Zum Jahresausklang präsentieren die Redakteurinnen und Redakteure des Corso-Musikmagazins ihre persönlichen Top-3-Alben von 2019.
Von Anja Buchmann:
1. 5KHD: "High Performer"
Ein österreichisches Jazzquartett (Keyboards, Trompete, Schlagzeug, Bass) mit dem Namen "Kompost 3" plus eine Sängerin, ergibt die Band "5KHD". Ungewöhnlicher Name, ungewöhnliche Besetzung, ungewöhnliche Musik: 5KHD, die in ihrem Namen den Gegensatz zwischen einem kalten Produktnamen und emotionaler Musik herstellen wollen, sind irgendwo in den Weiten der Popmusik, des Experiments, des Elektro und auch ein kleines bisschen noch des Jazz verortet.
"High Performer" heißt ihr zweites gemeinsames Album – im Gegensatz zum Debüt deutlich mehr aus einzelnen Versatzstücken produziert. Denn damals waren die Bandmitglieder gerade frisch zusammengekommen und haben die Songs in Echtzeit eingespielt. Sängerin Mira Lu Kovacs zu ihrer Arbeitsweise:
"Ich habe das Gefühl, die Musikwelt, vor allem im Pop, teilt sich in zwei Lager: Das eine ist eine Band-Band. Dann muss das eher so Rock sein oder halt irgendwas mit Live-Instrumenten. Man sieht sich im Studio mit Glasfenstern, dass man sich auch wirklich live sieht beim Spielen. Und die andere Ecke macht alles aus dem Computer. Und wir wollten eben 'the best of both worlds' uns holen. Denn beides ist fantastisch. Und wenn man es kombiniert, kommt noch mehr zusammen".
"High Performer" bietet einen großen Reichtum an Sounds, die dennoch nicht nur als Selbstzweck daherkommen. Jedes Geräusch, jeder Ton, jeder Groove überzeugt und ist mit einer klaren Stimmung verbunden. Mal groovebetont, mal melodiös, mal krachig: Die Band 5KHD macht Elektropop, Trap und einen Hauch von Jazz – der sich in erster Linie in einer sehr offenen, freien Herangehensweise an die Songs zeigt. Und vielleicht noch in der einen oder anderen komplexeren Akkordfolge. Abwechslungsreich arrangierte Musik mit überraschenden Wendungen, detailverliebt und dennoch nicht verkopft. Zudem sind die fünf auch live mehr als mitreißend.
2. grim104: "Das Grauen, das Grauen"
Man muss sie mögen, diese aufgewühlte, sich oft überschlagende Stimme des Moritz Wilken alias grim104. Die eine Hälfte des Berliner Hip-Hop-Duos "Zugezogen Maskulin" hat 2019 das zweite Soloalbum vorgelegt. Und das hat es in sich: Düster, schaurig, grauenhaft – so sind die Texte, die korrespondierend zum Titel "Das Grauen, das Grauen" von Traumata und unheimlichen Begebenheiten erzählen: Persönliche Ängste des "Grafen Grim" vor Krankheit, Gewalt und Tod und sogar politische Themen wie Wohnungsnot werden aufgegriffen. Das Ganze fast filmisch erzählend, mit coolen Samples (indonesische Gamelan-Klänge!) und Sounds, die die sich gruselnde Hörerin absolut in ihren Bann ziehen.
3. Kokoroko: Kokoroko
Wenn Michael Bublé als Jazzsänger bezeichnet wird, dann kann die Band Kokoroko auch im Pop-Kontext für ihre Debüt- (leider nur) EP aufgeführt werden. Veröffentlicht wurde sie auf dem Label Brownswood Recordings des Londoner DJs und Musiksammlers Gilles Peterson. Die Musikerinnen und Musiker (mit rein weiblicher Bläser-Section) rund um die Trompeterin Sheila Maurice-Grey bedienen sich bei westafrikanischen Sounds wie Highlife und Afrobeat und vermengen sie mit Spiritual Jazz und Pop-Appeal. Und die englische Fan-Gemeinde dankt es ihnen, indem sie Kokoroko – ähnlich wie Nubya Garcia, Moses Boyd, das Ezra Collective oder The comet is coming aus der jungen Londoner Jazzszene - gehörig abfeiern.
