ARD, ZDF und Deutschlandradio
Jahresbilanz: 708 Beschwerden an die Rundfunkräte

Die Rundfunkräte sollen das Programm der öffentlich-rechtlichen Sender kontrollieren und über Beschwerden entscheiden. Doch nur äußerst selten rügen sie die Anstalten für Verstöße. Deutschlandfunk-Recherchen zeigen: Das hat System.

Von Stefan Fries |
Richard David Precht und Markus Lanz sitzen sich an einem Tisch vor ihren Mikrofonen gegenüber
Richard David Precht und Markus Lanz, seit 2021 in einem Podcast fürs ZDF im Gespräch - und damit 2023 Anlass für zahlreiche Programmbeschwerden (ZDF und Christian Bruch / Christian Bruch)
Die Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist groß. Trotz eines insgesamt nach wie vor großen Vertrauens in die Sender und hoher Einschaltquoten sehen sich die Anstalten immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, fehlerhaft und unausgewogen zu berichten. Wer unzufrieden ist, kann sich beschweren. Zuständig sind die Rundfunkräte der Sender, die mit Vertretern der Gesellschaft besetzt sind. Diese sollen unabhängig entscheiden, ob die Beschwerde berechtigt ist.
Bei den Rundfunkräten der ARD-Sender, des ZDF und des Deutschlandradios sind im vergangenen Jahr insgesamt 708 Programmbeschwerden eingegangen, wie sie dem Deutschlandfunk auf Anfrage mitteilten. Sie gaben fünf Beschwerden zu zwei Sendungen statt. Drei der Beschwerden betrafen als menschenverachtend eingestufte Formulierungen eines SWR-Korrespondenten, zwei eine satirische Darstellung im ZDF Magazin Royale.
Weil nicht alle Rundfunkräte und Sender über Programmbeschwerden Auskunft geben, ist die Datenlage lückenhaft. Soweit feststellbar, gab es die meisten Beschwerden im Jahr 2023 zum ZDF-Podcast „Lanz & Precht“, in dem die beiden Gesprächspartner antisemitische Stereotype verbreitet hatten. Auf den Plätzen 2 und 3 folgten Angebote der Tagesschau-Redaktion und mehrere Ausgaben des ZDF-Magazin Royale.

Wo gab es die meisten Beschwerden?

Der Deutschlandfunk hat erstmals die Zahlen aller elf Sender erhoben und zusammengestellt. Gezählt wurden nur formelle Programmbeschwerden, die von den Rundfunkräten so eingestuft wurden, und nicht die täglich tausenden Rückmeldungen, die die Sender per Mail oder über soziale Netzwerke erreichen.
Mit einer Programmbeschwerde befasst sich der Rundfunkrat, wenn darin beklagt wird, dass Programmgrundsätze verletzt wurden - in Sendungen oder Beiträgen, egal ob im Radio, Fernsehen oder Online. Programmgrundsätze sind beispielsweise die Achtung der Menschenwürde, Objektivität und Unparteilichkeit sowie die Trennung von Nachricht und Kommentar. Einige Räte bestehen darauf, dass sich die Beschwerdeführer ausdrücklich auf diese Grundsätze berufen, anderen reicht es, wenn sie sich sinngemäß darauf beziehen.
Insgesamt zählten die Rundfunkräte der neun ARD-Anstalten, des ZDF und des Deutschlandradios im vergangenen Jahr 708 förmliche Programmbeschwerden. Die meisten gingen beim Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks ein, die wenigsten bei denen von Radio Bremen und des Saarländischen Rundfunks. Warum der BR so weit vorne steht, ließ sich nicht abschließend klären; der Grund liegt vermutlich in den Unterschieden, was die Rundfunkräte als Programmbeschwerde anerkennen und damit zählen.

Welche Beschwerden haben die Rundfunkräte stattgegeben?

