Um die Besiedlung Amerikas zu verstehen, müsse man erst das Sibirien-Rätsel lösen, sagt Eske Willerslev vom Center for GeoGenetics der Universität von Kopenhagen. Das jedenfalls habe ihm die US-amerikanische Archäologin Kelly Graf nahegelegt. Mit dem Sibirien-Rätsel bezeichnet der Paläogenetiker die steinzeitliche Ausgrabungsstätte Mal'ta, 80 Kilometer nordwestlich von Irkutsk in der Nähe des Baikalsees gelegen. Dort wurde in den 1950er Jahren das Skelett eines jungen Mannes gefunden, der vor 24.000 Jahren bestattet wurde.
"Wir beide fuhren also nach Sankt Petersburg, wo das Skelett im Museum aufbewahrt wird, und entnahmen aus dem Oberarm des Jungen eine Probe. Bei der Analyse der mitochondrialen DNA sahen wir, dass der Junge zur so genannten Haplogruppe U gehört. Und ich habe, ehrlich gesagt, direkt angenommen, dass hier eine Verunreinigung vorliegt."
Denn dieses genetische Profil ist heute ausschließlich in Europa weit verbreitet und kommt nur noch in Westasien vor, aber definitiv nicht in Sibirien. Weil er sich keinen Reim auf die Ergebnisse machen konnte, habe er das Projekt zunächst ein Jahr liegen lassen, räumt Eske Willerslev ein, aber dann habe ihm es doch keine Ruhe mehr gelassen. Er sequenzierte die Probe erneut und konzentrierte sich dieses Mal nicht mehr auf die Mitochondrien, sondern auf das X-Chromosom, welches der Junge von seiner Mutter erhalten hatte und auf das Y-Chromosom, welches vom Vater stammt. Damit konnte der dänische Forscher auch die Frage beantworten, ob es sich bei dem ersten Ergebnis um eine Verunreinigung handelte. Dem war nicht so.
"Dann sahen wir, dass ein Teil des Erbguts, das wir bei diesem Mal’ta-Jungen gefunden haben, heute noch in vielen Ureinwohnern Nordamerikas vorkommt. Kürzliche Vermischungen scheiden aus, denn wir haben diese Gene sowohl bei Ureinwohnern in Kanada als auch bei jenen in Südamerika gefunden. All diese Menschen tragen das gleiche westsibirische Erbe in sich, das ein Drittel ihres Genoms ausmacht."
Genauer gesagt lassen sich 14 bis 38 Prozent des Genoms der amerikanischen Ureinwohner auf einen West-Eurasischen Ursprung zurückführen. Dies erkläre auch, weshalb einige Schädel der ersten Ureinwohner für Ostasiaten recht untypische Merkmale besitzen. Denn sie kamen gar nicht aus Ostasien, sondern aus dem Westen des Kontinents. Um dieses Besiedlungsszenario weiter zu beleuchten, untersuchte Eske Willerslev ein zweites Skelett.
"Das 17.000 Jahre alte Individuum wurde auch in der Nähe des Baikalsees entdeckt, nur etwas weiter westlich gelegen. Unsere genetischen Analysen zeigen, dass dieses Individuum zur gleichen Population wie der Junge aus Mal’ta gehört. Das bedeutet, dass diese Westeurasier dort permanent gesiedelt und zumindest bis vor 17.000 Jahre dort gelebt und überlebt haben."
Damit haben diese Menschen die Region auch während der Hochphase der letzten Eiszeit vor etwa 21.000 Jahren durchgehend besiedelt und sind irgendwann über die Beringstraße nach Amerika gekommen. Unklar ist allerdings, wann und wo es zu den Vermischungen mit den westsibirischen Populationen kam.
"Einer der nächsten Schritte müsste daher die genetische Untersuchung der ältesten Skelette sein, die in Nordamerika gefunden wurden. Dann könnten wir sehen, ob diese Vermischungen zwischen Ost- und Westasiaten erst in Amerika stattgefunden haben oder doch schon in er alten Welt in Sibirien."
Sibirien spielt also in der Mittelsteinzeit eine wichtige Rolle. Und nicht nur für die Besiedlung Amerikas, auch für die Europas könnte die Region entlang des Baikalsees wichtig gewesen sein. Denn in unmittelbarer Nähe des Jungen aus Mal’ta wurden steinerne Venusfiguren ausgegraben, ähnlich jenen großbusigen figürlichen Darstellungen, die auch in Süddeutschland entdeckt wurden. Theoretisch sei es denkbar, so Eske Willerslev, dass diese Kunstfertigkeit ihren Ursprung nicht im Schwabenland hatte, sondern in Sibirien.