Der Stein kam Mitte der Dreißiger Jahre durch die Fensterscheibe geflogen. Die Nazis hatten sich geirrt damals, in dem Dresdener Haus wohnten gar keine Juden mehr. Heidruns Vater Wolfgang hatte es ihnen abgekauft, damals, sie wollten nach Amerika. Wolfgang ist der Held der Familie, so wie jede Familie einen Helden hat oder zumindest gerne hätte, einen der "anders war", damals, der nicht mit machte. Seine Enkelin Hannah würde die Geschichte so erzählen:
Den Stein hat Tochter Heidrun im Garten vergraben, als sie in den Westen ging. In den 70ern waren sie mal zu Besuch in Dresden, Anfang der 90er wohnen sie wieder hier, Hannah, Heidrun und die Großmutter Witha. Das Stück beginnt mit dem ungebetenen Besuch von Stefanie, einer jungen Frau, die zu DDR-Zeiten hier lebte, und 'die aus dem Westen' mit dem Tod ihres Opas konfrontiert, der die späte Verpflanzung nicht überlebt habe. Doch für Heidrun ist das Haus ein Symbol ihrer geglückten Existenz, wie der Stein, oder das Kaffeegeschirr, das im Krieg gerettet wurde. Für den Zuschauer wird es zum Schauplatz der unerbittlichen Enthüllung einer Lebenslüge, die sechs Jahrzehnte zuvor in die Welt kam.
Der Dramatiker Marius von Mayenburg ist Autor von Zeit-Stücken im besseren Sinne. Mit "Der Hässliche" hat er vor kurzem ein Stück über den Schönheitswahn und das Klonen von Gesichtern vorgelegt. Jetzt interessierte ihn die neue Erzählhaltung der Deutschen ihrer eigenen Geschichte gegenüber. Nach jahrzehntelanger Aufarbeitung der Ursachen des Holocaust, über 'Hitlers willige Vollstrecker', über die Deutschen als Täter und Mitläufer gibt es zum ersten Mal einen Opfer-Diskurs. Zwischen dem "Untergang" mit Bruno Ganz und der WM 2006 mit ihrer Fahnen-Seligkeit lagen die Debatten über die Vertriebenen, die versenkten Toten der "Gustloff", die Zerstörung Dresdens.
Die Zeiten wechseln schnell und die Szenen übergangslos im Bühnenbild von Damian Hitz, der mit einem Klavier, einem gedeckten Kaffeetisch, ein paar Terrassenstühlen und einer Schaukel auf leicht gewölbtem dunklen Parkett auskommt. Durch die Anwesenheit aller Beteiligten bekommt das Stück fast etwas Magisches, Durchscheinendes. Alles liegt, wiewohl nur portionsweise erzählt, wie offen zutage.
Judith Engel spielt die Witha über drei Generationen bravourös: in naiv-schnarrender Tonlage die unsichere Ehefrau, in strenger Haltung die arrogante Westlerin, laut und selbstbezogen die leicht schwerhörige Oma. Wunderbar spiegeln sich ungläubiger Schock und überwältigende Erinnerung gleichzeitig in ihrem Gesicht, als sie ihrer Tochter Heidrun das Märchen über Wolfgangs Tod erzählt. Denn in Wirklichkeit besaß der nicht nur ein Parteiabzeichen, sondern war überzeugter Herrenmensch und Offizier, der sich die Kugel gab, als seine Welt zusammen brach. Selten hat jemand so ausdrucksstark einen eigentlich Abwesenden gespielt wie Kay Bartholomäus Schulze. Der Regisseur Ingo Berk lässt das großartige Schaubühnen-Ensemble mit gleich fünf starken Frauen in seltener Geschlossenheit vor allem eines spielen: die Sehnsucht nach einer eigenen Geschichte. Heidrun braucht die Mär vom "guten Vater" vielleicht am dringendsten; Bettina Hoppe gibt sie leicht starr, wie umstellt von diesem Lebensgerüst. Aber es gibt kein Happy End: das Ost-Mädchen Stefanie wird seine Eltern nicht finden; so wie Hannah die jüdische Familie Schwarztman in Brooklyn nicht finden wird. Im Gegenteil: Heidruns Rückkehr nach Dresden bedeutete ja noch eine Vertreibung:
Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu gezwungen, sie zu wiederholen. So erweist sich Marius von Mayenburgs Drama als tiefgründiges Stück über angebliche Opfer in Ost und West; als großes Schauspielerfutter; als eines der wichtigsten Stücke der kommenden Saison; und als der erste wirkliche Höhepunkt des Salzburger Theatersommers.