Die Beschwerdeverfahren der Sender führen dazu, dass nur ein Teil der eingereichten Programmbeschwerden in den Rundfunkräten selbst behandelt wird. Im Jahr 2023 waren es 98, die in den zuständigen Ausschüssen oder im Plenum der Rundfunkräte besprochen wurden.
Das Beschwerdesystem ist überall so ausgestaltet, dass die Gremien selbst zwar Anlaufstelle für Beschwerden sind, aber erst spät selbst darüber entscheiden. Denn zunächst haben die Sender selbst über die Intendantinnen und Intendanten oder die Programmdirektoren die Möglichkeit, auf die Kritik zu reagieren. Diese räumen in einem Teil der Fälle bereits Fehler ein, geben den Beschwerden zumindest teilweise statt oder erläutern Hintergründe der Berichterstattung, um mögliche Missverständnisse auszuräumen.
Fünf der 98 beratenen Beschwerden haben die Räte stattgegeben. Sie bezogen sich auf zwei Beiträge.
Die drei Beschwerden, denen der SWR-Rundfunkrat stattgab, betrafen den Beitrag eines SWR-Korrespondenten. Dieser hatte in einem Kommentar zur Übernahme von Twitter durch den US-Milliardär Elon Musk geschrieben: „Auf seinem ‚Marktplatz‘ sollen offenbar auch rassistische und verschwörerische Ratten aus ihren Löchern kriechen dürfen. Twitter kann nur relevant bleiben, wenn genau diese Ratten – um im Marktplatzbild zu bleiben – in ihre Löcher zurückgeprügelt werden.“
Der zuständige Programmausschuss des SWR-Rundfunkrats fand das Bild der „Ratten“ nicht hinnehmbar und nannte es einen kompletten Fehlgriff. Ein Vergleich von Menschen mit Ungeziefer sei nicht hinnehmbar und eine klare Grenzüberschreitung. Die zuständigen Redaktionen räumten Fehler ein, der Korrespondent sei einsichtig gewesen und bedaure den Vorfall ausdrücklich.
Der Kommentar wurde auf tagesschau.de, wo er unter anderem erschien, überarbeitet und mit dem Hinweis auf die Korrektur versehen: „Die Passage wurde geändert. Wir bitten um Entschuldigung für die Wortwahl. Es war nie das Ziel, jemanden zu entmenschlichen.“ Der Programmausschuss sprach sich für eine gezieltere Schulung aus; Journalisten sollten sich nicht von der Sprachwahl auf Social-Media-Plattformen und der allgemeinen Arbeitsverdichtung unter Druck setzen lassen.
Die beiden Beschwerden, denen der ZDF-Fernsehrat stattgab, betrafen eine Ausgabe des „ZDF Magazin Royale“ mit Jan Böhmermann. Darin thematisierte die Redaktion sogenannte rituelle Gewalt. Dabei ging es um die Frage, ob es sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bei Ritualen etwa satanistischer Kulte tatsächlich gibt oder ob eine einzelne Psychotherapeutin dies nur aus Eigeninteresse behauptet.
In zwei Beschwerden war unter anderem der Vorwurf erhoben worden, die Sendung sei zu wenig differenziert, habe eine „verhetzende Wirkung“ und betreibe „gezielte Stimmungsmache gegen alle Betroffenen sexualisierter Gewalt“. Beschwert hatte sich unter anderem die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die Ausmaß, Art und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland und der DDR untersucht.
Jan Böhmermann, Moderator, steht im Anschluss an seine Late-Night-Show «ZDF Magazin Royal» vor seinem Orchester, dem Rundfunk Tanzorchester Ehrenfeld. Jan Böhmermann bezeichnet sich selbst als Theater-Kind - nun soll ihn die ganze Republik auf der Bühne sehen können. Der Satiriker verlässt sein Fernsehstudio und geht auf Musik-Tour. (zu dpa-Interview «Böhmermann geht auf Tour: «Uns fällt die Studiodecke auf den Kopf»)
ZDF-Moderator Jan Böhmermann, hier auf einem Archivbild aus 2021 - 2023 Auslöser einer umstrittenen Entscheidung über eine Beschwerde (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
Die Entscheidung ist bemerkenswert, weil der zuständige „Programmausschuss Programmdirektion“ des ZDF-Fernsehrats die Beschwerde inhaltlich geprüft und dem Fernsehratsplenum empfohlen hatte, sie abzulehnen. Normalerweise folgt der Fernsehrat dieser Empfehlung. Diesmal sah er die Sache jedoch anders, lehnte den Vorschlag ab und gab der Beschwerde statt. Das ZDF nahm die Sendung daraufhin von allen seinen Plattformen.

Über welche Sendungen gab es die meisten Beschwerden?