Von Thomas Elbern:
1. Haelos: "Any Random Kindness"
Eine der herausstechenden Veröffentlichungen dieses Jahres war für mich das Album "Any Random Kindness" des britischen Quartetts Haelos. In den 90ern nannte man den Stil der Band wohl Trip-Hop, heute spricht man eher von Electronica. "Any Random Kindness" wirkt wie das musikalische Äquivalent zu der britischen Erfolgsserie "Black Mirror": mal dunkel und abgründig, dann wieder farbenverliebt und comichaft. Eine Spielwiese für die jungen Musiker, die in einer Welt von Mashups und Post-Genres aufgewachsen sind, zwischen Piano-Balladen, Low Tempo Beats und experimentellen Synthezisersounds. "Any Random Kindness" bleibt allerdings immer Pop. Nichts schmälert die Eingängigkeit der Musik.
Die Stimmung macht's bei "Any Random Kindness" von Haelos - Twenty-Somethings auf der Suche nach Glück in einer immer komplizierter werdenden Welt: Einsamkeit, Ziellosigkeit und ein kurzes Aufflackern von Liebe. "Dark Euphoria" nannte das die Band selbst einmal, und das trifft es auf den Punkt. Politikverdrossene Twens, die jenseits vom Goldrausch der 90er aufgewachsen sind und die nur noch eher gelangweilt das Brexit-Dilemma im Fernsehen verfolgen. War ihr Debüt von 2016 eher eine Verneigung vor dem Bristol-Sound von Massive Attack oder Portishead, so hat "Any Random Kindness" seine ganz eigene dramatische Note. Das Album ist wie eine Flucht nach innen, in die Befindlichkeiten, in die schnellen Thrills, die der drogenvernebelte Clubbesuch bereithält.
2. Ben Böhmer: "Breathing"
Er ist gerade mal 25 und einer der Shooting Stars der deutschen Electronic Szene. Mit "Breathing" hat der in Berlin lebende Produzent Ben Böhmer ein Album für Leute eingespielt, die eigentlich gar keine elektronische Musik mögen, doch die schon von Paul Kalkbrenner oder Monolink eines Besseren belehrt wurden. Böhmer verbindet spielend Singer-Songwriter-Sounds und Instrumentaltracks mit einer sanft pochenden Bassdrum und verpackt das alles in eine elektronische Wohlfühlatmosphäre.
3. Blaue Blume: "Bell of Wool"
Blaue Blume ist der Name einer wirklich außergewöhnlichen Band aus Kopenhagen, die einen hymnischen Sound zwischen Dream-Pop und Indie-Rock spielt, über dem die zerbrechliche Stimme von Sänger Jonas Smith thront. "Bell Of Wool" ist sorgsam arrangiert und passt hervorragend zu verregneten November-Landschaften. Art Pop nannte man das mal. Assoziationen an Talk Talk oder Sigur Rós klingen an. "Bell of wool" lotet mit seinen 36 Minuten Spielzeit ein kleines musikalisches Universum aus. Pop aus einer anderen Dimension.
Von Fabian Elsäßer:
1.) Van Kraut - "Zäune aus Gold"
"Komm und tanz das Projekt, komm und tanz den Masterplan." Damit ist alles gesagt, oder? Wir leben in einer Zeit der Zeitverträge, der projektbezogenen Arbeit, der Selbstausbeutung und Selbstoptimierung. Ja, auch, aber: direkter wird Sänger und Texter Christoph Kohlhöfer nicht, nicht hier, nicht in anderen Songs des Albums. Da ist ein Unbehagen, mit der Frage verbunden, ob man es anders machen könnte. Doch hier wird nicht gewertet, noch gerichtet.
Hier wird beobachtet. Scharf beobachtet. In packenden Schlagworten. Zäune aus Gold, Aufgereiht in Blocks, Gated community. Christoph Kohlhöfer:
"Ich glaube, ganz Hamburg hat eine, was die Mietpreise angeht, sehr, sehr ungesunde Entwicklung und auch kulturell ist das natürlich, was da passiert. Die Gated Community, die ich besinge, die da gemeint ist, ist natürlich keine tatsächliche. Da geht’s ja eher um, wenn man’s ganz weit fassen will, Festung Europa. Oder Deutschland, ja."
