein. Hatt:
"Eine der Theorien ist, dass es einen Bruch gab zwischen den Neuweltaffen und den Altweltaffen, da haben nämlich die Altweltaffen ein drittes Farbpigment entwickelt, die haben also das trichromatische Farbensehen: rot, blau und grün."
Mit der Verbesserung des Drei-Farbensehens ging auch der Niedergang der Riechrezeptoren einher. Das dreidimensionale Sehen in Farbe half nicht nur bei der Orientierung hoch oben in den Bäumen, sondern auch bei der Suche nach reifen Früchten. Das Auge wurde besser. Dadurch konnte die Nase schlechter werden. Nur in den Hoden spielt der Geruchssinn nach wie vor eine wichtige Rolle. Hanns Hatt gelang es nachzuweisen, dass es Riechrezeptoren auch in Spermien gibt. Diese weisen ihnen den langen Weg durch den Eileiter zur Eizelle.
"Also fast 15 Prozent der Rezeptoren gibt es auch in Spermien und die werden nie verloren gehen. Denn wenn die verloren gehen, würde die Menschheit aussterben."
Heute erreicht nur noch ein Teil der Duftinformationen den Menschen, doch das muss kein Nachteil sein. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Prozesse im Gehirn verbessert haben. Es könnte also sein, dass der Verlust der Riechrezeptoren einfach die Folge einer effizienten Verarbeitung im Gehirn war. Der Körper verbraucht weniger Energie, die Kräfte werden frei für Neues.
Vor rund sieben Millionen Jahren hatten sich die ersten Menschen in Afrika erfolgreich von ihren äffischen Vorfahren getrennt. Im Laufe der Jahrmillionen nahm die Körpergröße zu. Sie lernten immer effektiver zu laufen und ihre Hände zu mehr als nur zum Klettern zu benutzen. Das Haarkleid verschwand, sie begannen Werkzeuge zu fertigen. Wer gut an die klimatischen Gegebenheiten angepasst war, fand schneller Nahrung, überlebte länger, konnte mehr Nachwuchs bekommen und seine gesammelten Erfahrungen an ihn weitergeben. Vor rund 100.000 Jahren schließlich tauchte Homo sapiens auf. Die Entwicklung des anatomisch modernen Menschen verlief alles andere als gleichmäßig, sagt Joachim Burger vom Institut für Anthropologie der Universität Mainz.
"Was vielleicht jetzt doch etwas überraschend ist, ist, mit welcher Geschwindigkeit sie eben doch voran gegangen ist in den letzten 20.000 bis 40.000 Jahren."
Mit dem Auszug aus Afrika gab es für unsere Vorfahren neue Herausforderungen, deren Lösungen sich schnell im Erbgut der Überlebenden manifestierten. Burger:
"Man kann da eigentlich nur plausibel spekulieren bislang, woran das liegt. Aber ich denke, dass wir einen guten Grund für die Beschleunigung in der Eroberung neuer Naturräume sehen können."
Der moderne Mensch verließ den afrikanischen Kontinent und ging dahin, wo er evolutionär gesehen gar nicht hingehörte. Die ungewohnten klimatischen Bedingungen in Asien und Europa übten einen gewaltigen Druck auf die Gründerpopulationen aus. Nur wenige Menschen konnten ihm standhalten. Viele starben früh, noch bevor sie eigene Kinder hatten. Wer überlebte, wanderte weiter und eroberte unbekanntes Land. Neue Populationen entstanden, Gruppen von Menschen, die nur einen Teil der ursprünglichen Menschheit repräsentierten. Rasend schnell entwickelten sie sich weiter, bis sie kaum noch Ähnlichkeiten mit ihren Urahnen hatten.
"Diese Gefahr wird sozusagen positiv umgesetzt und es können nur die Organismen überleben, die positiv darauf reagieren können und diese Organismen werden positiv selektioniert und so führt es dazu, dass aus heutiger Sicht eine beschleunigte Evolution stattgefunden hat."
Darwins Prinzip der natürlichen Selektion begünstigte die, die am besten an die widrigen klimatischen Bedingungen angepasst waren. Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich immer neue Facetten. Eine der offensichtlichsten: die Hellhäutigkeit. Auf dem Weg nach Norden wurde das Sonnenlicht immer schwächer. Doch der Mensch brauchte das Licht, um Vitamin D und stabile Knochen aufzubauen. Waren die dunklen Pigmente in der Nähe des Äquators noch von Vorteil, weil sie den Körper vor gefährlichem UV-Licht schützten, benachteiligten sie die Auswanderer in nördlicheren Gefilden. Heutige Europäer, Chinesen und Nordasiaten tragen Gene im Erbgut, die für eine helle Haut sorgen. Ihre Vorfahren jedoch waren allesamt schwarz.
Vor rund 7500 Jahren brachten erste Bauern eine Idee vom Nahen Osten nach Mitteleuropa, die das Leben gründlich umwälzen sollte. Jäger und Sammler wurden zu sesshaften Bauern, domestizierten Tiere und bestellten Felder. Dank der Nahrungsproduktion wuchs die Bevölkerung. Dorfgemeinschaften entstanden, Vorräte wurden gelagert und die Menschen konnten erstmals Hungerperioden und karge Winter überstehen. Auch die Kindersterblichkeit sank. Immer mehr Menschen erreichten das Erwachsenenalter und bekamen Kinder. Gleichzeitig entstanden neue Bedrohungen. Krankheiten breiteten sich aus und nicht alle Menschen waren gegen die Angriffe von Mikroorganismen und Seuchen gewappnet.
Immer mehr Menschen lebten in Europa, zunehmend auch in Siedlungen. Eine hohe Bevölkerungsdichte sollte eigentlich Spuren im Erbgut hinterlassen haben. Der Anthropologe John Hawks von der Universität von Wisconsin in Madison wollte diese These überprüfen. Er nahm sich die Daten des Internationalen HapMap Projekts vor, eine Art Sammelaktion für Varianten im menschlichen Erbgut. 3,9 Millionen so genannter Single Nucleotid Polymorphismen von 270 Menschen verglich John Hawks. Mit diesen "Snips" vermaß er die Geschwindigkeit der Evolution.
