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Best-of 2020
Die Pop-Perlen des Jahres

Das Team des Corso-Musikmagazins hat zum Jahresende die Neuerscheinungen der vergangenen Monate gesichtet und die persönlichen Highlights von 2020 zusammengestellt: Ein subjektiver Blick auf das Musikjahr mit Hymnen gegen den Corona-Frust, japanischem Record-Porn und Melodien aus der Zukunft.

Gesammelte Beiträge des Corso-Teams |
    Musik auf Vinyl boomt: Zu sehen ist die Beatles Platte "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band".
    Welche musikalischen Perlen hatte 2020 zu bieten? (picture alliance / Daniel Kalke)
    1. Chee Shimizu: "Obscure Sound"
    Mein Highlight des Jahres ist ein Musikbuch. Es heißt "Obscure Sound" und der Autor ist der japanische Plattensammler und DJ Chee Shimizu. Darin führt Shimizu obskure Alben auf, die das abbilden, was er selbst "Organic Music" nennt: Sounds, die er aus den Randbereichen von Ambient, Elektronik, Jazz und Weltmusik herausdestilliert und zu einem neuen Genre erklärt hat. Shimizu hat dafür gesorgt, dass viele vor allem jüngere DJs zunehmend bereit sind, aus dem eng gestrickten Club-Korsett auszubrechen und ruhige, meditative, nicht für den Club konzipierte Musik in ihre Sets zu integrieren.
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    Die Neuauflage enthält 600 Alben unterteilt in Kategorien wie "Organic", "Ethnic", "Cosmic", "Meditative" oder "Floating", deren feine Unterschiede sich nicht jedem sofort erschließen, aber trotzdem bei näherer Betrachtung Sinn ergeben. Die Texte zu den Alben sind auf Japanisch. Menschen, die des Japanischen nicht mächtig sind, finden dennoch Zugang: Durch die im Buch abgebildeten Cover und hinzugefügten Albumtitel in englischer Sprache. Die Website "Resident Advisor" nannte das Buch einst den "Michelin Guide für Record-Nerds". Ein brillantes Beispiel für das, was man in England als Record-Porn bezeichnet.
    Von Steffen Irlinger

    2. Scooter: "FCK2020"
    3. Taylor Swift: "Folklore"
    4. Nick Cave: "Idiot Prayer"
    5. Arctic Monkeys: "Live at the Royal Albert Hall"
    6. AnnenMayKantereit: "12"
    2020 war in vielerlei Hinsicht ein wirklich doofes und unhandliches Jahr. Wer Donald Trump als US-Präsident nicht so mochte, konnte sich wenigstens über den Wahlsieg von Joe Biden freuen – und wer Taylor Swift bisher nicht mochte, über ihr Album "Folklore". Dieses Isolationsalbum steht ein bisschen für die Musik von 2020: Es war ein Jahr der besonderen Alben, der Abweichungen, der kreativen Hilflosigkeit – und das macht 2020 zu einem tollen Musikjahr, weil es eben nicht "business as usual" war, sondern Künstlerinnen und Künstler sich etwas überlegen mussten – und das in vielen Fällen auch gerne und ziemlich gut gemacht haben.
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    Taylor Swift hat ein Fast-Indie-Album gemacht, mit Bon Iver und Aaron Dessner von The National, es gab viele intime Live-Alben wie Nick Caves wunderbares "Idiot Prayer", das er ganz alleine am Klavier in einem Londoner Palast aufgenommen hat, ein Support-Live-Album der Arctic Monkeys für die Kinderhilfsorganisation War Child UK – die wegen der Coronapandemie weniger Spenden bekommen hat – und ein schön raues Quarantänealbum von AnnenMayKantereit. Ein Jahr der besonderen Alben eben. Und der besonderen Songs. Denn wir alle brauchen in Zeiten wie diesen einfach eine Band wie: Scooter - die es in einfachen Reimen auf den Punkt bringt: "Stuck On The Wrong Channel, Like Chained To A Dead Camel" – so fühlt sich 2020 für H.P. Baxxter an – und deshalb brüllraved er aus tiefstem Herzen und vollster Kehle: "FCK2020" – am Ende dann doch die Hymne des Jahres.
    Von Sascha Ziehn