"Ich glaube, ganz Hamburg hat eine, was die Mietpreise angeht, sehr, sehr ungesunde Entwicklung und auch kulturell ist das natürlich, was da passiert. Die Gated Community, die ich besinge, die da gemeint ist, ist natürlich keine tatsächliche. Da geht’s ja eher um, wenn man’s ganz weit fassen will, Festung Europa. Oder Deutschland, ja."
Zum Glück ist Kohlhöfer nicht nur ein geschickter Texter. Er ist auch ein Musiker mit weit aufgesperrten, wachen Ohren, dem mit Tobias Noormann ein versierter Schlagzeuger zur Seite steht. Die Musik von Van Kraut klingt so gar nicht nach der alten Hamburger Schule oder anderen deutschen Gitarrenbands. Ihre Songs bestehen nicht aus durchgespielten Akkord-Folgen, sondern echten Riffs, nach denen auch mal ein paar Takte Leere stehen dürfen. Kohlhöfers Gitarrenton wiederum – drängend, bissig, schneidend, aber nicht grell und schon gar nicht: fett – klingt wie das Ergebnis jahrelanger Tüftelei. "Zäune aus Gold" ist der seltene Glücksfall einer Band, die Botschaft und Haltung mit technischer Hingabe verknüpft und damit zeigt: dabei muss nicht immer Kunstrock herauskommen. Rock reicht völlig. Er ist im hier und jetzt verankert. Dass wir das noch erleben durften.
2. Bonaparte: "Chateau Lafitte"
Tobias Jundt und seine Band Bonaparte standen bisher für Bühnenshows voll sinnbefreitem Hedonismus mit Müll-Dekor und nackter Haut, frei nach dem Motto "Menschen, Tiere, Sensationen". Die Musik war Soundtrack zum Spektakel und beim Nachhören zu Hause wenig aufregend. Nun hat der schräge Schweizer das Erwachsenwerden für sich entdeckt – und die deutsche Sprache. Seine Texte formulieren Gefühlslagen aufs Treffendste, und die musikalische Neuausrichtung hin zum Electropop passt vorzüglich dazu.
3. Jamilla Woods: "Legacy! Legacy!"
Jamilla Woods aus Chicago hat nicht nur eine starke Gesangsstimme, sie macht sich auch zur Stimme der "Black Lives Matter" – Bewegung. Jeder Song ihres zweiten Albums "Legacy! Legacy!" trägt den Vornamen berühmter afro-amerikanischer Künstlerinnen. Ihr supercooler Neo-Soul mit reichlich Rap-Features sorgt dafür, dass die Botschaft auch gehört wird.
Von Steffen Irlinger:
1. Floating Points: "Crush"
Der englische DJ und Produzent Sam Shepherd alias Floating Points hat einen Doktortitel in Neurowissenschaften und Epigenetik. Darüber hinaus hat er mit seinem Freund und Kollegen Kieran Hebden alias Four Tet bis zur Schließung des Clubs 2015 einen legendären und einflussreichen Clubabend im Londoner Club "Plastic People" veranstaltet und hat seit einigen Jahren eine regelmäßige Sendung bei NTS Radio. An dieser Stelle sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass Shepherd nebenbei auch noch ein manischer Plattensammler ist und ein Label betreibt, auf dem er vor allem seltene Reggae-, Soul- und Disco-Stücke wiederveröffentlicht. Als DJ ist er jemand der selten bis nie die Erwartungen erfüllt und in seinen Sets die Grenzen dessen erweitert, was Clubmusik sein kann. Sein Spektrum reicht von japanischer Ambient-Musik, Avantgarde-Jazz, klassischer Musik, über Folk, Soul, Tropicalia zu Disco, House, Techno und den diversen Errungenschaften des britischen Harcore-Continuums.
All diese Elemente finden sich auch in seiner Musik wieder, ohne dass es konstruiert oder theoretisch wirkt. Auf seinem zweiten offiziellen Studioalbum "Crush" verschwimmen erneut die Grenzen zwischen live und programmiert, tonal und atonal, Schönheit und Störgeräusch, Wohnzimmer und Club. Das Album wurde in fünf Wochen mithilfe einer Roland-Drum-Machine und dem Buchla-Modular-Synthesizer aufgenommen, den Shepherd erstmals 2017 auf einer Tour mit The XX live gespielt hatte.