"Als wir uns das Zeitfenster ansahen, in dem viele Veränderungen stattfanden, bemerkten wir, dass sie vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren immer häufiger auftraten. Die größte Beschleunigung in der menschlichen Evolution aber gab es erst in den letzten 5000 bis 10.000 Jahren."
Mit der Besiedlung Europas hatte die Evolution des Menschen also tatsächlich Fahrt aufgenommen. Zu Beginn der Jungsteinzeit, mit der Entstehung erster größerer Siedlungen, beschleunigte sie noch einmal. Nach Hawks Berechnungen unterlagen sieben Prozent des menschlichen Erbguts in den vergangenen 10.000 Jahren einer schnellen Evolution.
"Zum einen sahen wir erstmals die Geschwindigkeit der Veränderungen. Diese hatte sich um den Faktor 100 beschleunigt, so etwas hat es vermutlich noch nie in der Evolution des Menschen gegeben. Es gab Veränderungen hinsichtlich der Resistenz gegenüber Krankheiten, Änderungen in der Hirngröße und Hirnentwicklung und in allen Bereichen, die mit den kulturellen Veränderungen der Menschheit einhergehen, die nach der Entstehung der bäuerlichen Gesellschaft aufkamen."
Alte Eigenschaften gingen verloren, neue Eigenschaften kamen hinzu. Einige brachten Vorteile und setzten sich durch, andere verloren sich wieder. Populationen wuchsen und ermöglichten eine riesige genetische Vielfalt. Diese brachte in kargen Zeiten oder bei Wanderungsbewegungen einigen wenigen Individuen darwinsche Fitnessvorteile. Dadurch erfuhren Populationen große Veränderungen. Im Erbgut lassen sie sich noch heute nachweisen. Hawks:
"Wir kennen heute einige tausend Gene und Varianten, die es erst seit wenigen tausend Jahren gibt. Der durchschnittliche Europäer etwa trägt 100 oder 200 dieser neuen Varianten in sich. Dank dieser beschleunigten Entwicklung sind wir unseren Vorfahren vor 5000 Jahren genetisch gesehen kaum noch ähnlich. Da gibt es einen großer Unterschied."
Vieles ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Anderes dagegen offensichtlich: etwa blaue Augen. Hawks:
"Die Mutation, die zu blauen Augen führte, entstand erst vor rund 10.000 Jahren. Heute haben in Nordeuropa fast 90 Prozent der Bevölkerung blaue Augen, obwohl man zwei Kopien des Gens benötigt. Normalerweise breitet sich eine genetische Eigenschaft nicht so schnell aus. Das ist also ein seltenes Beispiel für beschleunigte Evolution. Letztlich bleiben blaue Augen ein großes Mysterium, da sie keinen offensichtlichen Vorteil liefern."
Ein Erklärungsversuch für den Siegeszug der blauen Augen: Blauäugige Menschen sind attraktiver und werden von ihren Mitmenschen mehr gemocht als andere. So hatten etwa von den ersten sieben römischen Kaisern fünf blaue Augen, obwohl diese Augenfarbe in Italien weder damals noch heute häufig vorkommt. Ebenso verwunderlich: Immer mehr Menschen tragen eine Genvariante in ihrem Erbgut, die das Haar dicker macht. Einziger Erklärungsansatz auch hier: Menschen mit dicken Haaren werden in der Partnerwahl bevorzugt und haben so tendenziell mehr Nachwuchs. Mehr Nachwuchs und mehr Kinder, die das Erwachsenenalter erreichen konnten, hatten auch einige der ersten Bauern in Europa. Eine winzige Mutation verschaffte ihnen plötzlich einen gewaltigen Überlebensvorteil.
"Wir wissen nicht genau, warum es so ein riesiger Vorteil war, dass plötzlich einige Erwachsene in der Lage waren, Frischmilch zu verdauen. Wir wissen nur, dass diese Fähigkeit einer gewaltigen natürlichen Selektion unterlag, und sich binnen kurzer Zeit über ganz Europa ausbreitete. Wahrscheinlich ist die Milchzuckerverträglichkeit die Eigenschaft, die in den vergangenen 20.000 Jahren am stärksten bei den Europäern selektioniert wurde."
Bis vor wenigen tausend Jahren konnten nur Kinder den Milchzucker Laktose verdauen, sagt Mark Thomas vom University College London. Mit dem Heranwachsen verlor sich diese Fähigkeit. In vielen Ländern, etwa in Asien und Afrika, ist dies heute noch so. Dort bekommen Erwachsene Verdauungsstörungen, wenn sie Frischmilch trinken. Ihnen fehlt das Verdauungsenzym Laktase, das den Milchzucker aufspaltet. In Europa jedoch hat sich innerhalb der vergangenen 10.000 Jahre eine winzige genetische Veränderung manifestiert, die sich auszahlte: die Milchzuckerverträglichkeit im Erwachsenenalter. Thomas:
"Natürlich können wir über die möglichen Ursachen spekulieren, warum dieser Vorteil so gewaltig war. Einige Erklärungen liegen auf der Hand: Diese neue Nahrungsquelle enthält viel Calcium, Vitamin D, Proteine, Fette und so weiter. Die ersten Milchbauern müssen diese Eigenschaft entwickelt haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Es wäre wenig sinnvoll etwas in großem Stil zu produzieren, das nur Kinder vertragen können."
Frische Milch ist keimfrei. Ähnlich wie Stillkinder waren Frischmilchtrinker dadurch vor Erregern im Trinkwasser aus Flüssen, Bächen und Seen geschützt. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren. Bauern mit Rindern konnten ihr Land effektiver nutzen. Da es vor allem in Nordeuropa meist nur eine Getreideernte pro Saison gab, waren Vieh- und Milchwirtschaft ein weniger riskantes Unterfangen. Ackerbauern brachte eine Missernte dagegen schnell an den Rand der Existenz. Mark Thomas und seine Kollegen konnten mithilfe von Computersimulationen rekonstruieren, dass sich die Laktosetoleranz sehr schnell ausgebreitet haben muss. Ihren Ursprung vermuten sie im mittleren Osten und Südosteuropa.
"Irgendwann, als die Milch- und Viehwirtschaft ihren Siegeszug über Europa antrat, muss sich diese Fähigkeit spontan entwickelt haben. Binnen weniger Generationen, steigt die Häufigkeit unglaublich stark an und erreicht schnell die Verteilung, die wir heute in Europa und vor allem in Nordwesteuropa finden."