    7. Son Lux: "Tomorrows I"
    8. Son Lux: "Tomorrows II"
    Zwei der herausstechendsten Veröffentlichungen dieses Jahres waren für mich die Alben "Tomorrows" I und II des amerikanischen Trios Son Lux. Im August und Dezember erschienen, definieren die drei Soundtüftler hier mit einer Mischung aus Elektronik, Filmmusik, Drama und Pop eine Version der Zukunft. Und gerade im Corona-Jahr 2020 nach vorne zu schauen und nicht in Nostalgie zu versinken, hat mich beeindruckt.
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    Son Lux‘s ausgefeiltes Songwriting klingt irgendwo zwischen James Blake, Tom Waits und kaputter Festplatte. Die Beats stottern, hören irgendwo auf, die Stücke lassen keine Refrains erkennen. Und es herrscht eine nihilistische Stimmung auf "Tomorrows" – so als hätte man Ryan Gosling als Officer K in "Blade Runner 2049", der in einem LA ohne Sonnenlicht mit seiner holografischen Freundin Joi zusammenlebt, einen persönlichen Soundtrack geschrieben. Son Lux, ein musikalischer Blick in die Zukunft, jetzt schon.
    Von Thomas Elbern

    9. Sophie Hunger: "Halluzinationen"
    Es war ein Rundumpaket: Ich bin seit langem begeistert von der Schweizer (inzwischen in Berlin-Kreuzberg lebenden) Musikerin Sophie Hunger, ihr aktuelles Album "Halluzinationen" hat mich auf kompositorischer, spielerischer und textlicher Ebene überzeugt und ich hatte ein interessantes, zuweilen witziges Telefon-Interview mit ihr zur Veröffentlichung der neuen Platte. Auch zur Situation für Künstlerinnen und Künstler in ihrer Schweizer Heimat, wo Hunger im Sommer ein paar Auftritte hatte.
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    Sophie Hunger: "Wir kennen da die Beamten und das heißt, wir können viel besser so kleine Bestechungs-Aktionen durchführen. Jeder hat einen Cousin, der bei der Polizei arbeitet oder so. Das heißt, wir kommen da mit so leicht illegalen Mitteln weiter. In Deutschland hab ich diese Möglichkeiten weniger ... Ich versuche natürlich ... Wie jeder Mafia-Boss, sind meine Hände immer sauber. Die Drecksarbeit machen auch bei mir andere Leute. (lacht)"
    Unabhängig von der viel diskutierten und kritisierten Situation von Musiker*innen mit starken Auftrittsbeschränkungen: Sophie Hungers "Halluzinationen" lohnt sich auf vielen Ebenen. Wer die alten, zum Teil chansonesken Songs von ihr mag, kann derartiges genauso hören wie dezente Elektronik, ein wenig Jazz, ein bisschen Krautrock und abwechslungsreich arrangierte Popsongs. All dies in einem Rutsch gespielt und aufgenommen in den berühmten Londoner Abbey Road Studios – sogar die kleinen elektronischen Spielereien wurden nicht als Overdubs hinzugemischt, sondern in Echtzeit eingespielt. Musik, die durch klangliche Details begeistert (auch durch den hervorragenden, im Jazz ausgebildeten Julian Sartorius am Schlagzeug), die in Melodien schwelgen lässt, die kracht und treibt und in den Texten von überschwänglichen Fantasiewelten genauso erzählt, wie von nebeliger Leere und kalt-berechnendem Maß, wie in "Rote Beeten aus Arsen".
    Sophie Hunger: "Es ist sicher so, dass ‚Halluzinationen‘ so von diesem Überschwänglichen spricht und ‚Rote Beeten aus Arsen‘ beschreibt eine Frau, wo das Kalkulierende Überhang nimmt und das - glaube ich schon - ist etwas, was ich auch ein bisschen in mir habe. Das ist vielleicht die Deutsch-Schweizerin in mir und die bekämpfen sich auch ein bisschen so, das Übermaß und das Maßvolle. Man weiß nie wer gewinnt. Also bei mir ist ganz klar, wer gewinnt. Nein, es gewinnt nicht die Steuererklärung."
    Von Anja Buchmann

