Die Spitzenrunde von Bund und Ländern hat am Dienstag (21.12.21) zur Eindämmung der Corona-Pandemie Verschärfungen der Corona-Maßnahmen beschlossen, die nach Weihnachten in Kraft treten sollen. Unter anderem dürfen dann Geimpfte und Genesene nur noch in Gruppen mit maximal zehn Personen zusammenkommen. Für Ungeimpfte gelten weiter noch strengere Kontaktbeschränkungen. Die Politik reagiert damit auf die zunehmende Ausbreitung der Omikron-Variante, die deutlich ansteckender ist als die bisher dominierende Delta-Variante.
Ob diese Beschlüsse ausreichen sei fraglich, sagte der Virologe Martin Stürmer im Deutschlandfunk. Die Beschlüsse seien jedenfalls nicht ausreichend um "vor die Welle zu kommen". Dafür seien die Maßnahmen nicht nur zu schwach, sie kämen auch zu spät. "Bei der Verdopplungsrate, die Omikron an den Tag legt, ist jeder Tag wichtig", sagte Stürmer. Die Politik hätte daher sofortige Einschränkungen beschließen sollen. Die Bund-Länder-Runde habe das Signal ausgesendet, dass man sich über Weihnachten noch entspannen und erst danach die Bremse anziehen müsse. "Das ist glaube ich das falsche Signal", sagte Stürmer.
Mehr zum Coronavirus:
Bei den Inzidenzzahlen sei die Auswirkung von Omikron noch nicht wirklich zu sehen, sagte Stürmer. Der Anteil der Variante am Infektionsgeschehen sei schließlich noch relativ klein – nehme aber bereits zu. Über die vergangenen zwei, drei Wochen habe es kaum Omikron-Fälle gegeben, aber "in den letzten Tagen habe ich immer pro Tag so um die drei bis fünf Prozent Anteil Omikron gesehen." Man müsse damit rechnen, dass es nicht Monate oder Wochen sondern eher Tage dauere, bis die Fallzahlen deutlich ansteigen.
Um die Ausbreitung neuer Virusvarianten rechtzeitig einschätzen zu können, brauche es auch flächendeckendere Analysen auf Virusvarianten von positiven Proben. Aktuell müssten bis zu zehn Prozent der Proben auf Varianten untersucht werden, das sei nicht ausreichend. Es brauche mehr Geld für frühzeitigere und vollständige Variantenanalysen.
Das Interview im Wortlaut:
Tobias Armbrüster: Herr Stürmer, die wichtigste Frage heute Morgen: Reichen diese Beschlüsse von gestern aus?
Martin Stürmer: Dahinter darf man mal ein Fragezeichen setzen. Vor allem, wenn ich den Anspruch der Politik mal nehme, wir müssen vor die Welle kommen, dann sind das Beschlüsse, die wieder nicht vor die Welle kommen, sondern nach der Welle entsprechend reagieren werden. Da hätte ich mir schon etwas mehr gewünscht, etwas stärkere Maßnahmen gewünscht und vor allem, auch wenn das jetzt vielleicht etwas banal klingt, früher, auch wenn es jetzt nur wenige Tage sind. Bei der Verdopplungsrate, die Omikron an den Tag legt, ist jeder Tag wichtig.
Stürmer: Sofortige Einschränkungen wären das beste gewesen
Armbrüster: Das heißt, Sie hätten sich Einschränkungen sofort, am besten schon heute gewünscht?
Stürmer: Ja, das wäre das beste gewesen. Ich weiß, dass das immer schwierig umzusetzen ist, aber Omikron ist auch nicht erst seit gestern eine Bedrohung auch für Deutschland, und insofern kann man der Politik durchaus den Vorwurf machen, jetzt hier mit der etwas verspäteten Bund-Länder-Konferenz ja schon auch wieder ein bisschen was verschlafen zu haben.
Armbrüster: Was für Einschränkungen würden Ihnen konkret vorschweben?