Er, der zuvor seine Musik mit einem großen Orchester aufgeführt hatte, stand bei dieser Tour alleine mit diesen zwei Maschinen auf der Bühne von denen eine, der Buchla als schwer spielbar und störrisch gilt. Wie auch immer, es hat funktioniert und Shepherd zu seinem besten Album inspiriert. Vielleicht muss man Neurowissenschaften studiert haben, um so eine komplexe, vielschichtige und elegante Musik zu erschaffen, die gleichzeitig auch als Geschichtslektion in nicht nur elektronischer Musik gehört werden kann.
2. Black Midi: "Schlagenheim"
Die englische Band Black Midi beweist gerade, dass in einem schon mehrmals für tot erklärten Genre wie Rock oft noch erstaunlich viel Leben steckt. Man muss es nur einmal komplett auseinandernehmen und ohne Rücksicht auf Verluste neu zusammensetzen. Ihr Album "Schlagenheim" enthält 9 unterschiedliche Stücke voller überwältigender Energie und dem unbedingten Willen, mehrmals im Stück die Richtung zu ändern. "Prog-Punk" nannte das ein findiger Kommentator im Netz.
3. Rina Mushonga: "In A Galaxy"
Die Musikerin Rina Mushonga stammt ursprünglich aus Simbabwe, ist dann in die Niederlande ausgewandert und lebt mittlerweile in London. Ihre Musik umfasst eine ganze Galaxy von Sounds und pendelt irgendwo zwischen Weltmusik, Folk, Pop, Indierock, Hip-Hop und avancierter Clubmusik. Auf ihrem zweiten Album "In A Galaxy" wird die manchmal überwältigende Vielfalt ihrer musikalischen Einflüsse fein ausbalanciert von ihren Texten, die voller intimer Beobachtungen und Einblicke in ihr tägliches Leben sind.
Die Auswahl als Playlist bei Spotify - zum Hören und Abnonnieren:
Von Bernd Lechler:
1. Billie Eilish: "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?"
Ein Star war geboren. Man musste nur auf YouTube eines der Fanvideos von Billy Eilishs Auftritt beim Coachella-Festival sehen - wie sie da über die Bühne turnte und die Leute mitriss. Das kann sie also auch noch! Als wäre die songwriterische Bandbreite auf ihrem Debütalbum nicht beeindruckend genug: Gespenstergeschichten kurz vorm Einschlafen in "Bury A Friend", Beinah-Jazz (und man weiß nicht, ist da ein Augenzwinkern oder nicht) in "Wish You Were Gay", eine A-Capella-Ballade so zart, dass das Licht durchscheint in "When The Party's Over", - deren Melodie immer höher klettert und noch höher –, futuristischer Reggae mit Ukulele und Roboter-Babystimme in "8" und Dancefloorpop, den man, hat man "Bad Guy" einmal gehört, nie wieder aus dem Ohr bekommt.
Zusammen mit ihrem Bruder als Produzent setzt Billie Eilish das alles auf eine ultraminimalistische Art um, die perfekt in den aktuellen Pop passt und doch viel radikaler ist. Hip-Hop und schläfriger R&B, manchmal nur eine trockene Basslinie und ein paar Störgeräusche, zwischendrin kurze Blödel-O-Töne aus dem Studio für die Extraportion Lässigkeit.
Die strahlt die 17-jährige mit den blauen Haaren auch auf Fotos und in Videos aus. Ein bisschen gelangweilt wirkt sie, ein bisschen crazy, abwechselnd zielstrebig und verloren, also hinreichend rätselhaft und doch nicht künstlich. Vor allem aber zeigt sie sich zwar durchaus sinnlich, aber eben - komplett anders als jeder andere weibliche Star, der einem einfällt – nicht ostentativ sexy in ihren weiten Streetwear-Klamotten. Billie Eilish bauchfrei auf einem roten Teppich ist schlicht nicht denkbar, und im Video etwa zu "Bad Guy" hat sie keine Tänzerinnen um sich, sondern: Nasenbluten. Schon schön anzusehen: wie eine Newcomerin an allen anderen vorbeizieht, auf die großen Festivalbühnen und an die Spitzen der Charts, in den Mainstream eben, indem sie sich den Regeln dieses Mainstreams ganz unverkrampft komplett verweigert. Das ist vielleicht ihr größter Triumph.