Aber nicht nur in Europa konnten Erwachsene Frischmilch verdauen. In Afrika hat sich die Milchzuckerverträglichkeit auch entwickelt – wenn auch etwas später und auf anderen genetischen Wegen. Dort benötigte das Erbgut vier genetische Veränderungen, drei mehr als bei den Milchtrinkern in Europa. Das Ergebnis war letztlich das gleiche.
England, Hinxton, ein kleiner Ort in der Nähe von Cambridge. Hier befindet sich das größte DNA-Sequenzierzentrum Europas.
"I am Chris Tyler-Smith. I am a Wellcome-Trust Senior Investigator at the Sanger-Institute."
Der Genetiker Chris Tyler-Smith steht im blauen Kittel in einem Maschinenraum mit 75 Sequenzierautomaten. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche und 52 Wochen im Jahr analysieren sie Erbgutstücke.
"Jede dieser Maschinen ist ein DNA-Sequenzierapparat. Wir befinden uns sozusagen im Herzen des Sanger-Instituts."
Zwei Mitarbeiter sorgen dafür, dass die kühlschrankgroßen Geräte permanent laufen. Einer von Ihnen ist Ingenieur Ian Guthrie.
"The DNA is prepared and passed to us in a plate which contains 394 samples."
Die DNA-Proben werden zunächst aufbereitet. Anschließend kommen sie durch dünne Röhrchen auf Kunststoffplatten, jede von ihnen bietet Platz für 394 Proben. Genau dort wird das Erbmaterial automatisch Buchstabe für Buchstabe abgelesen. Guthrie:
"Fairly simple in principle, but expensive to work correctly and sure."
Im Prinzip sei diese Methode einfach, sagt Guthrie - aber teuer, weil alles absolut korrekt und zuverlässig laufen muss. Chris Tyler-Smith interessiert sich für die Erbgutstücke, in denen sich eine Gesellschaft unterscheidet.
"In manchen Teilen der Erde kann man auf diese Weise die Ausbreitung von Krankheiten untersuchen, die an einigen Stellen mehr Erfolg haben als an anderen. Das geht dann sehr schnell vonstatten, es müssen nur manche Menschen mehr Kinder haben als andere. Das ist Evolution."
Heute sind 20 Gene bekannt, die eine Herzerkrankung verursachen können. Eines davon ist in Indien verbreitet und heißt MYBPC3. Chris Tyler-Smith untersuchte 1500 gesunde und herzkranke Inder und fand tatsächlich, dass das Gen bei den herzkranken Studienteilnehmern häufiger mutiert war als bei den gesunden. Doch wie konnte eine so schwere Erkrankung so erfolgreich werden?
"Wenn wir uns die Menschen vor rund 1000 Jahren anschauen könnten, würden wir eine andere Verteilung der Krankheit sehen."
Der Hochrechung zufolge ist die Mutation wahrscheinlich schon vor 30.000 Jahren aufgetreten. Da Menschen aber erst erkranken, wenn sie schon Kinder in die Welt gesetzt haben, konnte sich die Krankheit behaupten. Für Tyler-Smith ein gutes Beispiel dafür, wie Evolution funktioniert. Was einen Vorteil mit sich bringt, setzt sich durch. Darwin fand dafür den Begriff "survival of the fittest". Umgekehrt überleben aber auch Eigenschaften, wenn auf sie kein Selektionsdruck ausgeübt wird. Kurz: was nicht schadet und nichts kostet, bleibt. Dafür gibt es einige, zum Teil auch kuriose Beispiele, sagt der US-amerikanische Anthropologe John Hawks:
"Schauen sie sich mal das Steißbein an. Das braucht kein Mensch mehr. Warum ist es dann noch da? Aus evolutionsbiologischer Hinsicht müssen wir aber anders fragen: Wer stirbt, nur weil er ein Steißbein hat? Niemand, und deshalb wird es der Menschheit vermutlich erhalten bleiben."
Auch an Weichteilen kann man solche Rudimente entdecken. Beim Blinddarm etwa ist noch nicht einmal geklärt, welchen Nutzen er ursprünglich brachte – oder ob er vielleicht sogar heute noch eine Funktion hat. Hawks:
"Manche Leute gehen davon aus, dass der Blinddarm möglicherweise eine Art Repertoire für nützliche Bakterien ist. Dann wäre es natürlich ein Vorteil, noch einen Blinddarm zu haben. Vielleicht ist es aber auch ein Nachteil, weil Menschen an Blinddarmdurchbrüchen sterben, aber dafür gibt es heute Operationen. Dank dieser kulturellen Erfindung sterben Blinddarmträger nicht aus."
Der Mensch hat es zu einer der erfolgreichsten Spezies gebracht: noch nie gab es so viele Menschen auf der Erde, über sechs Milliarden und ein Ende des Wachstum ist noch nicht abzusehen. Noch nie waren die Menschen so groß, hatten unabhängig von der Jahreszeit so viel zu essen und halten sich auch in Gebieten auf, in denen sie ohne Thermokleidung, Sonnenbrillen, Sunblocker, Sauerstofflaschen, Flugzeugen, Nahrungsergänzungsmittel oder Insektenschutzmitteln nicht lange überleben könnten. Der Motor der Evolution ist die natürliche Selektion. So gibt es einige Beispiele, die zeigen, wie erfolgreich eine einzelne Person ganze Generationen genetisch prägen konnte, erklärt Steve Jones, Leiter der Abteilung Genetik des University College London.
"Der wohl erfolgreichste Mann in dieser Hinsicht, den ich bei meinen Recherchen gefunden habe, war Mulai Ismael, genannt der Grausame von Marokko. Er lebte im 16. Jahrhundert und war ein großer Imperator. Nach eigenen Angaben tötete er nicht nur 30.000 Menschen mit eigenen Händen, sondern er hatte dabei auch noch Zeit, 888 Kinder zu zeugen."