Stürmer: Es sind einige Maßnahmen umgesetzt worden. Die Großveranstaltungen jetzt abzusagen ist, denke ich, eher ein Symbolcharakter, weil wenn man im Kleinen verbietet, kann man nicht im Großen massiv stattfinden lassen. Im Privaten die Kontakte zu reduzieren, ist sicherlich eine wichtige Maßnahme, weil dort passiert sehr viel. Wir werden die Schwierigkeit haben, das in der Form kontrollieren zu können, aber es ist auf jeden Fall der richtige Weg. Ich hätte mir da noch ein bisschen mehr Konsequenz gewünscht, da noch mal deutlicher zu reduzieren.
Armbrüster: Geschäfte schließen – müsste das passieren?
Stürmer: Ja, natürlich müssen wir gucken, wo wir die Kontakte auf ein Minimum reduzieren. Wo sind die Risikokontakte? Ich denke, an der Arbeitsstelle haben wir immer noch das Problem, dass da viel passieren kann, und wir haben den privaten Sektor. Was, glaube ich, das Hauptproblem ist, ist das Kontrollieren dieser ganzen Maßnahmen. Wir haben ja schon einiges umgesetzt und die Maßnahmen haben auch eine gewisse Wirkung gezeigt. Sonst wären die Zahlen ja nicht weiterhin am Fallen. Aber es hängt meiner Meinung nach vor allem zum einen an einer fehlenden Verschärfung und zum anderen an einer fehlenden Kontrolle, und das ist, glaube ich, ein ganz großes Manko.
"Ich glaube nicht, dass wir das Signal der Entspannung aussenden können"
Armbrüster: Jetzt hat Olaf Scholz, der Bundeskanzler, gestern gesagt – ich versuche das mal so zusammenzufassen –, Kontaktbeschränkungen über Weihnachten seien gar nicht so zwingend nötig, weil die vergangenen Weihnachtstage vor einem Jahr und auch Ostern gezeigt hätten, dass solche Festtage nicht wesentlich zum Pandemie-Geschehen beitragen. Hat er da recht? Kann man das auch über dieses Weihnachten 2021 sagen?
Stürmer: Die Menschen sind durchaus vernünftig und gehen mit, wenn man ihnen sagt, haltet euch ein bisschen zurück. Jetzt ist es das nächste Weihnachten, wo wir sagen, bleibt bitte möglichst zuhause, trefft euch im kleinen Kreise. Irgendwann sind die Leute auch überdrüssig und Omikron ist ja noch mal ein anderer Spieler, der da auf das Feld kommt, der noch mal effektiver die Grenzen überschreiten kann und Menschen anstecken kann. Insofern weiß ich nicht, ob das der richtige Weg ist. Natürlich wollen wir alle wieder zur Normalität zurück. Wir wollen diese Feiertage genießen und mal zur Ruhe kommen. Aber ich glaube nicht, dass wir das Signal der Entspannung aussenden können, und ein bisschen habe ich das Gefühl, dass hier ein Signal vermittelt wird, über Weihnachten können wir uns noch entspannen, danach ziehen wir die Bremse an. Das ist, glaube ich, das falsche Signal.
Stürmer: Ambivalente Sicht auf Wielers Alleingang
Armbrüster: Herr Stürmer, Sie sind jetzt kein Politiker. Trotzdem: Ich nehme an, dass Sie die politische Debatte sehr ausführlich verfolgen. Haben Sie den Eindruck, dass es da innerhalb der Bundesregierung Kräfte gibt, die bei diesem Thema, bei Kontaktbeschränkungen auf die Bremse treten?
Stürmer: Ich glaube, grundsätzlich sehen wir durchaus ein Spannungsfeld, weil es ist auch völlig normal, dass hier verschiedenste Interessen aufeinanderprallen und ganz, ganz schwierig zu vereinen sind. Auf der einen Seite die Virologen, die wie ich jetzt die Kontakte so weit wie möglich reduzieren wollen; auf der anderen Seite Geschäftsleute, die sagen, ihr könnt uns das Weihnachtsgeschäft nicht noch mal kaputtmachen; und mittendrin wir alle, die irgendwie Normalität zurück haben wollen. Ich sehe das durchaus als Problem und nicht umsonst ist der RKI-Chef, Herr Wieler nach draußen gegangen, hat eigentlich, obwohl er im Expertenrat sitzt, der angeblich einstimmig das Ergebnis verkündet hat, jetzt doch für schärfere Maßnahmen gesprochen oder diese gefordert. Das spricht schon dafür, dass man da sich auch nicht wirklich einig ist.