2. Aldous Harding: "Designer"
Im Video zu "The Barrel" tanzt Aldous Harding mit einem hohen Hut auf dem Kopf eine Art Hexenballett und wirkt, wenn nicht durchgeknallt, dann zumindest äußerst rätselhaft. Das ist auch der Reiz ihrer scheinbar harmlosen akustischen Songs, deren zarte Arrangements an die frühen Belle & Sebastian erinnern: Die Texte geben ihren Sinn nie ganz preis, die Wendungen der Songs bleiben auf subtile Art unberechenbar. Musik, die einen nicht trägt, sondern schubst.
3. Vampire Weekend. "Father Of The Bride"
Wenn eine vielgeliebte Band sechs Jahre verschwindet und in dieser Zeit auch noch einen Multiinstrumentalisten und Songwriter einbüßt, ist die Fallhöhe gewaltig. Aber die New Yorker Hipster stopfen ihre Lieder immer noch fröhlich randvoll mit Nebenmelodien, Dylan-Zitaten, kitschigen Samples und allerlei Schubidus und sind dabei fast zu clever, aber eben nur fast. Berückend und berührend.
Von Ina Plodroch:
Rosalía: Singles
Das schlimmste am Sommersong des Jahres 2017 "Despacito" war nicht mal der Song "Despacito" selbst, sondern dass er eine ganze Welle an halbgaren Latino-Popsongs nach sich zog. Für Fans des Genres sicherlich in Ordnung, aber meins ist das nicht. Das ist wichtig, weil es unterstreicht, wie besonders diese Rosalía sein muss. Denn sie hat es geschafft, dass ich – obwohl ich eben mit Latino-Pop noch nie etwas anfangen konnte –genau so einen wähle. Wobei es noch ein bisschen komplizierter ist bei ihr:
Ihre ersten Songs mit 22 waren auch noch ganz traditionell. Flamenco. Den trägt sie immer noch im Herzen – aber sie hat sich geöffnet. Sie vermischt einfach, worauf sie Lust hat: Elektronische Musik, R’n’B, Reggaeton, Flamenco, Latino... So was sagt zwar jede Musikjournalistin und jeder Musikjournalist mindestens ein Mal pro Woche. Aber bei ihr stimmt es wirklich. "Millenial Flamenco" schreiben die Spanier. Corso hat sie erzählt:
"Ich bin in eine wahnsinnig neugierige Person. Ich interessiere mich für Architektur, für Fashion, für Literatur und Filme. All das spielt in meine Musik, in meine Musikvideos, in meine ganze Arbeit mit hinein."
Und zeigt wohl, warum ihre Songs so voller Ideen stecken, wie im Song: "Con Altura". Auch Obama scheint der Song zu gefallen, denn er hat ihn auf seine Sommerplaylist 2019 gesetzt. Reggaeton steht am Anfang dieses Songs. Und dann YouTube. Der "New York Times" hat sie erzählt, dass sie immer bei YouTube nach Sounds sucht – bei einer Dominikanischen TV-Show wurde sie fündig:
Dann schickt sie ihrem Freund – dem weltweit sehr erfolgreichen J Balvin – den Songentwurf per Whatsapp. Fertig ist der eigentliche Sommerhit des Jahres.
All das ist nun allerdings kein Album. Das hat sie schon Ende 2018 veröffentlicht. "El Mal Querer". Aber die sechs Singles, die sie 2019 veröffentlicht hat, ergeben ja fast schon ein Album – und sorgen für noch mehr Aufmerksamkeit. Und weil wir in einer Zeit leben, die so sehr von Playlists geprägt ist, und von 40.000 neuen Songs täglich bei den Streamingdiensten, sind Singles einfach manchmal die besseren Alben. Und bei Rosalía, ganz subjektiv gesprochen: Ihr Album: Top. Ihre Singles: Spitzenklasse. Gut, dass es Geschmackshierarchien zwischen Mainstream und Underground schon lange nicht mehr gibt, und Musikjournalistinnen und -Journalisten einfach gut finden können, was populär ist, fünf Latin Grammys gewinnt und was 15 Millionen Menschen monatlich im Schnitt hören.