Das ist schwer zu sagen. Denn einige Rundfunkräte und Sender geben gar keine Auskunft darüber, worüber sich das Publikum beschwert hat, andere geben nur wenige Informationen. Nur ein paar informieren sehr umfangreich.
Bei BR, Deutschlandradio, HR und SR geben die Räte nur in Einzelfällen Auskunft. Der ZDF-Fernsehrat listet zwar quartalsweise auf, gegen welche Sendungen es Beschwerden gab, nennt aber nur selten Details. Bei NDR, Radio Bremen, rbb, SWR und WDR allerdings geben entweder die Sender selbst oder deren Rundfunkräte in Berichten oder Sitzungsprotokollen mehr oder weniger detailliert Auskunft.
Für den MDR-Rundfunkrat gilt diese Pflicht erst seit dem 1. April 2024. Beim rbb muss Intendantin Ulrike Demmer erst seit diesem Jahr halbjährlich einen Bericht über die von ihr beantworteten Programmbeschwerden vorlegen, sofern diese nicht anschließend vom Rundfunkrat behandelt wurden.
Wegen der lückenhaften Informationen lässt sich keine vollständige Liste erstellen. Schaut man auf das, was man weiß, gab es die meisten Beschwerden im vergangenen Jahr gegen eine Ausgabe des ZDF-Podcasts „Lanz & Precht“, in der Moderator Markus Lanz und der Germanist Richard David Precht antisemitische Stereotype verbreitet hatten. Dagegen gingen nach Angaben des ZDF-Fernsehrats insgesamt 26 Beschwerden ein.
Als Reaktion korrigierte das ZDF die Podcast-Ausgabe, und Intendant Norbert Himmler schickte ein Entschuldigungsschreiben an die Beschwerdeführer, welches das ZDF zudem veröffentlichte. Darin schreibt Himmler offen, dass seinem Sender im Podcast ein Fehler unterlaufen sei: „Da gibt es nichts zu beschönigen." Die Kritik sei nicht nur berechtigt, sondern auch angekommen.
Norbert Himmler, Intendant des ZDF, während der Medientage München
ZDF-Intendant Norbert Himmler 2023 zur Programmbeschwerde gegen "Lanz & Precht": "Da gibt es nichts zu beschönigen" (picture alliance / epd-bild / Theo Klein)
Auf Platz 2 folgten Angebote der Tagesschau-Redaktion. Offiziell trägt diese den Namen „ARD aktuell“ und ist beim Norddeutschen Rundfunk angesiedelt. Sie bespielt viele verschiedene Formate: neben den Tagesschau-Ausgaben auch die Tagesthemen, Podcasts wie „11KM“ und „mal angenommen“, soziale Netzwerke wie Tiktok und Instagram sowie die Webseite tagesschau.de. Der hohe Programmanteil und die ohnehin hohe Reichweite der Marke Tagesschau erklären auch einen Spitzenplatz bei den Beschwerden.
Allerdings ist der NDR nicht für alle Produkte unter dem Namen „Tagesschau“ verantwortlich. Denn alle ARD-Anstalten und auch das Deutschlandradio liefern zu. Entweder, weil sie über Ereignisse in ihren Bundesländern berichten (zum Beispiel der SWR über ein Thema aus Stuttgart) oder sie bei Auslandsthemen für das entsprechende ARD-Studio federführend sind (zum Beispiel der WDR für das Studio Moskau). Für Beschwerden ist dann immer der Rundfunkrat der produzierenden Anstalt zuständig, sie landen also nicht nur beim NDR-Rundfunkrat, sondern auch zum Beispiel bei dem des RBB, des SWR und des WDR. Die Rundfunkräte zählten insgesamt 23 Beschwerden zu Tagesschau-Angeboten.
Geht eine Beschwerde beim NDR-Rundfunkrat ein, weil der Beitrag zwar vom NDR gesendet, aber nicht von ihm produziert wurde, leitet dieser die Beschwerde an den zuständigen Rat weiter. So wurden beispielsweise die stattgegebenen Beschwerden zum Kommentar über Elon Musk von zwei Rundfunkräten behandelt: dem des NDR, weil der Kommentar auf tagesschau.de veröffentlicht wurde, und dem des SWR, weil der Autor ein SWR-Korrespondent war.
Solche Fälle führen zu Doppelzählungen in der Statistik, die nach Auskunft des BR von den Rundfunkräten nicht korrigiert werden. Die Gesamtzahl der Beschwerden liegt daher möglicherweise niedriger als 708.
Nach der Tagesschau folgt auf Platz 3 mit 19 Beschwerden das „ZDF-Magazin Royale“ mit Jan Böhmermann. Davon bezogen sich elf Beschwerden auf die Folge über rituelle Gewalt, von denen zwei stattgegeben und die Folge entfernt wurde. In fünf Beschwerden ging es um die Sendung über angeblich und problematische Russlandkontakte des damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, der daraufhin abberufen wurde. Diese war zwar bereits im Oktober 2022 ausgestrahlt worden, stand aber weiterhin in der ZDF-Mediathek und auf YouTube zur Verfügung und wurde ein Jahr später erneut zum Thema, nachdem Schönbohm das Bundesinnenministerium verklagt hatte und dies zum Thema in Bundestagsausschüssen wurde.
Alle anderen Beschwerden gegen Sendungen und Beiträge in den Anstalten bewegten sich im einstelligen Bereich.