    10. For Those I Love: "I Have A Love"
    Dieser Song überrascht und überrumpelt. "I Have A Love" von For Those I Love beginnt sehr beruhigend. Eine einfache, traurige Pianomelodie schwebt durch einen riesigen Raum - aber dann setzt plötzlich der Sprechgesang von David Balfe ein, der etwas Aggressives hat. Man denkt: Ah, hier kotzt sich jetzt jemand so richtig aus, aber seine Stimme kippt auch immer wieder ins Sanfte, Nachdenkliche. Und irgendwann wird klar: Balfe singt über den Tod seines bestens Freundes Paul. Er schwelgt in Erinnerungen, wünscht sich, dass diese Person noch da wäre. Pauls Tod macht ihn wütend, er vermisst ihn unheimlich, aber er weiß und verspricht auch: Ich werde dich nie vergessen und all das, was wir zusammen erlebt und durchgemacht haben. "I have a Love, and it never fades" – meine Liebe zu dir wird nie vergehen. Dann setzt irgendwann plötzlich dieser ravige Part ein und Balfe singt darüber, wie er diesen Teil des Songs seinem verstorbenen Freund damals im Auto vorgespielt hat und Paul gelächelt hat, als die Synthies und der Beat eingesetzt haben. Meine Liebe wird niemals vergehen, genau so wenig wie du, Paul. Eine beeindruckende Trauerarbeit in Wort und Sound.
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    Von Mike Herbstreuth

    11. Fiona Apple: "Fetch the Bolt Cutters"
    Bis zum April dieses Jahres hatte ich Fiona Apple fast vergessen. Die US-amerikanische Sängerin hat ihr letztes Album 2012 veröffentlicht – das macht in Streaming-Jahren ungefähr ein halbes Leben. Aber mit all diesen Marktgesetzen, die Spotify-Chef Daniel Ek den Musiker*innen vorzuschreiben versucht - jeden Monat neue Single, zwei Alben im Jahr - damit hat sie sowieso nichts am Hut. Trotzdem steht Fiona Apple mit beiden Beinen fest im Musikgeschäft, sie ist nach acht Jahren eben doch nicht fast vergessen, sondern sofort wieder präsent und wird von Kritiker*innen umjubelt. Das amerikanische Onlinemagazin "Pitchfork" holt sogar zur historisch besten Albumbewertung aus: 10 von 10 Punkten. Das gab’s noch nie. Und es stimmt, was sie schreiben: Keine Musik hat jemals so geklungen. Ihr neues Album "Fetch the Bolt Cutters" hat kaum etwas mit Standard-Popformeln zu tun und ist trotzdem keine Klassik oder Chanson oder sonst was. Das ist schon Pop, nur anders. Sie klatscht, schreit, stampft auf den Boden, atmet viel zu laut und ihre Stimme bröckelt und kratzt und ist dann wieder total stark und laut. Sie lässt das alles auf der Aufnahme. Ihr Sound ist damit nicht authentisch, sondern aufrichtig. Besser wurde es 2020 nicht.
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    Von Ina Plodroch