Armbrüster: Können Sie das denn verstehen – wir hören das heute Morgen ja immer wieder –, dass Herr Wieler im Expertenrat diesen Vorschlägen zugestimmt hat, anschließend aber gestern kurz vor der Bund-Länder-Runde an die Öffentlichkeit gegangen ist und viel drastischere Maßnahmen gefordert hat?
Stürmer: Jein! Auf der einen Seite: Wenn einer der festen Meinung ist, das ist ganz wichtig, das zu fordern. Auf der anderen Seite: Wenn man in so einem Gremium sitzt, dann sollte man diese Diskussion im Gremium ausfechten, und wenn man sich später auf einen Beschluss einigt, dann sollte der auch einig nach draußen kommuniziert und mitgetragen werden. Das ist das, warum man eigentlich solche Expertenräte schafft, um die unterschiedlichsten Disziplinen zusammenzukriegen. Wenn man einen einheitlichen Beschluss oder einen Mehrheitsbeschluss gefasst hat, dann sollte man dazu stehen. Das ist eigentlich die Aufgabe eines solchen Gremiums, insofern da durchaus auch eine leise Kritik, dass das eigentlich kontraproduktiv ist.
Armbrüster: Das heißt, kontraproduktiv ist dieses Expertengremium, wenn es sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen muss?
Stürmer: Jein! Auch da wieder ein Jein! Ich finde schon, dass es sehr wichtig ist, dieses Gremium geschaffen zu haben, und dass dort auch sehr kluge Köpfe sitzen, die durchaus auch Konfliktpotenzial beinhalten, weil sie unterschiedlicher Meinung sein dürften. Aber das macht es ja gerade wichtig und richtig, dass man sich nicht unbedingt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen muss, sondern dass man diese ganze Problematik von verschiedensten Seiten betrachtet und durchdiskutiert. Das ist sicherlich passiert und die Einigung ist sicherlich wichtig und man sollte dazu stehen, wenn man in diesem Gremium sitzt.
Armbrüster: Herr Stürmer, lassen Sie uns kurz auf das Pandemie-Geschehen, wie es immer so schön heißt, schauen. Die Inzidenzen, hören wir auch heute Morgen wieder, gehen ja runter. Trotzdem diese Empfehlung jetzt auch heute Morgen von Ihnen – wir hören das auch von vielen anderen Seiten -, Empfehlung für eigentlich mehr Kontaktbeschränkungen und härtere Maßnahmen. Wie passt das denn eigentlich zusammen?
Stürmer: Das ist im Prinzip wie mit der Alpha-Welle, was wir damals gesehen haben. Da waren wir in der gleichen Situation. Die Zahlen gingen nach unten, aber wir haben überall in den Laboren gesehen, dass die Alpha-Variante anteilig zunimmt und aufgrund ihrer Dynamik über kurz oder lang die Zahlen wieder ins Gegenteil verkehrt. Genau das Gleiche passiert jetzt mit Omikron. Wir sehen auch bei uns im Labor eine deutliche Zunahme der Omikron-Fälle, was wir lange nicht gesehen haben, weil Delta die mit 100 Prozent Anteil dominierende Variante war, und das ändert sich jetzt gerade. Da können wir nicht früh genug den Riegel vorschieben und das sieht man jetzt in den Zahlen nicht, weil durch die Maßnahmen Delta reduziert wird, aber Omikron nicht, und das ist das Problem.
Stürmer: Mehr Variantenanalyse notwendig
Armbrüster: Können Sie denn schon sagen, wie schnell sich Omikron gerade bei uns ausbreitet?
Stürmer: Wir haben lange Zeit über zwei, drei Wochen immer nur einen Kleckerfall gesehen und jetzt in den letzten Tagen habe ich immer pro Tag so um die drei bis fünf Prozent Anteil Omikron gesehen. Insofern ist schon damit zu rechnen, dass es nicht Monate, nicht Wochen dauert. Es kann innerhalb der nächsten Tage plötzlich eine deutliche Zunahme der Fälle geben, vor allem, weil wir ja auch nicht flächendeckend in Deutschland Sequenzanalysen und Variantenanalysen betreiben.