Sind denn nicht eigentlich mehr Beschwerden berechtigt als nur die sechs?

Durchaus. Denn die Rundfunkräte kommen bei Beschwerden erst ganz am Schluss ins Spiel, auch wenn sie sie zunächst entgegennehmen. Denn erst mal leiten sie sie an die Intendanz oder die zuständige Programmdirektion weiter – also an die Programmmacher, die als Erstes darauf antworten dürfen. Und diese lassen es meistens gar nicht erst zu einer Entscheidung des Rundfunkrats kommen, zum Beispiel weil sie den Zuschauern und Hörerinnen direkt Recht geben oder begründen, warum sie die Sache anders sehen – oft so überzeugend, dass die Beschwerdeführer mit der Antwort zufrieden sind und keinen Widerspruch einlegen. Damit endet dann das Verfahren.
Wie oft aber die Programmmacher Beschwerden berechtigt finden, lässt sich nicht genau feststellen. Viele Sender machen dazu keine Angaben oder verweisen lediglich auf veröffentlichte Berichte und Protokolle, aus denen sich allerdings keine eindeutigen Zahlen herausdestillieren lassen.
Aus den Daten, die vorliegen, kann man aber sehen, dass die Intendantinnen und Intendanten einem kleinen Teil der Beschwerden durchaus zustimmen; bei einigen Sendern ist es jede fünfte. Andere Beschwerden weisen sie zwar formal zurück, machen aber Zugeständnisse und räumen missverständliche Darstellungen oder Formulierungen ein. Rechnet man diese Fälle hinzu, ist sogar jede dritte Beschwerde zumindest teilweise berechtigt.
Ulrike Demmer (li.) und Heide Baumann am 16.05.2023 in der Sitzung des RBB-Rundfunkrats in Potsdam
In den medialen Fokus rücken Rundfunkräte regelmäßig bei Intendantenwahlen, so wie hier 2023 beim RBB - bei Beschwerden kommen sie erst ganz am Schluss ins Spiel (picture alliance / epd-bild / Christian Ditsch)
Beispiel WDR: Laut seinen Quartalsberichten, die im Internet veröffentlicht werden, hat Intendant Tom Buhrow im Jahr 2023 24 Beschwerden zurückgewiesen. In sieben weiteren Fällen wies er die Beschwerden zwar auch formal zurück, kam den Beschwerdeführern aber entgegen. So räumte Buhrow zum Beispiel ein, dass ein Beitrag über einen Tag der offenen Tür in einem Bordell in Hagen nicht den WDR-Standards entsprochen habe; als Reaktion habe die Redaktion ein Hintergrundgespräch mit Experten zum Thema „Prostitution in Deutschland“ geführt.
In zwei Fällen gab Buhrow den Beschwerden statt. So schloss er sich der Kritik an, dass in Fernsehbeiträgen eine freie Mitarbeiterin des WDR als Supermarktkundin interviewt wurde, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde. Hier sah er das Gebot der journalistischen Sorgfalt verletzt. Ein besonders prominenter Fall, weil er noch vor einer offiziellen Programmbeschwerde von anderen Medien aufgegriffen wurde. Daraufhin korrigierte der WDR bereits die Berichte, und der zuständige Chefredakteur Stefan Brandenburg äußerte sich öffentlich dazu.
Beim Deutschlandradio stimmte Intendant Stefan Raue insgesamt elf Beschwerden zu. Allein zehn bezogen sich darauf, dass sich in der Deutschlandfunk-Sendung „Kontrovers“ ein Hörer in einer O-Ton-Collage in Gewaltfantasien gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskjy erging, wie es der Sender in seinem jährlichen Bericht über Lob und Kritik nennt.
Der ZDF-Fernsehrat verweist auf die Beschwerdeberichte der Vorsitzenden Marlehn Thieme. Demnach gab ZDF-Intendant Norbert Himmler im Jahr 2023 in mindestens fünf Fällen Beschwerden statt, einer der Fälle betraf die antisemtischen Äußerungen im Podcast „Lanz & Precht“.
Beim Mitteldeutschen Rundfunk gaben Intendantin Karola Wille und Ralf Ludwig, der ihr 2023 im Amt folgte, laut MDR mindestens zehn der eingegangenen Programmbeschwerden vollständig und weiteren acht teilweise statt. 42 wiesen sie zurück, zwölf davon wurden anschließend vom Rundfunkrat behandelt.
Für Radio Bremen schreibt der Rundfunkrat, Intendantin Yvette Gerner habe keiner Programmbeschwerde abgeholfen. Der NDR-Rundfunkrat führt keine entsprechende Statistik, geht aber davon aus, dass der überwiegende Teil der Beschwerden beim Intendanten keinen Erfolg hatte.
Die rudimentären Zahlen zeigen: Wenn Intendant oder Intendantin einer Programmbeschwerde stattgeben, wird dies statistisch nicht erfasst. Es bleibt also unklar, wie viele Beschwerden tatsächlich berechtigt waren. Eine Schätzung des Deutschlandfunks auf dieser lückenhaften Grundlage ergibt, dass Intendantinnen und Intendanten im Jahr 2023 im Durchschnitt zwischen zehn und 15 Prozent der Beschwerden stattgaben. Nimmt man die Rundfunkräte hinzu, so können schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der Programmbeschwerden als anerkannt gelten.