Mulai Ismael hinderte durch die Exekutionen nicht nur Zehntausende daran, selber Kinder in die Welt zu setzen, sondern er pflanzte sich auch äußerst erfolgreich fort. So erfolgreich, dass sich in den folgenden Generationen der Genpool der dortigen Bevölkerung merklich verschoben haben dürfte. Solche Beispiele einer starken Selektion seien zwar auch in der Vergangenheit selten gewesen, aber Faktoren wie eine hohe Säuglingssterblichkeit, Tod im Wochenbett oder Infektionen hinderten in den vergangenen Jahrhunderten regelmäßig viele Menschen daran, Kinder zu bekommen. Sie starben vorher. Jones:
"Bei meiner ersten Genetik-Vorlesung für neue Studenten sage ich ihnen immer: Schauen sie sich ihren Sitznachbarn rechts und links an. Zwei von Ihnen werden aufgrund ihrer genetischen Ausstattung sterben, vielleicht an Krebs, Diabetes, Herzerkrankungen ...also alles Krankheiten, die eine starke genetische Komponente haben. Aber dann sage ich: Kopf hoch. Wenn ich diese Vorlesung zu Shakespeares Zeiten gehalten hätte, im 16. Jahrhundert oder so, wären Sie vermutlich schon tot."
Die Zeiten haben sich geändert. Heute erreichen Menschen binnen kurzer Zeit jeden Winkel der Erde. Dadurch sei es nicht mehr möglich, dass sich eine Population lange isolieren kann, sagt Steve Jones. Auch gebe es in weiten Teilen der Welt kaum noch genetische Unterschiede innerhalb einer Population, die abhängig von der Anzahl der Nachkommen vererbt werden könnten.
"Wenn jeder 16 Kinder hat, kann es keine Unterschiede geben, da alles vorhandene Erbmaterial an die nächste Generation 1: 1 weitergegeben wird. Das gilt auch, wenn jeder zwei Kinder bekommt. So wird es niemals Unterschiede geben. Nur wenn einer zwei Kinder hat und ein anderer 16, dann gibt es Verschiebungen und dann findet auch die natürliche Selektion statt."
Weil es keine so genannten Selektionsdrücke mehr gibt, verschiebt sich auch nicht die Häufigkeit genetischer Merkmale innerhalb einer Bevölkerung. Alle Individuen sind gleich gut an die Umweltbedingungen angepasst. Ist die Evolution des Menschen damit am Ende? Hat der Mensch Darwins Bühne verlassen? Vor kurzem sorgte Steve Jones für Schlagzeilen, als er genau dies behauptete.
"Wenn ich sage, dass Menschen nicht mehr der Evolution unterliegen, meine ich damit, dass es heute so gut wie keine natürliche Selektion mehr gibt."
Vor allem in Industriestaaten gibt es kaum noch Unterschiede in der Kinderzahl. Denn selten hat eine Familie mehr als drei Kinder. Kein Druck, keine Veränderung.
"Im Vergleich zu den Menschen vor 300 oder 400 Jahren ist die Schlagkraft der natürlichen Selektion um 80 Prozent gesunken. Das ist einfache Arithmetik. Man kann an einer Hand abzählen, dass dabei sämtliches Rohmaterial für diesen Darwin-Mechanismus verloren geht. Einfach ausgedrückt: Die natürliche Selektion des Menschen steht still."
Nicht jeder Experte teilt diese Meinung. Das komplexe Gleichgewicht evolutionärer Kräfte werde doch arg vereinfacht, sagen Kritiker. Natürlich ist sich auch Steve Jones dessen bewusst. Er räumt ein: Vielleicht ist der Stillstand auch nur vorübergehend. Neue Kräfte könnten die Evolution wieder in Fahrt bringen. Der Klimawandel etwa, Umweltgifte – oder Krankheiten. Gegen Malaria oder Aids zum Beispiel hat der Mensch mit all seiner Hightechmedizin noch kein Gegenmittel gefunden. Aussterben wird die Menschheit an solchen Krankheiten wohl kaum, aber sie wird sich anpassen müssen. Vielleicht steht der Mensch schneller wieder auf Darwins Bühne als ihm lieb ist. Jones:
"Wir können nicht in die Zukunft schauen, aber es gibt absehbare Tendenzen. So gibt es einige, wenige Menschen in Europa, die eine Gen-Variante tragen, die sie vor einer HIV-Infektion schützt. Wenn Sie mich fragen, was das für die natürliche Selektion und die Zukunft der Menschheit bedeutet, wenn die Medizin im Kampf gegen Aids bald keine Erfolge erzielen wird, ich sage ihnen: es wird die Hölle."
Hinweis: Den ersten Teil von "Beschleunigte Evolution" unter dem Titel "Wie die Domestikation die Tierwelt nachhaltig verändert" können Sie hier nachlesen.
Der Mensch unterliegt wie alle Lebewesen dem "Kampf ums Dasein". Er ist zwar weit davon entfernt, sich in neue Arten aufzuspalten – aber die Evolution schreitet voran. Doch wohin soll es gehen?
"Und da frage ich immer meine Studenten: Warum schrumpft unser Gehirn? Und da gibt es nur zwei Antworten: entweder wir werden immer dümmer oder unser Gehirn arbeitet immer effektiver."
"Hier untersuchen wir sozusagen die Wirkung von Duftstoffen auf Zellen."
Hanns Hatt führt durch seine Laborräume an der Ruhr-Universität Bochum. Nicht nur menschliche Zellen kommen hier unters Mikroskop, sondern auch die von Mäusen, Insekten und Fröschen. Hatt:
"Hier sind so Froscheier, und in jedes Ei wird dann ein Gen für einen bestimmten Rezeptor injiziert und das Ei stellt dann innerhalb von drei, vier Tagen das Protein her, in großen Mengen, und baut dann die Membran ein und dann kann man eben diese Froscheier messen, wie die auf – wenn es eben ein Riechrezeptor ist – auf Düfte reagieren."
Mithilfe der Frösche vermessen die Bochumer Physiologen die Grundlagen des Riechens. Diese sind bei allen Tieren gleich. Hatt:
"Also, man kann quasi dann die Froscheier als Tool benutzen, um über lange Zeit, oft viele Stunden, zehn Stunden lang, die Rezeptoren zu studieren, chemisch zu aktivieren und den Strom zu messen."