100 gecs: "1000 gecs"
Wer schon so durch die Aufmerksamkeitsökonomie geschädigt ist, dass er ständig alle Songs weiterskippt, wird hier fündig: 10 völlig abgedrehte Stücke, in denen so richtig viel passiert. Internetpunk für alle, die auf Popmelodien stehen, sich aber ein bisschen zu fein für 08/15-Pop sind und gerne auch ein bisschen angeben mit dem eigenen Geschmack.
The Düsseldorf Düsterboys: "Nenn Mich Musik"
Die beste Kneipenmusik des Jahres, die es tatsächlich schafft, gleichzeitig lustig und melancholisch zu sein. Die Jungs aus Essen zeigen: Wer zweistimmig mit Gitarrenbegleitung singt, kann das auch ohne verschwurbelte Gefühlsduselei tun. Sie halten es simpel und alltagsnah mit Kaffe, Kippen und Partys, so als wäre das lockere Leben ohne Verpflichtungen einfach nie vorbei.
Von Adalbert Siniawski:
1. Lizzo: "Cuz I Love You (Deluxe)"
Allein der Auftakt des Openers: wow. Schon in den ersten Sekunden wird klar: Diese Frau hat eine Botschaft. Diese Frau schreit ihre Wut heraus.
"Never been in love before
What the fuck are fucking feelings yo?
Once upon a time, I was a ho
I don't even wanna ho no mo'."
What the fuck are fucking feelings yo?
Once upon a time, I was a ho
I don't even wanna ho no mo'."
Nicht der Spielball der Männer sein, ganz selbstbewusst bei sich sein, darum geht es Lizzo. Dabei entspricht Melissa Jefferson rein optisch nicht dem Idealbild einer mainstreamtauglichen Pop-Musikerin. Ich sag's mal so: Lizzo hat einige Pfunde zu viel auf den Hüften. Und doch präsentiert sich die US-Musikerin auf dem Cover splitterfasernackt, mit Fettfalten und Fettpolstern – nur das lange glatte Haar bedeckt schützend ihren Rücken. Zu so viel Offenheit gehört in unserer instagramoptimierten Welt Mut. Lizzo hat die Verletzungen aus Jugendtagen abgestreift. Sie ist keck und sexy.
Knackig und zeitgemäß arrangiert
Na klar, es ist von allem etwas zu viel. Wenn Lizzo wütend ist, singt sie lautstark ihre Lyrics. Der Beat zum Song "Boys" pumpt so aufdringlich, als hätten Robin Thicke und Pharrell Williams die Regler aufgedreht. Irgendwie machohaft. Aber: Warum sollte eine Frau das nicht genauso gut dürfen?, frage ich mich. Zumal wenn ein Album wie Lizzos "Cuz I Love You" so gut produziert ist: knackig und zeitgemäß arrangiert mit Klapperschlangen-Hi-Hats, Reime und Rhythmus sind auf dem Punkt. Eine gelungene Mischung zwischen R'n'B, Soul, Rap und Disco. Und da ist auch die starke Stimme von Lizzo – und die braucht kein Auto-Tune.
"Juice" – diesen Song hörte ich 2019 in den USA von den Bars in West-Hollywood bis zur Pride-Party in New York. Lizzo vermischt ihre Botschaft von der "Body Positivity" mit eingängigem Pop – damit hat sie mich und ihr Publikum elektrisiert. Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe mag 2018 mit ihrem Album "Dirty Computer" die Vorzeigefrau des neuen Feminismus gewesen sein. 2019 ist es Body-Positivity-Aktivistin Lizzo – sie hat wahren Mut bewiesen. Der Grammy kann kommen.
2. Trettmann: "Trettmann"
Wer schafft es, nachtblaue Erinnerungen an den Flirt im Klub von eben mit Reflexionen über den Holocaust zu verbinden? Dem Chemnitzer Rapper Stefan Richter alias Trettmann gelingt es ganz selbstverständlich im Track "Stolpersteine" – der Song tut nicht weh, er berührt. So poetisch und nachdenklich seine Texte auf dem Album "Trettmann" sind, so zurückgenommen (minimalische Klavier-Akkorde!) ist größtenteils auch die Musik. Klar, der Typ "verletzlicher Rapper" ist derzeit angesagt, aber niemand ist damit so überzeugend und gut wie Trettmann.