Worüber beschweren sich die Kritiker im Einzelnen?

Keine der vom Deutschlandfunk untersuchten Programmbeschwerden wurde im Original veröffentlicht. Was genau die Kritiker bemängelten, lässt sich daher nur spiegelbildlich über die Sender und die Rundfunkräte überprüfen, die über die Beschwerden nur indirekt berichten und selten daraus zitieren. Auffällig ist, dass die Programmverantwortlichen in ihren Antworten immer wieder die Funktionsweise von Medien erklären: etwa, dass ein Kommentar nicht alle Seiten berücksichtigen müsse oder dass Äußerungen von Interviewpartnern nicht dem Sender zuzurechnen seien. Sie berichten, dass etwas kritisiert wird, was gar nicht Thema des Beitrags war. Häufig gibt es Streit darüber, was mit bestimmten Begriffen gemeint ist. Und immer wieder finden Beschwerdeführer ihre eigene Meinung nicht wieder.
Einige Kritikpunkte lassen sich relativ leicht ausräumen. Wird etwa der Vorwurf mangelnder Ausgewogenheit erhoben, können die Sender darauf verweisen, dass Ausgewogenheit nicht unbedingt innerhalb eines Beitrags oder einer Sendung hergestellt werden muss, sondern im gesamten Programm.
Viele Beschwerden sind im Hinblick auf diesen Vorwurf, aber auch auf andere Fragen, oft zu vage formuliert, um beantwortet werden zu können. Der Vorsitzende des BR-Rundfunkrats, Godehard Ruppert, sagte bei der Vorstellung seines Jahresberichts in öffentlicher Sitzung Anfang Mai, es gebe auch Mails, die an einen unspezifischen Massenverteiler gerichtet seien oder weitreichende Pauschalkritik enthielten. Viele Rundfunkräte beantworten Beschwerden nicht, in denen beleidigt oder gedroht wird.
Godehard Ruppert vor einem BR-Logo
Godehard Ruppert, seit 2022 Vorsitzender des Rundfunkrats des Bayerischen Rundfunks (BR): Massenverteiler und Pauschalkritik (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
Zweifellos wird das System der Programmbeschwerde auch missbraucht. Der Deutschlandfunk konnte einige Beschwerden im Wortlaut einsehen, deren Absender ihre Kritik mit großer Überzeugung, aber schwer nachvollziehbaren Argumenten vortrugen und vom Rundfunkrat nur eine Bestätigung dafür suchten. Einige beharrten auch nach Ablehnung ohne neue Argumente auf einer erneuten Entscheidung des Rundfunkrates.
Einzelne Mitglieder von Rundfunkräten berichten darüber, dass es teilweise immer wieder dieselben seien, die sich beschweren. Daher sei es gut, dass nicht alle Beschwerde von den ehrenamtlichen Mitgliedern des Rundfunkrates behandelt würden, andernfalls könnte ihre Arbeit durch gezielte Kampagnen lahmgelegt werden, etwa indem möglichst viele Beschwerden eingereicht würden.
Die Zahlen zeigen aber auch, dass selbst Dauerbeschwerer immer wieder Recht bekommen. So hat im vergangenen Jahr ein einzelner Nutzer des Mitteldeutschen Rundfunks insgesamt 18 Programmbeschwerden zu verschiedenen Sendungen eingereicht. Sieben davon waren nach Ansicht der Intendanz berechtigt.
Dennoch werfen einige Entscheidungen der Intendanten und Rundfunkräte Fragen auf, auch ohne Programmbeschwerde und Stellungnahmen der Redaktion im Wortlaut zu kennen. Allein die Protokolle und Berichte zeigen, dass als Reaktion auf viele Beschwerden durchaus Fehler oder ungenaue Darstellungen und Formulierungen eingeräumt werden, auch wenn sie trotzdem zurückgewiesen werden. Denn einen Verstoß gegen Programmgrundsätze wollten Intendant und Rundfunkrat darin oft nicht erkennen.