Das Riechen ist der älteste aller menschlichen Sinne. Im Institut für Zellphysiologie untersucht Hanns Hatt nicht nur wie das Riechen funktioniert, sondern auch, wie es sich seit den Anfängen der Menschheit verändert hat.
"Die Zahl der Riechrezeptoren ist natürlich im Vergleich zu den höchst entwickelten Säugetieren, also Mäuse, Ratten, Hunde und ähnliches, die etwa 1000 verschiedene Riechrezeptoren haben, beim Menschen mit 350 schon mal um Zweidrittel weniger geworden."
In den Genen lassen sich die verloren gegangenen Riechrezeptoren heute noch nachweisen. Aber wieso kam es zu diesem Verlust? Auch wenn Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren schlechter riechen, hilft ihnen die Nase noch immer beim Überleben. Und das nicht nur, weil die Nase ein effektiver Feuermelder ist, sagt Hanns Hatt.
"Natürlich brauchen wir das Riechen, um viele Gefahren zu erkennen. Wir müssen also erkennen, ob etwas zum Beispiel Essen verdorben ist, dass Fleisch verdorben ist, Gammelfleisch und ähnliches. Aber wir wissen inzwischen auch, dass das Riechen auf unsere Emotionen, auf unsere Entscheidungen, auf unsere Befindlichkeit und sogar auf unseren Hormonhaushalt Einfluss hat."
Wenn dieser Sinn weiter eine große Bedeutung für das Leben und Überleben des Homo sapiens hat, wieso wurden die Riechrezeptoren reduziert? Ein Blick zu den nächsten lebenden Verwandten – den Altweltaffen in Afrika – zeigt, dass sie die gleichen Verluste hinnehmen mussten. Der Vorgang muss also schon früh in der Evolution passiert sein. Hatt:
"Eine der Theorien ist, dass es einen Bruch gab zwischen den Neuweltaffen und den Altweltaffen, da haben nämlich die Altweltaffen ein drittes Farbpigment entwickelt, die haben also das trichromatische Farbensehen: rot, blau und grün."
Mit der Verbesserung des Drei-Farbensehens ging auch der Niedergang der Riechrezeptoren einher. Das dreidimensionale Sehen in Farbe half nicht nur bei der Orientierung hoch oben in den Bäumen, sondern auch bei der Suche nach reifen Früchten. Das Auge wurde besser. Dadurch konnte die Nase schlechter werden. Nur in den Hoden spielt der Geruchssinn nach wie vor eine wichtige Rolle. Hanns Hatt gelang es nachzuweisen, dass es Riechrezeptoren auch in Spermien gibt. Diese weisen ihnen den langen Weg durch den Eileiter zur Eizelle.
"Also fast 15 Prozent der Rezeptoren gibt es auch in Spermien und die werden nie verloren gehen. Denn wenn die verloren gehen, würde die Menschheit aussterben."
Heute erreicht nur noch ein Teil der Duftinformationen den Menschen, doch das muss kein Nachteil sein. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Prozesse im Gehirn verbessert haben. Es könnte also sein, dass der Verlust der Riechrezeptoren einfach die Folge einer effizienten Verarbeitung im Gehirn war. Der Körper verbraucht weniger Energie, die Kräfte werden frei für Neues.
Vor rund sieben Millionen Jahren hatten sich die ersten Menschen in Afrika erfolgreich von ihren äffischen Vorfahren getrennt. Im Laufe der Jahrmillionen nahm die Körpergröße zu. Sie lernten immer effektiver zu laufen und ihre Hände zu mehr als nur zum Klettern zu benutzen. Das Haarkleid verschwand, sie begannen Werkzeuge zu fertigen. Wer gut an die klimatischen Gegebenheiten angepasst war, fand schneller Nahrung, überlebte länger, konnte mehr Nachwuchs bekommen und seine gesammelten Erfahrungen an ihn weitergeben. Vor rund 100.000 Jahren schließlich tauchte Homo sapiens auf. Die Entwicklung des anatomisch modernen Menschen verlief alles andere als gleichmäßig, sagt Joachim Burger vom Institut für Anthropologie der Universität Mainz.
"Was vielleicht jetzt doch etwas überraschend ist, ist, mit welcher Geschwindigkeit sie eben doch voran gegangen ist in den letzten 20.000 bis 40.000 Jahren."
Mit dem Auszug aus Afrika gab es für unsere Vorfahren neue Herausforderungen, deren Lösungen sich schnell im Erbgut der Überlebenden manifestierten. Burger:
"Man kann da eigentlich nur plausibel spekulieren bislang, woran das liegt. Aber ich denke, dass wir einen guten Grund für die Beschleunigung in der Eroberung neuer Naturräume sehen können."
Der moderne Mensch verließ den afrikanischen Kontinent und ging dahin, wo er evolutionär gesehen gar nicht hingehörte. Die ungewohnten klimatischen Bedingungen in Asien und Europa übten einen gewaltigen Druck auf die Gründerpopulationen aus. Nur wenige Menschen konnten ihm standhalten. Viele starben früh, noch bevor sie eigene Kinder hatten. Wer überlebte, wanderte weiter und eroberte unbekanntes Land. Neue Populationen entstanden, Gruppen von Menschen, die nur einen Teil der ursprünglichen Menschheit repräsentierten. Rasend schnell entwickelten sie sich weiter, bis sie kaum noch Ähnlichkeiten mit ihren Urahnen hatten.
"Diese Gefahr wird sozusagen positiv umgesetzt und es können nur die Organismen überleben, die positiv darauf reagieren können und diese Organismen werden positiv selektioniert und so führt es dazu, dass aus heutiger Sicht eine beschleunigte Evolution stattgefunden hat."
Darwins Prinzip der natürlichen Selektion begünstigte die, die am besten an die widrigen klimatischen Bedingungen angepasst waren. Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich immer neue Facetten. Eine der offensichtlichsten: die Hellhäutigkeit. Auf dem Weg nach Norden wurde das Sonnenlicht immer schwächer. Doch der Mensch brauchte das Licht, um Vitamin D und stabile Knochen aufzubauen. Waren die dunklen Pigmente in der Nähe des Äquators noch von Vorteil, weil sie den Körper vor gefährlichem UV-Licht schützten, benachteiligten sie die Auswanderer in nördlicheren Gefilden. Heutige Europäer, Chinesen und Nordasiaten tragen Gene im Erbgut, die für eine helle Haut sorgen. Ihre Vorfahren jedoch waren allesamt schwarz.
