Militärische Ehren und Staatsbankett - das sind die beiden protokollarischen Ereignisse, die den Empfang eines ausländischen Staatsgasts zum Staatsbesuch machen. Der erste Teil war für Frank-Walter Steinmeier am Morgen eine leichte Pflichtübung: Abschreiten der Ehrenformation, dann Nationalhymnen. Das Protokoll gibt jede Bewegung vor. Eine staatspolitische Pflichtübung. Da kann nichts schief gehen.
Ganz anders das Bankett am Abend. Schon im Vorfeld: Gästelisten müssen geschrieben werden, wer kommt? Wer nicht? Reihenweise haben Oppositionspolitiker abgesagt. Cem Özdemir aber ist gekommen, mit einem großen Anstecker am Revers: auf Türkisch ein Appell, Meinungsfreiheit zu gewähren. Erdogan blickt irritiert, als ihm der deutsche Bundestagsabgeordnete beim Defilee vorgestellt wird. Doch es kommt noch heftiger. Tischreden gehören zum Staatsbankett. Der Bundespräsident beginnt.
"Deutschland ist reicher geworden durch die inzwischen fast drei Millionen Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben und in Deutschland zuhause sind."
Gedenken an NSU-Opfer
Frank-Walter Steinmeier preist die Türken in Deutschland und ihren Beitrag zur deutschen Volkswirtschaft. Menschen mit türkischen Wurzeln gehörten heute in allen Bereichen zur Gesellschaft dieses Landes. Und Steinmeier erinnert an die türkischen Opfer des Rassismus in Deutschland:
"Erst jüngst haben wir in der Aufklärung der Mordserie des NSU in den finstersten Abgrund des Hasses geblickt. Wir haben diese abscheulichen Verbrechen, und insbesondere ihre Opfer, nicht vergessen. Sie beschämen uns bis heute."
Doch Steinmeier tut auch, was die Kritiker dieses Staatsbesuchs von ihm forderten. Auch im festlichen Kerzenschein spricht er die Differenzen an, die diesen Besuch überlagern:
"Ich sorge mich als Präsident dieses Landes um deutsche Staatsangehörige, die aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert sind, und ich sorge mich auch um türkische Journalisten, Gewerkschafter, Juristen, Intellektuelle und Politiker, die sich noch in Haft befinden. Über eine Reihe von Einzelfällen haben wir heute Morgen ausführlich gesprochen."
Steinmeier schlägt einen historischen Bogen, erinnert an deutsche Politiker, Künstler und Intellektuelle, die in der NS-Zeit Zuflucht in der Türkei gefunden haben. Dann wieder die Gegenwart: "Vor 80 Jahren fanden Deutsche Schutz in der Türkei - heute suchen beunruhigend viele aus der Türkei bei uns Zuflucht vor wachsendem Druck auf die Zivilgesellschaft."
Gleichsetzung der heutigen Türkei mit Hitler-Deutschland?
An den 15 runden Tischen im Festsaal werfen sich die Mitglieder der türkischen Delegation unruhige Blicke zu. Kein Applaus der Gäste für die Worte des Bundespräsidenten. Erdogan habe die Rede als Gleichsetzung der heutigen Türkei mit Hitler-Deutschland verstanden, erklärt einer seiner Berater das, was dann folgt. Erdogan antwortet zunächst mit einer bieder abgelesenen Lobpreisung der deutsch-türkischen Beziehungen von der Waffenbrüderschaft im ersten Weltkrieg bis zur High-Tech-Industrie unserer Zeit. Dann legt er das vorbereitete Manuskript beiseite und spricht den Bundespräsidenten spontan und direkt an:
"Herr Steinmeier, Deutschland muss den Terror entschiedener bekämpfen. Tausende Mitglieder der Terrororganisation PKK laufen in Deutschland frei herum. Hunderte Mitglieder der Gülen-Organisation", die Erdogan für den gescheiterten Putsch gegen ihn verantwortlich macht.
Wer kein Türkisch kann, ist in diesem Moment verloren. Nur der vorbereitete Teil der Erdogan Rede war zuvor schriftlich an die Deutschen Gäste verteilt worden. Der Bundespräsident beugt sich angestrengt lauschend zum neben ihm sitzenden Dolmetscher hinüber. Schließlich auch von ihm höflicher Beifall, Händeschütteln. Gut zwei Stunden sitzt man bei Süppchen und Sauerbraten nebeneinander. An den Tischen wird zum Teil lebhaft diskutiert: Waren das nun protokollarische Grenzüberschreitungen? Geziemen sich so offene Worte bei einem Staatsbankett? Oder ist gerade das der richtige Rahmen dafür? Immerhin: Man ist im Gespräch. Wieder.