Warum verfolgen viele ihre Beschwerde nicht bis zu einer Entscheidung des Rundfunkrats?

Dafür braucht es einen langen Atem. Allerdings sind die meisten offenbar auch mit einer Antwort des Intendanten oder der Intendantin zufrieden, weil sie sich nicht oder nicht rechtzeitig noch mal melden. Und das müssten sie, wenn sie wollen, dass sich der Rundfunkrat mit der Beschwerde beschäftigt.
Viele empfingen die Antwort selbst offenbar bereits als Wertschätzung ihrer Kritik. Zumal die Intendanten gelegentlich auch Änderungen anbieten oder Zugeständnisse machen. Dies ist zwar nicht für bereits ausgestrahlte Radio- und Fernsehsendungen möglich, wohl aber für deren Online-Versionen. So korrigieren die Sender nach Beschwerden immer wieder Fehler oder gehen auf andere Kritikpunkte ein, so dass der Gegenstand der Kritik entfällt.
Einige Sender informieren über Korrekturen auf eigenen Seiten im Internet, so z.B. das ZDF. In einigen Fällen finden sich dort sogar Informationen über den Inhalt von Programmbeschwerden, die der ZDF-Fernsehrat nicht gibt. So heißt es in dessen Bericht über eine Beschwerde gegen eine Dokumentation über den Schriftsteller Martin Walser, dass dieser abgeholfen worden sei. Zum Inhalt steht dort nichts. Auf der Korrekturseite des ZDF heißt es dagegen zum Konflikt Walsers mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: „In der ursprünglichen Fassung dieses Lebensbildes tauchte eine Abbildung der Hartgummi-Bücherstütze ‚Nörgeli‘ auf, die Marcel Reich-Ranicki karikierend darstellt und als antisemitisch kritisiert wird. Diese Abbildung wurde entfernt.“
Legen die Beschwerdeführer Widerspruch ein, geht das Verfahren weiter. Dann befassen sich die Rundfunkräte und ihre Mitglieder erstmals inhaltlich mit der Beschwerde - in Ausschüssen oder im Plenum. Dass sie erst so spät in das Verfahren eingreifen, widerspricht dem öffentlichen Bild, wonach die Räte für die gesellschaftliche Kontrolle der Sender zuständig sind. Bei einigen Sendern wissen die Mitglieder der Rundfunkräte nicht einmal, welche Programmbeschwerden überhaupt eingegangen sind. Denn nicht überall werden sie darüber und über die Antworten des Intendanten informiert.
Der Schriftzug NDR steht an einem Turm des NDR an der Rothenbaumchaussee
Bei einigen Häusern kommt, so wie beim NDR, erst nach Intendanz und Rundfunkrats-Vorsitz die Zeit für die Mitglieder des Rundfunkrats, sich mit Beschwerden zu befassen (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
Beim Bayerischen Rundfunk hält das Verfahren sogar noch eine Besonderheit bereit: Bevor eine Beschwerde in den Rundfunkrat geht, fungiert der Vorsitzende des Rundfunkrats, im Moment Godehard Ruppert, als eine Art Zwischeninstanz. Ist jemand mit Antworten von Intendantin Katja Wildermuth nicht zufrieden, darf auch Ruppert zunächst antworten. Erst nach erneutem Widerspruch muss er auch die Mitglieder des Rundfunkrats einbeziehen.
Auch beim NDR darf der Rundfunkratsvorsitzende Dietmar Knecht nach dem Intendanten antworten, bevor die Mitglieder einbezogen werden. Nachdem die Verfahren schon in 26 Fällen durch die Antwort von Intendant Joachim Knuth beendet waren, sorgten die Antworten Knechts in 58 weiteren Fällen dafür.

Warum sind die Beschwerdeverfahren so kompliziert?