Armbrüster: Können Sie uns erklären, warum ist das so? Warum werden bei uns so wenige positive Corona-Tests genauer auf die Varianten untersucht?
Stürmer: Auf die Varianten wird noch relativ viel untersucht. Das Problem ist, dass viele Variantenanalysen nicht hochauflösend sind und nicht genau zu 100 Prozent sicher sagen können, dass das Omikron ist. Warum jetzt nicht in allen Laboren flächendeckend so viel gemacht wird und wir unsere Vorgaben nicht einhalten, das kann ich Ihnen leider nicht sagen. In unserem Bereich machen das auf jeden Fall, weil wir das auch als wichtig empfinden, aber die Vorgaben waren, insgesamt zwischen fünf und zehn Prozent aller positiven Fälle müssen sequenziert werden. Das war besser als gar nichts, aber da sind wir im Vergleich zu anderen etwas rückständig und wahrscheinlich hat man gedacht, das reicht, und man muss das Geld in die Hand nehmen, weil es kostet schon ein paar Euro, wenn wir jede Probe sequenzieren müssen.
Armbrüster: Aber ich verstehe Sie richtig, Sie würden das fordern, dass so etwas mehr geschieht und dass in diese Sequenzierung auch mehr Geld gesteckt wird?
Stürmer: Ja, oder in eine vernünftige Variantenanalyse, die relativ schnell hochauflösende Ergebnisse liefert. Das wäre schneller und vielleicht kostengünstiger. Man muss da auch durchaus wieder mal ein bisschen anschieben und sagen, was haben wir denn für Möglichkeiten, um schneller ein Frühwarnsystem zu etablieren, um solche Varianten zu entdecken. Da gibt es zum Beispiel, habe ich gestern erfahren, oder wir wissen ja schon länger, dass wir im Abwasser sehr gut Corona nachweisen können, und da hat man zum Beispiel in München ja auch Omikron im Abwasser nachgewiesen. Man kann sich überlegen, solche Frühwarnsysteme zu etablieren, oder auch mehr Geld zu investieren in eine frühzeitige und voll umfänglichere Sequenz- oder Variantenanalyse der positiven Proben.
"Ich hoffe, dass wir das auch ohne eine Impfpflicht hinbekommen"
Armbrüster: Wird uns langfristig nur eine Impfpflicht aus dieser Pandemie rausbringen?
Stürmer: Das ist auch eine der sehr spannenden Fragen, die Sie stellen – berechtigterweise natürlich. Jein! Auch hier bin ich ein bisschen unentschieden. Auf der einen Seite brauchen wir etwas, was uns aus diesem Hamsterrad rausbringt, zwischen Lockerung und wieder Lockdown. Das kann ja auf ewig nicht so weitergehen und da die Impfbereitschaft in der Bevölkerung bis dato noch nicht ausreichend ist, ist es durchaus möglich, dass wir damit es möglich machen, dass wir da rauskommen.
Mehr zur Impfkampagne gegen Corona:
Auf der anderen Seite sind wir mit dem Impfen ja noch nicht weit genug. Wir haben die erste Generation an Impfstoffen, das erste Impfschema. Wir wissen noch nicht genau, wie lang jetzt der Booster überhaupt hält. Wir reden ja im Augenblick von einem Drei-Monats-Abstand. Wir wissen nicht, wie lang wir danach warten müssen. Wir haben noch keinen Omikron-angepassten Impfstoff. Das sind so viele Fragezeichen, die noch offen sind. Und ganz ehrlich: Wenn wir allen Menschen den Impfstoff anbieten können in unserem Land, was wahrscheinlich nächstes Jahr der Fall sein wird, insgesamt auch bis zum Kleinstkind, dann, bin ich der Meinung, ist es gerechtfertigt, insgesamt zur Normalität zurückzukehren und auch akzeptieren zu müssen, wie bei vielen anderen Infektionserkrankungen auch, dass es einen Teil der Gesellschaft gibt, der sich nicht impfen lässt. Das haben wir bis dato auch mit der Influenza zum Beispiel sehr gut geschafft und ich hoffe, dass wir das auch ohne eine Impfpflicht im nächsten Jahr mit SARS-COV-2 hinbekommen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.