Der Abend beginnt gänzlich unspektakulär. Eine Bühne, ein Tisch, ein Mann. Präziser: Ein Historiker, der das Publikum an die Bedeutung dieses einen Abends im Mai 1968 im Odéon erinnert. Eines eigentlich avantgardistischen, linken Hauses, das aber am Ende doch nur als "Staatstheater" und "Maske der Bourgeoisie" wahrgenommen wurde. Nach einer Weile regt sich Unmut im Saal.
Dieser Unmut allerdings ist inszeniert: Im Publikum platzierte Schauspieler ergreifen das Wort und setzen an, zur freien Rede, wie damals, im Mai 1968, als Polizisten, Studentinnen, Ärzte und Lehrerinnen ans Mikrofon traten. Unter dem Leitspruch: "Die Phantasie an die Macht!"
"Je travaille dans la police, oui, je suis flic."
Eine gute halbe Stunde sitzen die Zuschauer da bereits im prachtvollen Saal des Odéon mit seinem goldenen Dekor und den samtgepolsterten Stühlen und beginnen sich zu fragen, wo er eigentlich ist, dieser Geist des Mai 1968, der dem Abend seinen Namen gegeben hat. Der Funke von damals, er springt nicht über. Denn das, was die Studentinnen und Studenten mit der Besetzung des Odéon erreichen wollten, die freie Rede, den Austausch, die Ablösung des inszenierten Schauspiels als Akt der Befreiung, wirkt 50 Jahre später doch: inszeniert.
"Sie gedenken, wir fangen wieder an!"
Ein wenig ratlos also wird das Publikum in die Pause geschickt, als sich plötzlich der Geist des Mai 2018 meldet und der Abend aus den Fugen gerät.
Studentinnen und Studenten versuchen, ins Odéon zu gelangen, wie damals, um auf ihre Proteste aufmerksam zu machen. Auf ihren Widerstand gegen die Hochschulreform des Präsidenten, die den Studienzugang neu ordnen soll. Die aussiebt und selektiert, sagen die Studenten. "Ils commémorent, on recommence!" "Sie gedenken, wir fangen wieder an!", lautet ihre Parole.
Das verdutze Publikum wird in den Saal zurückgeordert, zum zweiten Teil. Von A bis Z sollen sich Regisseure, Schriftstellerinnen, Philosophen und Akteure von damals dem Mai 68 nähern: von A wie amour, Liebe, über B wie bourgeois, bürgerlich. Doch schon kurz nach C macht sich erneut Unruhe breit. Ein Student tritt ans Mikrofon und appelliert:
"Da draußen werden Studenten mit Tränengas vertrieben und festgenommen. Die Vorstellung ist nicht hier drinnen, sondern da draußen!"
Das Theater als Maske der Bourgeoisie?
Die ersten verlassen empört das Theater. "Beschämend" sei das, dass man hier drinnen an den Mai 68 erinnere, aber die Studentinnen und Studenten von heute aussperre. Es seien Steine geflogen, außerdem hätten Vermummte versucht, ins Theater zu gelangen, hält der Direktor des Odéon dagegen. Das Theater als Maske der Bourgeoisie? Bei der Soziologin Julie Pagis klingt es ganz danach:
"Es gibt mehr als beunruhigende Parallelen zu dem, was heute passiert. Wenn wir uns anschauen, wie viele besetzte Universitäten durch Ordnungskräfte geräumt wurden, ohne dass es irgendjemanden groß kümmert. Damals war das die rote Linie, die überschritten wurde und die Revolte beginnen ließ ..."
Die Unsicherheit, wie es nun weitergehen soll, haucht dem Abend das ersehnte Leben ein. Auch das Publikum wacht auf, mischt sich ein. Bei O wie Odéon ist die Debatte schließlich in vollem Gange: Romain Goupil, Regisseur und Protagonist des Mai 68, pocht darauf, dass die Proteste der Studentinnen und Studenten – abgesehen von ihnen selbst und der Polizei - nichts, aber auch gar nichts mit denen von damals gemein hätten:
Anstoß für eine erlahmte Erinnerungsdebatte
"Es ist komplett absurd, das Frankreich von 1968 mit dem von heute zu vergleichen."
Es folgt eine heftige Gegenrede von Patrice Maniglier, der das P, für das er zuständig ist, kurzerhand erweitert, um Problem, Protest und die Frage nach der pertinence – der Relevanz dieses Erinnerungsabends. Der Philosoph endet mit einem Appell, sich gemeinsam auseinanderzusetzen.
Tatsächlich sieht man beim Verlassen des Theaters Zuschauer in intensive Gespräche mit den Studenten vertieft. Vielleicht hat dieser Abend tatsächlich ein wenig Schwung in eine bis dato eher müde Erinnerungsdebatte gebracht.