Wie die aussehen, steht in Gesetzen und Staatsverträgen – und daran müssen sich Sender und Rundfunkräte halten. Warum die Verfahren so kompliziert sind – man kann auch sagen: komplex – könnte man aber auch so begründen: Dass zunächst mal die Programmmacher auf eine Kritik antworten dürfen, hat Vor- und Nachteile.
Der Vorteil für Zuschauerinnen und Hörer ist, dass sie eine Antwort von denjenigen bekommen, die sie kritisieren, und damit vielleicht schon Korrekturen erreichen. Das ist auch von Vorteil für die Rundfunkräte, die ehrenamtlich besetzt sind und so weniger Verfahren auf den Tisch bekommen. Vorteil für die Sender ist, dass sie früh auf Kritik eingehen können, noch bevor es zu einer Entscheidung des Rundfunkrats kommt. Zumal sie damit die Gelegenheit bekommen, tatsächliche Fehler schnell zu korrigieren und auch zu begründen, warum sie so und nicht anders entschieden haben. Denn kaum eine der vielen redaktionellen Entscheidungen in einer Recherche wird dem Publikum im fertigen Produkt ausdrücklich erklärt.
Ein Nachteil vor allem für das Publikum ist aber, dass es eben eine solche Entscheidung einer unabhängigen Instanz nicht oder nicht schnell gibt. Die Regeln der Beschwerdeordnungen ähneln deshalb weniger dem eines Gerichtsverfahrens, bei dem es am Ende ein Urteil gibt. Stattdessen bekommen die Sender gleich zu Beginn die Möglichkeit, die Kritiker durch Zugeständnisse von weiteren Schritten und am Ende einer Entscheidung des Rundfunkrats abzuhalten.
So oder so verursachen Beschwerden bei Sendern und Rundfunkräten großen Aufwand: Die betroffenen Redaktionen müssen sich intern rechtfertigen und, falls sie nicht eigene Fehler eingestehen, dem Intendanten Argumente und Belege liefern, warum die Kritiker falsch liegen. Die Rundfunkräte schauen sich zudem Sendung oder Beitrag an und wägen die Argumente von Kritikern und Sendern gegeneinander ab, diskutieren sie in Ausschüssen und im Plenum länger aus. Wegen verschiedener Fristen ziehen sich die Verfahren teils viele Monate hin.
Auch wenn die Entscheidungen nicht wie in einem Gericht fallen, gibt es damit vergleichbar mehrere Instanzen: Zuerst entscheiden Intendant oder Intendantin, bei Widerspruch ist es danach meist ein Ausschuss, bei erneutem Widerspruch der gesamte Rundfunkrat. Selbst wenn sie wollten, könnten die meisten Rundfunkräte ohne Widerspruch des Beschwerdeführers die Entscheidung nicht an sich ziehen. Bei einigen dürfen das zumindest deren Vorsitzende entscheiden.
Gibt es besonders viele Beschwerden über eine einzelne Sendung, kann zum Beispiel der ZDF-Fernsehrat eine Sonderregelung anwenden. Das bedeutet, dass der Fernsehrat nicht über jede einzelne von vielleicht Dutzenden Beschwerden entscheidet, sondern stellvertretend nur über eine, die dann „Leitbeschwerde“ genannt wird. Dieses Verfahren wurde beispielsweise beim ZDF-Podcast „Lanz & Precht“ angewandt.
Als Leitbeschwerde wird nach Angaben der Geschäftsstelle des ZDF-Fernsehrats eine ausgewählt, die „möglichst das gesamte Spektrum“ der Kritik enthält. Damit kommt dem Beschwerdeführer eine besondere Verantwortung für das weitere Verfahren zu, auf die er auch hingewiesen wird. Denn von seiner Reaktion hängt die weitere Behandlung der Beschwerde ab. Nur wenn er die Entscheidung des Intendanten beanstandet, wird sie dem Ausschuss und dem Plenum des Rundfunkrats vorgelegt. Meldet er sich nicht, ist das Verfahren auch für alle anderen Beschwerdeführer beendet, die in diesem Fall keine Möglichkeit zum Widerspruch haben. Eine ähnliche Regelung gibt es auch beim Hörfunkrat des Deutschlandradios.
Vor der Entscheidung beraten Ausschuss oder Plenum die Beschwerden - der Ausschuss in der Regel intensiver, das Plenum oft nur kursorisch. Neben der Eingabe des Beschwerdeführers liegen die Sendung oder der Beitrag selbst vor sowie Stellungnahmen des Intendanten und der Redaktion. Insofern ähnelt das Verfahren dem des Deutschen Presserats, bei dem sich Nutzer von Zeitungen, Zeitschriften und Online-Angeboten beschweren können. Im Unterschied dazu werden bei den Rundfunkräten gelegentlich auch Redakteure sowie Redaktions- und Abteilungsleiter eingeladen, die persönlich Stellung nehmen können.
Über einem Zeitungsladen steht der Schriftzug "Presse"
Bei Zeitungen entscheidet der "Presserat" über Beschwerden, die "Freiwillige Selbstkontrolle der Presse" (picture alliance / ZB / Sascha Steinach)
Die Verfahren sind – gleich, bei welchem Sender – für Zuschauerinnen und Hörer, die sich beschweren wollen, schwer zu durchschauen. Zwar werden diese beim Einreichen der Beschwerde und in den Antworten von Intendanz und Rundfunkrat über Rechte und Fristen informiert; wenn sie ihre Beschwerde aber nach einer ersten Ablehnung weiterverfolgen wollen, müssen sie beharrlich sein – vor allem, wenn sie auf einer Entscheidung des Rundfunkrats bestehen.

