Es war der Abend des 30. Dezember des Jahres 2003. Joan Didion und ihr Ehemann John Gregory Dunne hatten einen schweren Tag hinter sich. Ihre einzige Tochter Quintana lag mit einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung auf einer New Yorker Intensivstation. Nach dem Besuch im Krankenhaus gingen die besorgten Eltern nach Hause. Joan Didion bereitete ein Abendessen vor, schenkte ihrem Mann einen Scotch ein und machte Feuer im Kamin. Das Feuer, so dachte sie, würde sie beide zur Ruhe kommen lassen; es würde sie neue Kraft und Zuversicht schöpfen lassen, denn so war es in den 40 Jahren ihrer Ehe immer gewesen.
"Das Feuer sagte uns, wir waren zu Hause, der Kreis schloss sich, wir waren sicher für die Nacht."
In dieser Nacht wirkte der Bannkreis des Feuers nicht. John Gregory Dunne brach vor den Augen seiner Frau am Tisch zusammen. Seinen Tod datierten die Sanitäter im Protokoll auf 22.18 Uhr.
Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis Joan Didion es wagte, über den traumatischen Verlust zu schreiben. Am 20. Mai des Jahres 2004 öffnete sie eine neue Worddatei in ihrem Computer und notierte:
"Das Leben ändert sich schnell.
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen und das Leben, das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids."
Vier dürre Sätze. Allgemeingültiges, in dem kein Ich vorkommt. Wie auch? Das Leben, das Joan Didion vor dem Tod ihres Mannes geführt hatte, war von einem Moment auf den anderen ausgelöscht worden. 40 Jahre lang hatte sie fast jede Stunde des Tages mit ihrem Mann zusammen gelebt und gearbeitet.
Kennen gelernt hatten sich die beiden Schriftsteller Ende der 50er Jahre in New York. Sie heirateten im Jahr 1964, und von da an gehörte für sie Leben und Arbeiten zusammen. Joan Didion schrieb für große amerikanische Zeitungen, sie war Mitherausgeberin der amerikanischen "Vogue" und hat Romane und zahlreiche Essaybände veröffentlicht, die sie als kritische Beobachterin des politischen und kulturellen Lebens in den USA etablierten. Zusammen mit ihrem Mann schrieb sie auch zahlreiche Drehbücher.
Joan Didion und John Gregory Dunne waren ein intellektuelles Glamourpaar, und gleichzeitig erlebten sie etwas eher Seltenes: eine glückliche Ehe. An dem Abend, als ihre Zweisamkeit endete, passierte etwas, das die wortmächtige Intellektuelle erst im Nachhinein begreifen konnte:
"Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr magischen Denkens."
Joan Didion begann zu denken wie kleine Kinder. Sie war überzeugt davon, dass ihre Wünsche die Macht haben könnten, die Tatsachen zu ändern, Geschehenes ungeschehen zu machen:
"Ich konnte seine restlichen Schuhe nicht weggeben. Ich stand dort eine Weile, bevor ich begriff, warum: Er würde Schuhe brauchen, wenn er zurückkam.
Dass ich diesen Gedanken begriff, löschte ihn keineswegs aus."
Joan Didion glaubte aller Vernunft zum Trotz fest daran, ihr Mann würde zurückkommen. Dennoch ist es gerade die Vernunft, die ihr nach der Katastrophe peu à peu hilft, wieder einen Halt im Leben zu finden. Sie liest Sigmund Freud und Melanie Klein, forscht in den Studien des Soziologen Philippe Ariès. Praktische Orientierung findet sie in Emily Posts "Buch der Etikette" aus dem Jahr 1922. Der Ratgeber entstand in einer Zeit, als Trauer noch erlaubt war, noch Rituale kannte und einen Platz im öffentlichen Leben hatte. Auch der "Zauberberg" von Thomas Mann bietet Trost. "Sein Geist war verstört und geschmälert seitdem", liest sie im Roman über Hans Castorp, der nach dem Tod seiner Frau fast den Verstand verlor.
"Inschwierigen Zeiten, hatte man mir seit der Kindheit beigebracht, soll man lesen, lernen, es durcharbeiten, Literatur befragen. Information heißt Kontrolle. Angesichts dieser Tatsache, dass Leid immer noch die meist verbreitete aller Nöte war, schien die Literatur dazu bemerkenswert dürftig."