Den Stein hat Tochter Heidrun im Garten vergraben, als sie in den Westen ging. In den 70ern waren sie mal zu Besuch in Dresden, Anfang der 90er wohnen sie wieder hier, Hannah, Heidrun und die Großmutter Witha. Das Stück beginnt mit dem ungebetenen Besuch von Stefanie, einer jungen Frau, die zu DDR-Zeiten hier lebte, und 'die aus dem Westen' mit dem Tod ihres Opas konfrontiert, der die späte Verpflanzung nicht überlebt habe. Doch für Heidrun ist das Haus ein Symbol ihrer geglückten Existenz, wie der Stein, oder das Kaffeegeschirr, das im Krieg gerettet wurde. Für den Zuschauer wird es zum Schauplatz der unerbittlichen Enthüllung einer Lebenslüge, die sechs Jahrzehnte zuvor in die Welt kam.
Der Dramatiker Marius von Mayenburg ist Autor von Zeit-Stücken im besseren Sinne. Mit "Der Hässliche" hat er vor kurzem ein Stück über den Schönheitswahn und das Klonen von Gesichtern vorgelegt. Jetzt interessierte ihn die neue Erzählhaltung der Deutschen ihrer eigenen Geschichte gegenüber. Nach jahrzehntelanger Aufarbeitung der Ursachen des Holocaust, über 'Hitlers willige Vollstrecker', über die Deutschen als Täter und Mitläufer gibt es zum ersten Mal einen Opfer-Diskurs. Zwischen dem "Untergang" mit Bruno Ganz und der WM 2006 mit ihrer Fahnen-Seligkeit lagen die Debatten über die Vertriebenen, die versenkten Toten der "Gustloff", die Zerstörung Dresdens.
Die Zeiten wechseln schnell und die Szenen übergangslos im Bühnenbild von Damian Hitz, der mit einem Klavier, einem gedeckten Kaffeetisch, ein paar Terrassenstühlen und einer Schaukel auf leicht gewölbtem dunklen Parkett auskommt. Durch die Anwesenheit aller Beteiligten bekommt das Stück fast etwas Magisches, Durchscheinendes. Alles liegt, wiewohl nur portionsweise erzählt, wie offen zutage.
Judith Engel spielt die Witha über drei Generationen bravourös: in naiv-schnarrender Tonlage die unsichere Ehefrau, in strenger Haltung die arrogante Westlerin, laut und selbstbezogen die leicht schwerhörige Oma. Wunderbar spiegeln sich ungläubiger Schock und überwältigende Erinnerung gleichzeitig in ihrem Gesicht, als sie ihrer Tochter Heidrun das Märchen über Wolfgangs Tod erzählt. Denn in Wirklichkeit besaß der nicht nur ein Parteiabzeichen, sondern war überzeugter Herrenmensch und Offizier, der sich die Kugel gab, als seine Welt zusammen brach. Selten hat jemand so ausdrucksstark einen eigentlich Abwesenden gespielt wie Kay Bartholomäus Schulze. Der Regisseur Ingo Berk lässt das großartige Schaubühnen-Ensemble mit gleich fünf starken Frauen in seltener Geschlossenheit vor allem eines spielen: die Sehnsucht nach einer eigenen Geschichte. Heidrun braucht die Mär vom "guten Vater" vielleicht am dringendsten; Bettina Hoppe gibt sie leicht starr, wie umstellt von diesem Lebensgerüst. Aber es gibt kein Happy End: das Ost-Mädchen Stefanie wird seine Eltern nicht finden; so wie Hannah die jüdische Familie Schwarztman in Brooklyn nicht finden wird. Im Gegenteil: Heidruns Rückkehr nach Dresden bedeutete ja noch eine Vertreibung:
Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu gezwungen, sie zu wiederholen. So erweist sich Marius von Mayenburgs Drama als tiefgründiges Stück über angebliche Opfer in Ost und West; als großes Schauspielerfutter; als eines der wichtigsten Stücke der kommenden Saison; und als der erste wirkliche Höhepunkt des Salzburger Theatersommers.