3. Steffi & Virginia "Work A Change"
Steffi und Virginia sind Resident-DJs der Panorama Bar in Berlin. Beide kennen sich schon von früheren Aufnahmen, etwa zum Track "Yours" der Niederländerin Steffi für ihr Debüt 2011. Die aus München stammende Virginia wiederum hat mit ihrer ersten LP "Fierce For The Night" 2016 für Aufsehen gesorgt. Auf "Work A Chance" treffen nun in sechs Songs die melodiösen und klug gemischten Beats von Steffi auf Virginias facettenreiche und soulige Stimme. Das Resultat ist verträumt-warme elektronische Musik aus dem bewährten Hause Ostgut Ton – und so gar nicht Berghain.
Von Sascha Ziehn:
1. Trettmann: "Trettmann"
Deutscher Hip-Hop nervt im Moment schon ein bisschen. Die Texte von Capital Bra, Samra, Meru, Kollegah und Co gleichen sich wie ein Ei dem anderen: Es geht um Kleidungsstücke von Gucci, verschiedene Rolex-Modelle werden aufgezählt und klimafreundliche Autos wie Mercedes AMGs, Lamborghinis oder Ferraris gepriesen. Es nervt einfach nur noch. Und dann gibt es da diesen einen deutschen Rapper, der in seinen Tracks Geschichten erzählt, die Liebe preist – und wirklich was zu sagen hat: Trettmann, geboren 1973 in Chemnitz und damit schon ein älteres Hip-Hop-Semester. "Grauer Beton", der Song in dem er erzählt, wie es sich anfühlt als "Wendekind" – und eine der tollste Zeilen im deutschen Hip-Hop ever droppt:
"Alle guten Dinge kommen von oben, der Zebrafink ist mir zugeflogen, und ab und zu hielt gleich dort wo wir wohnen, ein ganzer LKW voll mit bulgarischen Melonen"
Trettmanns neues selbstbetiteltes Album beginnt standesgemäß mit einem Signature-Sound. Kitschkrieg ist ein dreiköpfiges Produzententeam, das mit dem Rapper Trettmann eine Symbiose eingegangen ist. So gut wie alle Tracks macht Trettmann mit den dreien – und Kitschkrieg wiederum arbeiten fast ausschließlich mit Trettmann. Und die Musik von Kitschkrieg ist melancholisch, analogsynthesizerig, auf das Nötigste beschränkt,– und daher immer genau auf den Punkt. Sie passt perfekt zu Trettmanns nachdenklichem Autotune-Rap. Außerdem ist auf "Trettmann" ein Stück, das für mich jetzt schon zu den besten deutschen Hip-Hop-Tracks aller Zeiten gehört – weil es zeigt, dass Hip-Hop eben doch so viel mehr sein kann als nur Gucci und Rolex: "Stolpersteine".
2. Beirut: "Gallipoli"
Das fünfte Album von Beirut ist schuld daran, dass ich gerne die "Lippentrompete" spiele und zuhause lustig und nicht immer ganz tonsicher vor mich hintröte. Die Melodien auf "Gallipoli" sind ganz und gar wundervoll, wie dabei die Instrumente ineinandergreifen, dieses sehnsuchtsvoll Schwelgerische. Live ist das auch sehr schön – allerdings nerven die ganze Ausdruckstänzerinnen und –tänzer ein bisschen, die zur Musik von Beirut gerne einen Reigen um sich selbst tanzen und im Geiste Gänseblümchenketten flechten. Egal, tolles Album, mindestens 30 mal gehört in diesem Jahr!
3. Brannten Schnüre: "Durch unser zugedecktes Tal"
Apropos Gänseblümchenketten flechten: Dieses Bild passt auch zur Musik des Würzburger Duos Brannten Schnüre – komischer Name... Und wirklich sonderbare Musik, die ich aber faszinierend finde, in all ihrer Naivität. Brannten Schnüre machen so eine Art verrauschten Folk, vielleicht ein Weiterdreh von folkigen Krautrockbands wie Hölderlin oder Novalis. Auf dem neuen Album "Durch unser zugedecktes Tal" sind aber auch finstere, verschlungene und rein instrumentale Loop-Collagen drauf – und ich mag diesen Kontrast zwischen hoffnungslos naivem und naturverliebtem Gesang und den düsteren Instrumentalloops. Ganz eigenartige Musik, sehr speziell – und sehr einzigartig.