    12. The Strokes in Berlin
    Mein musikalisches Ereignis des Jahres war das Berlin-Konzert der Strokes am 14. Februar. Ist vielleicht vorhersehbar, dass beim Zurückblättern durch 2020 eine Liveshow hängenbleibt, in einer rappelvollen Columbia-Halle. Aber auch, wenn’s nicht mein bisher letztes Konzert geblieben wäre: Sensationell fanden es, glaub ich, sämtliche dreieinhalbtausend Anwesenden, die sich da haben wegblasen lassen. Weil die Strokes vierzehn Jahre nach ihrem letzten Berlin-Konzert immer noch eine irre New-York-City-Coolness verströmen, in Anzug, T-Shirt oder Lederjacke. Ihre Skinny-Jeans stehen ihnen auch noch. Der Sänger, Julian Casablancas, wirkte etwas derangiert. Oder vielleicht war das auch nur seine typische Frontmann-Haltung, eben nicht "der Kunde ist König", sondern: "Ich wär jetzt eigentlich gern woanders, aber na gut, dann sing ich halt." Hat er dann auch ordentlich, aber brillant waren die vier anderen - ein Präzisionsbeat von Schlagzeug und Bass und die zwei großartig miteinander spielenden Gitarristen.
    Die Strokes funktionieren zwar eindeutig über Attitüde und Stil und nicht irgendein Muckertum, aber um einen dermaßen euphorisierenden Druck hinzukriegen, muss man einfach eine sehr, sehr gute Band sein. Dass sie vor allem alte Songs spielten und nur zwei vom angekündigten neuen Album, war dann vielleicht doch Dienst am Publikum. Und jedenfalls haben sie bewiesen, dass dieses alte, totgeglaubte Konstrukt namens Gitarrenband immer noch glücklich macht, wenn man’s richtig anstellt. Und das kann man nicht streamen.
    Von Bernd Lechler
    Nikolai Fraiture, Nick Valensi, Julian Casablancas and Albert Hammond Jr. von "The Strokes" stehen in The Roundhouse in London am 19.2.2020 auf der Bühne.
    The Strokes im Februar 2020 (picture alliance / Capital Pictures / Martin Harris )

    13. Owen Pallett: "Island"
    Immer wieder schießen auf diesem Album windschiefe Streicher in die Höhe und durchstoßen das von einer Akustikgitarre gelegte Fundament. Wie immer hat Owen Pallett auch diesmal die Arrangements selbst geschrieben. Aber nie waren sie so ausgefeilt wie auf dem Album "Island". Sie zeigen, was ein Orchester im Pop leisten kann, wenn es mehr sein darf als ein klebriger Kitsch-Überzug, nämlich ein integraler Bestandteil der Songs.
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    Es ist dann auch der Sound, der die Schwere der Songtexte auffängt: Songs über kaputte Familien und zu viel Alkohol setzen einen ernsten Ton. Männlichkeit wird mit Wahnsinn gleichgesetzt. Das ist nicht unbedingt autobiografisch zu verstehen. Aber Owen Pallett hat schwere Jahre hinter sich, auch deshalb sechs Jahre Warten auf ein neues Album. Im Interview sagt Owen Pallett: "Wenn ich eins abschaffen könnte, dann wäre es der Zynismus. Ich klammere mich an die Hoffnung. Dafür lebe ich." Und das Album "Island" zeigt, was für große Musik dabei herauskommen kann.
    Von Christoph Reimann

    14. The Buggs: "Cartoon Life"
    15. Lost Horizons: "In Quiet Moments"
    16. Kraan: "Sandglass"
    17. Ane Brun: "After The Great Storm"
    18. Ane Brun: "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow"
    Viele Alben haben mich 2020 überrascht und begeistert, zuletzt die Post-Trip-Hop Melancholie von Plattenfirmenchef Simon Raymonde und seinem Nebenprojekt Lost Horizons. Oder auch das ebenso unerwartete wie unerwartet großartig gespielte neue Spätwerk der unkaputtbaren deutschen Fusion-Rock-Spezialisten Kraan. Das Album-Doppel von Folksirene Ane Brun war auch nicht schlecht, ach, es gäbe so viel. Deswegen nenne ich diesmal nur einen einzigen Song. Der ist eine echte Pop-Perle: klein (bzw. kurz), kompakt und schimmernd. Die Band heißt The Buggs, kommt aus Nordrhein-Westfalen, gilt noch als Geheimtipp und hat gegen Jahresende die Single "Cartoon Life" herausgebracht. Die Melodie ist gefällig, aber in den Details steckt teuflisch viel Arbeit und Wissen: von Prefab Sprout bis Robert Plants Gesangsmanierismen kann man hier einen Querschnitt britischer Musikgeschichte am Ohr vorbeirauschen hören. Und man hört dabei noch den letzten Schlag auf dem Ride-Becken. Handwerk, das begeistert.
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    Von Fabian Elsäßer