Könnten die Verfahren auch einfacher werden?

Möglich wäre das. Dafür müssten die Beschwerdeordnungen vereinfacht oder sogar vereinheitlicht werden. Dazu könnten sich die Länder auf gleichlautende Beschwerdeordnungen einigen oder aber die Rundfunkkommission der Länder gibt das zentral vor. Die oberste Rundfunkpolitikerin der Länder, die rheinland-pfälzische Medienstaatssekretärin Heike Raab, sieht dafür derzeit allerdings keine Notwendigkeit, wie sie dem Deutschlandfunk auf Anfrage mitteilte.
Zumindest die Geschäftsstellen der neun ARD-Rundfunkräte wollen sich künftig stärker über ihre Erfahrungen austauschen, damit es für Beschwerdeführer leichter wird. Sie arbeiten in der sogenannten ARD-Gremienvorsitzendenkonferenz zusammen. Konkrete Änderungen sind aber auch da nicht geplant.

Waren das 2023 eigentlich viele oder wenige Beschwerden?

Insgesamt erscheint die Zahl der förmlichen Programmbeschwerden, die die Rundfunkräte im vergangenen Jahr erreichten, angesichts des Programmumfangs vergleichsweise gering. Im Durchschnitt waren es etwa zwei Beschwerden pro Tag - bei mehreren tausend Stunden Programm pro Tag, verteilt auf mehr als 70 Radio- und Fernsehprogramme. Allein der größte Sender, der WDR, verzeichnete für das Jahr 2022 ein Programmvolumen von durchschnittlich 145 Stunden pro Tag.
Wo kann ich meine Programmbeschwerde einreichen?
Vergleicht man die Beschwerden mit denen, die beim Deutschen Presserat eingehen, der sich nach eigenen Angaben um 95 Prozent der Zeitungen und Zeitschriften sowie deren Online-Auftritte kümmert, zeigt sich, dass dort im vergangenen Jahr durchschnittlich fünf Beschwerden pro Tag eingingen. Allerdings sind die Zahlen für Print und Rundfunk nur schwer miteinander zu vergleichen, weil die Inhalte kaum miteinander verrechnet werden können: Wie verhält sich die Zahl der Zeitungen zur Zahl der Sender, wie die Seitenzahl zu den Sendeminuten, wie die Leserzahl zur Einschaltquote? Beim Presserat wurden im vergangenen Jahr 1.850 Beschwerden eingereicht - in 304 Fällen hielt er sie für berechtigt und sprach unterschiedlich starke Sanktionen aus.*
Dass die Zahl der formellen Programmbeschwerden bei den öffentlich-rechtlichen Sendern mit 708 vergleichsweise niedrig ist, muss nicht nur an der Qualität der Berichterstattung liegen. Faktoren sind auch die Beschwerdefreudigkeit des Publikums, ob es die Beschwerdemöglichkeiten überhaupt kennt und wie leicht es ihm gemacht wird, sie zu nutzen - etwa was als Programmbeschwerde anerkannt wird, auch wenn das Publikum nur indirekt, aber nicht explizit einen Verstoß gegen Programmgrundsätze behauptet. Dass die Zugänglichkeit eine Rolle spielt, zeigt die Erfahrung des BR-Rundfunkrats: Durch die Einführung eines Online-Formulars für Eingaben aller Art im Jahr 2023 ist deren Zahl deutlich gestiegen: von 200 im Vorjahr auf 386.
Auch auf die Hartnäckigkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer kommt es an. Wollen sie tatsächlich eine Entscheidung des Rundfunkrats herbeiführen, müssen sie wiederholt gegen Entscheidungen der Vorinstanzen vorgehen. Das kostet Zeit und Kraft und ist aufgrund des bürokratischen Verfahrens nicht für jeden Nutzer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks machbar. So ist es nicht verwunderlich, dass es bei über 700 Beschwerden und rund 100 Entscheidungen nur so wenige Verurteilungen gibt - auch wenn es womöglich mehr Grund dazu gäbe.
* Hier standen ursprünglich eine falsche Zahl, die wir korrigiert haben.