Vor rund 7500 Jahren brachten erste Bauern eine Idee vom Nahen Osten nach Mitteleuropa, die das Leben gründlich umwälzen sollte. Jäger und Sammler wurden zu sesshaften Bauern, domestizierten Tiere und bestellten Felder. Dank der Nahrungsproduktion wuchs die Bevölkerung. Dorfgemeinschaften entstanden, Vorräte wurden gelagert und die Menschen konnten erstmals Hungerperioden und karge Winter überstehen. Auch die Kindersterblichkeit sank. Immer mehr Menschen erreichten das Erwachsenenalter und bekamen Kinder. Gleichzeitig entstanden neue Bedrohungen. Krankheiten breiteten sich aus und nicht alle Menschen waren gegen die Angriffe von Mikroorganismen und Seuchen gewappnet.
Immer mehr Menschen lebten in Europa, zunehmend auch in Siedlungen. Eine hohe Bevölkerungsdichte sollte eigentlich Spuren im Erbgut hinterlassen haben. Der Anthropologe John Hawks von der Universität von Wisconsin in Madison wollte diese These überprüfen. Er nahm sich die Daten des Internationalen HapMap Projekts vor, eine Art Sammelaktion für Varianten im menschlichen Erbgut. 3,9 Millionen so genannter Single Nucleotid Polymorphismen von 270 Menschen verglich John Hawks. Mit diesen "Snips" vermaß er die Geschwindigkeit der Evolution.
"Als wir uns das Zeitfenster ansahen, in dem viele Veränderungen stattfanden, bemerkten wir, dass sie vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren immer häufiger auftraten. Die größte Beschleunigung in der menschlichen Evolution aber gab es erst in den letzten 5000 bis 10.000 Jahren."
Mit der Besiedlung Europas hatte die Evolution des Menschen also tatsächlich Fahrt aufgenommen. Zu Beginn der Jungsteinzeit, mit der Entstehung erster größerer Siedlungen, beschleunigte sie noch einmal. Nach Hawks Berechnungen unterlagen sieben Prozent des menschlichen Erbguts in den vergangenen 10.000 Jahren einer schnellen Evolution.
"Zum einen sahen wir erstmals die Geschwindigkeit der Veränderungen. Diese hatte sich um den Faktor 100 beschleunigt, so etwas hat es vermutlich noch nie in der Evolution des Menschen gegeben. Es gab Veränderungen hinsichtlich der Resistenz gegenüber Krankheiten, Änderungen in der Hirngröße und Hirnentwicklung und in allen Bereichen, die mit den kulturellen Veränderungen der Menschheit einhergehen, die nach der Entstehung der bäuerlichen Gesellschaft aufkamen."
Alte Eigenschaften gingen verloren, neue Eigenschaften kamen hinzu. Einige brachten Vorteile und setzten sich durch, andere verloren sich wieder. Populationen wuchsen und ermöglichten eine riesige genetische Vielfalt. Diese brachte in kargen Zeiten oder bei Wanderungsbewegungen einigen wenigen Individuen darwinsche Fitnessvorteile. Dadurch erfuhren Populationen große Veränderungen. Im Erbgut lassen sie sich noch heute nachweisen. Hawks:
"Wir kennen heute einige tausend Gene und Varianten, die es erst seit wenigen tausend Jahren gibt. Der durchschnittliche Europäer etwa trägt 100 oder 200 dieser neuen Varianten in sich. Dank dieser beschleunigten Entwicklung sind wir unseren Vorfahren vor 5000 Jahren genetisch gesehen kaum noch ähnlich. Da gibt es einen großer Unterschied."
Vieles ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Anderes dagegen offensichtlich: etwa blaue Augen. Hawks:
"Die Mutation, die zu blauen Augen führte, entstand erst vor rund 10.000 Jahren. Heute haben in Nordeuropa fast 90 Prozent der Bevölkerung blaue Augen, obwohl man zwei Kopien des Gens benötigt. Normalerweise breitet sich eine genetische Eigenschaft nicht so schnell aus. Das ist also ein seltenes Beispiel für beschleunigte Evolution. Letztlich bleiben blaue Augen ein großes Mysterium, da sie keinen offensichtlichen Vorteil liefern."
Ein Erklärungsversuch für den Siegeszug der blauen Augen: Blauäugige Menschen sind attraktiver und werden von ihren Mitmenschen mehr gemocht als andere. So hatten etwa von den ersten sieben römischen Kaisern fünf blaue Augen, obwohl diese Augenfarbe in Italien weder damals noch heute häufig vorkommt. Ebenso verwunderlich: Immer mehr Menschen tragen eine Genvariante in ihrem Erbgut, die das Haar dicker macht. Einziger Erklärungsansatz auch hier: Menschen mit dicken Haaren werden in der Partnerwahl bevorzugt und haben so tendenziell mehr Nachwuchs. Mehr Nachwuchs und mehr Kinder, die das Erwachsenenalter erreichen konnten, hatten auch einige der ersten Bauern in Europa. Eine winzige Mutation verschaffte ihnen plötzlich einen gewaltigen Überlebensvorteil.
"Wir wissen nicht genau, warum es so ein riesiger Vorteil war, dass plötzlich einige Erwachsene in der Lage waren, Frischmilch zu verdauen. Wir wissen nur, dass diese Fähigkeit einer gewaltigen natürlichen Selektion unterlag, und sich binnen kurzer Zeit über ganz Europa ausbreitete. Wahrscheinlich ist die Milchzuckerverträglichkeit die Eigenschaft, die in den vergangenen 20.000 Jahren am stärksten bei den Europäern selektioniert wurde."
