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Bestandsaufnahme afrikanischer Verhältnisse

Kriege und Katastrophen. Wenn von Afrika die Rede ist, dann oft in Verbindung mit Schreckensbildern und negativen Nachrichten. Die Journalistin und Afrika-Kennerin Birgit Virnich ermöglicht nun einen anderen Blick auf den schwarzen Kontinent.

Von Ruth Jung |
    In eindringlichen Reportagen berichtet sie über den Alltag der Menschen, erzählt von Hoffnungen und Anstrengungen. Da ist zum Beispiel Jane. Die 38-Jährige lebt in Kibera, einem Slumviertel in Nairobi. Wie Jane Anyango leben etwa zwei Millionen Menschen in den mehr als hundert Slums rund um die kenianische Hauptstadt. Seit Jahren verspricht Präsident Kibaki den Bewohnern eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. In Wahrheit jedoch, klagen die Bewohner, packten sich "Kibaki und die vierzig Räuber" ungehemmt die eigenen Taschen voll.

    Es sind Menschen wie Jane, die wirklich etwas verändern wollen an den unvorstellbaren Lebensbedingungen, unter denen vor allem Frauen und Kinder leiden. Jane organisierte einen Frauenmarsch durch die Elendsviertel, um der Gewalt der Stammesfehden und politischen Rivalitäten in der von Korruption zerfressenen kenianischen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Nun spielen die Frauen der neuen Frauenbewegung "Kibera Women for Peace" jeden Samstag zusammen Fußball auf dem Platz vor der Bezirksversammlung und entkommen so für ein paar Stunden ihrem harten Arbeitsalltag - und ihren Männern. Jane richtete eine Schreibwerkstatt ein und einen Computerkurs, und sie organisiert Mikrokredite, die den Frauen in den Armenvierteln ermöglichen sollen auf eigenen Füssen zu stehen.

    "Angefangen haben die Frauen vor Monaten mit 200 Shilling, mageren zwei Euro, die jedoch einer Familie im Slum schon über die Runden helfen können. Die Frauen seien eiserne Sparerinnen und bisher habe jede Einzelne das angesammelte Guthaben des Frauenkreises gut einsetzen, vermehren und am Ende der Woche
    mit Zinsen zurückgeben können, erklärt Jane stolz."


    Mit Reportagen wie der über die energische Jane aus Kenia vermittelt Birgit Virnich Leserinnen und Lesern Einblicke in einen unbekannten Alltag. Über sechs Jahre lang war die erfahrene Journalistin als Afrika-Korrespondentin für das ARD-Fernsehen in Nairobi tätig und bereiste den riesigen Kontinent in alle Himmelsrichtungen. Jede ihrer insgesamt neunzehn Reportagen ist mit einer Afrikakarte und Fotos versehen, die die Orientierung erleichtern. Mitgebracht hat Birgit Virnich Geschichten, die vor allem vom unbändigen Selbstbehauptungswillen der Afrikaner zeugen. Dieser geschundene, über Jahrhunderte ausgebeutete Kontinent birgt eine Kraft in sich, über die man nur staunen kann. Und überall sind vor allem Frauen Hoffnungsträgerinnen.

    "Wut im Bauch. Im Land der Aufrechten" ist die Reportage aus Burkina Faso betitelt. Dort begleitete Birgit Virnich einen Gewerkschaftsführer und einen jungen Rapper durch die Dörfer des von der Ernährungskrise schwer gebeutelten kleinen westafrikanischen Landes. Einst konnte sich das Land unter Führung von Thomas Sankara aus eigener Kraft aus kolonialer Herrschaft befreien. Heute ist Burkina Faso abhängig von Lebensmittelimporten.

    "'Unsere Großeltern haben von afrikanischer Hirse gelebt', erzählt Rapper Ibrahim. 'Wir Jungen ernähren uns vom Reis, weil wir glauben, dass das fortschrittlicher ist. Aber wir pflanzen nicht genug an, müssen ihn einführen und importierter Reis ist teuer. Wir sind in eine Preisfalle geraten.' Darüber reden die jungen Musiker bei ihren Auftritten. 'Wir müssen umdenken', so ihr Appell."

    Eine wichtige Einsicht. Denn nicht immer sind fremde Mächte allein schuld an den Problemen Afrikas. Die afrikanischen Eliten, das wird deutlich, sind in hohem Maße verantwortlich für die Misere. Birgit Virnich stellt junge Menschen vor - immerhin ist jeder dritte Afrikaner unter zwanzig -, die sich damit nicht abfinden wollen, auch wenn Protest und Widerspruch gefährlich sind. Junge Männer und Frauen, die sich nicht der trügerischen Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa hingeben. Manu etwa, ein bekannter Rapper aus Dakar: In seinen sozialkritischen Texten fordert er die senegalesische Regierung auf, für Arbeitsplätze zu sorgen, statt zuzusehen, wie sich die Jugend des Landes auf den lebensgefährlichen Weg über den Atlantik macht. Birgit Virnich begegnet ihren Gesprächspartner offen und unverstellt, doch immer mit der nötigen Distanz. Die mit mehreren Preisen ausgezeichnete Journalistin beschreibt anteilnehmend, aber sachlich, ohne sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Mutig nahm sie Gefahren und Strapazen auf sich, um sich ein Bild machen zu können, so wie beim Besuch eines Flüchtlingslagers in Dafur:

    "Mit unserem Geländewagen arbeiten wir uns auf Schotterpisten langsam voran. Je mehr wir uns dem Lager nähern, desto sichtbarer wird die Not. Wir sehen die ersten verendeten Rinder am Wegesrand. (...) Rund um die Flüchtlingscamps ist das Wasser knapp, da bleibt oft nichts mehr für die Tiere. Vor uns liegt Toulum mit seinen endlosen Reihen von Plastikplanen in der prallen Sonne. Die Zeltstadt platzt aus allen Nähten. Zelte, dicht an dicht, so weit das Auge reicht. Eine Megacity der Entwurzelten. Kein Baum, kein Strauch - alles verfeuert. Kein Schatten außerhalb der Zelte. Und es ist glutheiß, mindestens 45 Grad.

    Gewalt, Korruption und Geldgier verursachen eine Misere, die oftmals jede Vorstellungskraft übersteigt, daran lässt Birgit Virnich keinen Zweifel; einer tieferg ehenden politischen Analyse enthält sie sich allerdings. So können sich offizielle Sprachregelungen einschleichen, wo Kritik geboten gewesen wäre, zum Beispiel wenn von "freien Wahlen" im Kongo die Rede ist, wo doch tatsächlich Wahlbetrug an der Tagesordnung gewesen war.

    Birgit Virnich wollte jenen Menschen eine Stimme geben, die nie gehört werden, das macht ihre Reportagen unbedingt lesenswert. Es sind Bestandsaufnahmen afrikanischer Verhältnisse "von unten"; ein wichtiger Beitrag zum "afrikanischen Jahr 2010". Viele Länder Afrikas feiern nämlich die vor 50 Jahren erlangte Unabhängigkeit. Ein Jubiläum, das man hierzulande glatt vergessen hat.

    Birgit Virnich: "Ein Fahrrad für die Flussgötter. Reportagen aus Afrika", A1 Verlag, April 2010; 223 S., 19,80 Euro