Joan Didion hat der schmalen Bibliothek des Trauerns ein wichtiges Werk hinzugefügt. In Amerika wurde das Buch, das vom nichts anderem als von Krankheit und Tod handelt, überraschenderweise ein sensationeller Besteller. Wer es sich genauer ansieht, begreift, warum das so ist: Sein eigentliches Thema, das nur zwischen den Zeilen zu lesen ist, ist die Liebe.
In der ersten Hälfte des Buches erzählt Joan Didion von der physischen Mühsal des Abschiednehmens: Sie beschreibt die Wucht der seelischen Schmerzen, die Schlafstörungen, das Stumpf- und Kaltwerden vor Gram und Sehnsucht. "Leid kommt, wenn es eintrifft, in nichts dem gleich, was wir erwarten", notiert sie nüchtern.
Die eingangs gleich gestellte "Frage des Selbstmitleids" scheint sie sich selbst im größten Schmerz immer wieder zu stellen. Ihr unpathetischer Sprachgestus und ihr präziser Blick verraten, wie sehr sie alles Sentimentale, Selbstmitleidige meidet und offenbar auch fürchtet. Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel hat den eigentümlich kontrollierten Erzählton von Joan Didion, ihr permanentes Auf-der-Hut-Sein sehr sensibel ins Deutsche übersetzt.
Auch im zweiten Teil des Buchs, in dem Joan Didion die Krankheitsgeschichte ihrer Tochter Quintana rekapituliert, wahrt sie selbst in den tragischsten Augenblicken einen klinisch-rationalen Blick auf die Situation. Wer den Verstand behält, hat alles unter Kontrolle, das hatte sie ja schließlich schon als Kind gelernt. Am Ende ihres Buches scheint sich diese Lektion zu bewahrheiten. Es sieht so aus, als sei die todkranke Tochter auf dem Weg der Besserung.
Doch bereits fünf Wochen nach Erscheinen des Buches sollte sich mit dem Tod von Quintana das Leben für Joan Didion erneut wieder in einem Augenblick ändern. Ein weiteres Jahr magischen Denkens stand ihr bevor und abermals die bitterste aller Einsichten:
"Ich weiß, warum wir versuchen, die Toten am Leben zu halten: Wir versuchen, sie am Leben zu halten, um sie bei uns zu behalten.
Ich weiß auch, dass, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen.
Sie zum Foto auf dem Tisch werden lassen."
"Das Feuer sagte uns, wir waren zu Hause, der Kreis schloss sich, wir waren sicher für die Nacht."
In dieser Nacht wirkte der Bannkreis des Feuers nicht. John Gregory Dunne brach vor den Augen seiner Frau am Tisch zusammen. Seinen Tod datierten die Sanitäter im Protokoll auf 22.18 Uhr.
Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis Joan Didion es wagte, über den traumatischen Verlust zu schreiben. Am 20. Mai des Jahres 2004 öffnete sie eine neue Worddatei in ihrem Computer und notierte:
"Das Leben ändert sich schnell.
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen und das Leben, das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids."
Vier dürre Sätze. Allgemeingültiges, in dem kein Ich vorkommt. Wie auch? Das Leben, das Joan Didion vor dem Tod ihres Mannes geführt hatte, war von einem Moment auf den anderen ausgelöscht worden. 40 Jahre lang hatte sie fast jede Stunde des Tages mit ihrem Mann zusammen gelebt und gearbeitet.
Kennen gelernt hatten sich die beiden Schriftsteller Ende der 50er Jahre in New York. Sie heirateten im Jahr 1964, und von da an gehörte für sie Leben und Arbeiten zusammen. Joan Didion schrieb für große amerikanische Zeitungen, sie war Mitherausgeberin der amerikanischen "Vogue" und hat Romane und zahlreiche Essaybände veröffentlicht, die sie als kritische Beobachterin des politischen und kulturellen Lebens in den USA etablierten. Zusammen mit ihrem Mann schrieb sie auch zahlreiche Drehbücher.
Joan Didion und John Gregory Dunne waren ein intellektuelles Glamourpaar, und gleichzeitig erlebten sie etwas eher Seltenes: eine glückliche Ehe. An dem Abend, als ihre Zweisamkeit endete, passierte etwas, das die wortmächtige Intellektuelle erst im Nachhinein begreifen konnte:
"Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr magischen Denkens."