Bis vor wenigen tausend Jahren konnten nur Kinder den Milchzucker Laktose verdauen, sagt Mark Thomas vom University College London. Mit dem Heranwachsen verlor sich diese Fähigkeit. In vielen Ländern, etwa in Asien und Afrika, ist dies heute noch so. Dort bekommen Erwachsene Verdauungsstörungen, wenn sie Frischmilch trinken. Ihnen fehlt das Verdauungsenzym Laktase, das den Milchzucker aufspaltet. In Europa jedoch hat sich innerhalb der vergangenen 10.000 Jahre eine winzige genetische Veränderung manifestiert, die sich auszahlte: die Milchzuckerverträglichkeit im Erwachsenenalter. Thomas:
"Natürlich können wir über die möglichen Ursachen spekulieren, warum dieser Vorteil so gewaltig war. Einige Erklärungen liegen auf der Hand: Diese neue Nahrungsquelle enthält viel Calcium, Vitamin D, Proteine, Fette und so weiter. Die ersten Milchbauern müssen diese Eigenschaft entwickelt haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Es wäre wenig sinnvoll etwas in großem Stil zu produzieren, das nur Kinder vertragen können."
Frische Milch ist keimfrei. Ähnlich wie Stillkinder waren Frischmilchtrinker dadurch vor Erregern im Trinkwasser aus Flüssen, Bächen und Seen geschützt. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren. Bauern mit Rindern konnten ihr Land effektiver nutzen. Da es vor allem in Nordeuropa meist nur eine Getreideernte pro Saison gab, waren Vieh- und Milchwirtschaft ein weniger riskantes Unterfangen. Ackerbauern brachte eine Missernte dagegen schnell an den Rand der Existenz. Mark Thomas und seine Kollegen konnten mithilfe von Computersimulationen rekonstruieren, dass sich die Laktosetoleranz sehr schnell ausgebreitet haben muss. Ihren Ursprung vermuten sie im mittleren Osten und Südosteuropa.
"Irgendwann, als die Milch- und Viehwirtschaft ihren Siegeszug über Europa antrat, muss sich diese Fähigkeit spontan entwickelt haben. Binnen weniger Generationen, steigt die Häufigkeit unglaublich stark an und erreicht schnell die Verteilung, die wir heute in Europa und vor allem in Nordwesteuropa finden."
Aber nicht nur in Europa konnten Erwachsene Frischmilch verdauen. In Afrika hat sich die Milchzuckerverträglichkeit auch entwickelt – wenn auch etwas später und auf anderen genetischen Wegen. Dort benötigte das Erbgut vier genetische Veränderungen, drei mehr als bei den Milchtrinkern in Europa. Das Ergebnis war letztlich das gleiche.
England, Hinxton, ein kleiner Ort in der Nähe von Cambridge. Hier befindet sich das größte DNA-Sequenzierzentrum Europas.
"I am Chris Tyler-Smith. I am a Wellcome-Trust Senior Investigator at the Sanger-Institute."
Der Genetiker Chris Tyler-Smith steht im blauen Kittel in einem Maschinenraum mit 75 Sequenzierautomaten. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche und 52 Wochen im Jahr analysieren sie Erbgutstücke.
"Jede dieser Maschinen ist ein DNA-Sequenzierapparat. Wir befinden uns sozusagen im Herzen des Sanger-Instituts."
Zwei Mitarbeiter sorgen dafür, dass die kühlschrankgroßen Geräte permanent laufen. Einer von Ihnen ist Ingenieur Ian Guthrie.
"The DNA is prepared and passed to us in a plate which contains 394 samples."
Die DNA-Proben werden zunächst aufbereitet. Anschließend kommen sie durch dünne Röhrchen auf Kunststoffplatten, jede von ihnen bietet Platz für 394 Proben. Genau dort wird das Erbmaterial automatisch Buchstabe für Buchstabe abgelesen. Guthrie:
"Fairly simple in principle, but expensive to work correctly and sure."
Im Prinzip sei diese Methode einfach, sagt Guthrie - aber teuer, weil alles absolut korrekt und zuverlässig laufen muss. Chris Tyler-Smith interessiert sich für die Erbgutstücke, in denen sich eine Gesellschaft unterscheidet.
"In manchen Teilen der Erde kann man auf diese Weise die Ausbreitung von Krankheiten untersuchen, die an einigen Stellen mehr Erfolg haben als an anderen. Das geht dann sehr schnell vonstatten, es müssen nur manche Menschen mehr Kinder haben als andere. Das ist Evolution."
Heute sind 20 Gene bekannt, die eine Herzerkrankung verursachen können. Eines davon ist in Indien verbreitet und heißt MYBPC3. Chris Tyler-Smith untersuchte 1500 gesunde und herzkranke Inder und fand tatsächlich, dass das Gen bei den herzkranken Studienteilnehmern häufiger mutiert war als bei den gesunden. Doch wie konnte eine so schwere Erkrankung so erfolgreich werden?
"Wenn wir uns die Menschen vor rund 1000 Jahren anschauen könnten, würden wir eine andere Verteilung der Krankheit sehen."
Der Hochrechung zufolge ist die Mutation wahrscheinlich schon vor 30.000 Jahren aufgetreten. Da Menschen aber erst erkranken, wenn sie schon Kinder in die Welt gesetzt haben, konnte sich die Krankheit behaupten. Für Tyler-Smith ein gutes Beispiel dafür, wie Evolution funktioniert. Was einen Vorteil mit sich bringt, setzt sich durch. Darwin fand dafür den Begriff "survival of the fittest". Umgekehrt überleben aber auch Eigenschaften, wenn auf sie kein Selektionsdruck ausgeübt wird. Kurz: was nicht schadet und nichts kostet, bleibt. Dafür gibt es einige, zum Teil auch kuriose Beispiele, sagt der US-amerikanische Anthropologe John Hawks:
"Schauen sie sich mal das Steißbein an. Das braucht kein Mensch mehr. Warum ist es dann noch da? Aus evolutionsbiologischer Hinsicht müssen wir aber anders fragen: Wer stirbt, nur weil er ein Steißbein hat? Niemand, und deshalb wird es der Menschheit vermutlich erhalten bleiben."
Auch an Weichteilen kann man solche Rudimente entdecken. Beim Blinddarm etwa ist noch nicht einmal geklärt, welchen Nutzen er ursprünglich brachte – oder ob er vielleicht sogar heute noch eine Funktion hat. Hawks:
"Manche Leute gehen davon aus, dass der Blinddarm möglicherweise eine Art Repertoire für nützliche Bakterien ist. Dann wäre es natürlich ein Vorteil, noch einen Blinddarm zu haben. Vielleicht ist es aber auch ein Nachteil, weil Menschen an Blinddarmdurchbrüchen sterben, aber dafür gibt es heute Operationen. Dank dieser kulturellen Erfindung sterben Blinddarmträger nicht aus."