Joan Didion begann zu denken wie kleine Kinder. Sie war überzeugt davon, dass ihre Wünsche die Macht haben könnten, die Tatsachen zu ändern, Geschehenes ungeschehen zu machen:
"Ich konnte seine restlichen Schuhe nicht weggeben. Ich stand dort eine Weile, bevor ich begriff, warum: Er würde Schuhe brauchen, wenn er zurückkam.
Dass ich diesen Gedanken begriff, löschte ihn keineswegs aus."
Joan Didion glaubte aller Vernunft zum Trotz fest daran, ihr Mann würde zurückkommen. Dennoch ist es gerade die Vernunft, die ihr nach der Katastrophe peu à peu hilft, wieder einen Halt im Leben zu finden. Sie liest Sigmund Freud und Melanie Klein, forscht in den Studien des Soziologen Philippe Ariès. Praktische Orientierung findet sie in Emily Posts "Buch der Etikette" aus dem Jahr 1922. Der Ratgeber entstand in einer Zeit, als Trauer noch erlaubt war, noch Rituale kannte und einen Platz im öffentlichen Leben hatte. Auch der "Zauberberg" von Thomas Mann bietet Trost. "Sein Geist war verstört und geschmälert seitdem", liest sie im Roman über Hans Castorp, der nach dem Tod seiner Frau fast den Verstand verlor.
"Inschwierigen Zeiten, hatte man mir seit der Kindheit beigebracht, soll man lesen, lernen, es durcharbeiten, Literatur befragen. Information heißt Kontrolle. Angesichts dieser Tatsache, dass Leid immer noch die meist verbreitete aller Nöte war, schien die Literatur dazu bemerkenswert dürftig."
Joan Didion hat der schmalen Bibliothek des Trauerns ein wichtiges Werk hinzugefügt. In Amerika wurde das Buch, das vom nichts anderem als von Krankheit und Tod handelt, überraschenderweise ein sensationeller Besteller. Wer es sich genauer ansieht, begreift, warum das so ist: Sein eigentliches Thema, das nur zwischen den Zeilen zu lesen ist, ist die Liebe.
In der ersten Hälfte des Buches erzählt Joan Didion von der physischen Mühsal des Abschiednehmens: Sie beschreibt die Wucht der seelischen Schmerzen, die Schlafstörungen, das Stumpf- und Kaltwerden vor Gram und Sehnsucht. "Leid kommt, wenn es eintrifft, in nichts dem gleich, was wir erwarten", notiert sie nüchtern.
Die eingangs gleich gestellte "Frage des Selbstmitleids" scheint sie sich selbst im größten Schmerz immer wieder zu stellen. Ihr unpathetischer Sprachgestus und ihr präziser Blick verraten, wie sehr sie alles Sentimentale, Selbstmitleidige meidet und offenbar auch fürchtet. Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel hat den eigentümlich kontrollierten Erzählton von Joan Didion, ihr permanentes Auf-der-Hut-Sein sehr sensibel ins Deutsche übersetzt.
Auch im zweiten Teil des Buchs, in dem Joan Didion die Krankheitsgeschichte ihrer Tochter Quintana rekapituliert, wahrt sie selbst in den tragischsten Augenblicken einen klinisch-rationalen Blick auf die Situation. Wer den Verstand behält, hat alles unter Kontrolle, das hatte sie ja schließlich schon als Kind gelernt. Am Ende ihres Buches scheint sich diese Lektion zu bewahrheiten. Es sieht so aus, als sei die todkranke Tochter auf dem Weg der Besserung.
Doch bereits fünf Wochen nach Erscheinen des Buches sollte sich mit dem Tod von Quintana das Leben für Joan Didion erneut wieder in einem Augenblick ändern. Ein weiteres Jahr magischen Denkens stand ihr bevor und abermals die bitterste aller Einsichten:
"Ich weiß, warum wir versuchen, die Toten am Leben zu halten: Wir versuchen, sie am Leben zu halten, um sie bei uns zu behalten.
Ich weiß auch, dass, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen.
Sie zum Foto auf dem Tisch werden lassen."