Der Mensch hat es zu einer der erfolgreichsten Spezies gebracht: noch nie gab es so viele Menschen auf der Erde, über sechs Milliarden und ein Ende des Wachstum ist noch nicht abzusehen. Noch nie waren die Menschen so groß, hatten unabhängig von der Jahreszeit so viel zu essen und halten sich auch in Gebieten auf, in denen sie ohne Thermokleidung, Sonnenbrillen, Sunblocker, Sauerstofflaschen, Flugzeugen, Nahrungsergänzungsmittel oder Insektenschutzmitteln nicht lange überleben könnten. Der Motor der Evolution ist die natürliche Selektion. So gibt es einige Beispiele, die zeigen, wie erfolgreich eine einzelne Person ganze Generationen genetisch prägen konnte, erklärt Steve Jones, Leiter der Abteilung Genetik des University College London.
"Der wohl erfolgreichste Mann in dieser Hinsicht, den ich bei meinen Recherchen gefunden habe, war Mulai Ismael, genannt der Grausame von Marokko. Er lebte im 16. Jahrhundert und war ein großer Imperator. Nach eigenen Angaben tötete er nicht nur 30.000 Menschen mit eigenen Händen, sondern er hatte dabei auch noch Zeit, 888 Kinder zu zeugen."
Mulai Ismael hinderte durch die Exekutionen nicht nur Zehntausende daran, selber Kinder in die Welt zu setzen, sondern er pflanzte sich auch äußerst erfolgreich fort. So erfolgreich, dass sich in den folgenden Generationen der Genpool der dortigen Bevölkerung merklich verschoben haben dürfte. Solche Beispiele einer starken Selektion seien zwar auch in der Vergangenheit selten gewesen, aber Faktoren wie eine hohe Säuglingssterblichkeit, Tod im Wochenbett oder Infektionen hinderten in den vergangenen Jahrhunderten regelmäßig viele Menschen daran, Kinder zu bekommen. Sie starben vorher. Jones:
"Bei meiner ersten Genetik-Vorlesung für neue Studenten sage ich ihnen immer: Schauen sie sich ihren Sitznachbarn rechts und links an. Zwei von Ihnen werden aufgrund ihrer genetischen Ausstattung sterben, vielleicht an Krebs, Diabetes, Herzerkrankungen ...also alles Krankheiten, die eine starke genetische Komponente haben. Aber dann sage ich: Kopf hoch. Wenn ich diese Vorlesung zu Shakespeares Zeiten gehalten hätte, im 16. Jahrhundert oder so, wären Sie vermutlich schon tot."
Die Zeiten haben sich geändert. Heute erreichen Menschen binnen kurzer Zeit jeden Winkel der Erde. Dadurch sei es nicht mehr möglich, dass sich eine Population lange isolieren kann, sagt Steve Jones. Auch gebe es in weiten Teilen der Welt kaum noch genetische Unterschiede innerhalb einer Population, die abhängig von der Anzahl der Nachkommen vererbt werden könnten.
"Wenn jeder 16 Kinder hat, kann es keine Unterschiede geben, da alles vorhandene Erbmaterial an die nächste Generation 1: 1 weitergegeben wird. Das gilt auch, wenn jeder zwei Kinder bekommt. So wird es niemals Unterschiede geben. Nur wenn einer zwei Kinder hat und ein anderer 16, dann gibt es Verschiebungen und dann findet auch die natürliche Selektion statt."
Weil es keine so genannten Selektionsdrücke mehr gibt, verschiebt sich auch nicht die Häufigkeit genetischer Merkmale innerhalb einer Bevölkerung. Alle Individuen sind gleich gut an die Umweltbedingungen angepasst. Ist die Evolution des Menschen damit am Ende? Hat der Mensch Darwins Bühne verlassen? Vor kurzem sorgte Steve Jones für Schlagzeilen, als er genau dies behauptete.
"Wenn ich sage, dass Menschen nicht mehr der Evolution unterliegen, meine ich damit, dass es heute so gut wie keine natürliche Selektion mehr gibt."
Vor allem in Industriestaaten gibt es kaum noch Unterschiede in der Kinderzahl. Denn selten hat eine Familie mehr als drei Kinder. Kein Druck, keine Veränderung.
"Im Vergleich zu den Menschen vor 300 oder 400 Jahren ist die Schlagkraft der natürlichen Selektion um 80 Prozent gesunken. Das ist einfache Arithmetik. Man kann an einer Hand abzählen, dass dabei sämtliches Rohmaterial für diesen Darwin-Mechanismus verloren geht. Einfach ausgedrückt: Die natürliche Selektion des Menschen steht still."
Nicht jeder Experte teilt diese Meinung. Das komplexe Gleichgewicht evolutionärer Kräfte werde doch arg vereinfacht, sagen Kritiker. Natürlich ist sich auch Steve Jones dessen bewusst. Er räumt ein: Vielleicht ist der Stillstand auch nur vorübergehend. Neue Kräfte könnten die Evolution wieder in Fahrt bringen. Der Klimawandel etwa, Umweltgifte – oder Krankheiten. Gegen Malaria oder Aids zum Beispiel hat der Mensch mit all seiner Hightechmedizin noch kein Gegenmittel gefunden. Aussterben wird die Menschheit an solchen Krankheiten wohl kaum, aber sie wird sich anpassen müssen. Vielleicht steht der Mensch schneller wieder auf Darwins Bühne als ihm lieb ist. Jones:
"Wir können nicht in die Zukunft schauen, aber es gibt absehbare Tendenzen. So gibt es einige, wenige Menschen in Europa, die eine Gen-Variante tragen, die sie vor einer HIV-Infektion schützt. Wenn Sie mich fragen, was das für die natürliche Selektion und die Zukunft der Menschheit bedeutet, wenn die Medizin im Kampf gegen Aids bald keine Erfolge erzielen wird, ich sage ihnen: es wird die Hölle."
Hinweis: Den ersten Teil von "Beschleunigte Evolution" unter dem Titel "Wie die Domestikation die Tierwelt nachhaltig verändert" können Sie hier nachlesen.