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Besuch in Steglitz

Und da die Geschichte der Schtetljuden viele Stimmen hat, hockten auch die Stimmen auf dem Dach des Zuges, im Wind, im Schneegestöber. Sie quasselten erregt durcheinander, denn sie erzählten alles, was in den Waggons passierte. Alles war wichtig und nichts unwichtig genug, um nicht registriert zu werden. Natürlich schrieben sie nichts auf, aber das brauchten sie gar nicht, weil Worte nicht verloren gehen auf dieser Welt, und Worte des Erinnerns schon ganz und gar nicht.

Von Siggi Seuß |
    Ich spreche sehr wenig und bin auch kein Unterhalter in Gesellschaft.

    Hilsenrath sitzt malerisch an einem Tisch in seiner Berliner Wohnung - und vor ihm die Groma. Meine Groma. Seine Groma. Er sitzt genau so zärtlich gebeugt, so konzentriert vor ihr, wie man vor einer Groma sitzen muss. Die Vorstellung, Hilsenrath könnte Der Nazi & der Friseur auf der Groma geschrieben haben, brachten mir das famose Buch und seinen famosen Autor noch näher.

    Joseph von Westphalen in einem Text zu Edgar Hilsenraths 70. Geburtstag vor acht Jahren.

    Das ist ein Artikel für die Leipziger Volkszeitung über Leipzig. Ich bin ja geboren in Leipzig. Ich hab ne Lesung am 6. Dezember und die wollen, dass ich einen Artikel mache. Hab ich gesagt: "Mach ich."

    Die Notwendigkeit, noch etwas ganz Wichtiges zu sagen. Hilsenrath:

    Hab ich nicht. Ich hab nach dem Schlaganfall noch zwei Bücher geschrieben. Den "Ruben Jablonski" hab ich nach dem Schlaganfall geschrieben und das neue Buch auch. Aber ich hab in dem letzten Roman, den noch unveröffentlichten, beschrieben, dass mein Held einen Schlaganfall hatte. Das war das Letzte - ein autobiografischer Roman über meine Rückkehr nach Berlin, aus der Emigration. Der Dittrich macht das. Er macht erst mal das Gesamtwerk und dann als letztes das neue Buch.

    Wie die Geschichten aufs Papier kommen.

    Also, die Umrisse sind im Kopf, aber alle anderen Ideen entstehen beim Schreiben. Ja, ich denk schon, aber ich - eine Art göttliche Eingebung. Weiß nicht, woher sie kommt - aber sie ist plötzlich da und ich schreibe.

    Ich schreibe ja auch fließend - als ob mir jemand das diktiert. Ich benütze Gott sozusagen als Märchenmotiv, weil es schön ist. - Ich hab früher oft zehn Seiten am Tag geschrieben. Manchmal auch zwanzig. Ich saß nachts in der Cafeteria, mit Bleistift hab ich geschrieben, mit Kugelschreiber. Das floss und floss und floss und floss.

    Ich hab früher immer geraucht beim Schreiben. Jetzt hab ich den Aschenbecher in der Küche. Ich steh ab und zu mal auf und rauch eine, geh raus. Früher konnte ich überhaupt nicht schreiben ohne Zigarette im Mund. Jetzt nicht mehr. Jetzt schreib ich ohne Zigarette und ab und zu geh ich mal raus. Das ist für mich eigentlich ein Vergnügen und eine Erleichterung, das Schreiben. Nur, ich hab keine Lust mehr, irgendwie. Ich hab mich schon bewiesen.

    Der rote Faden.

    Also, vom Thema her ist der Holocaust - aber nicht die tragische Seite, sondern einfach die groteske Seite des Holocaust.

    Wissen Sie, wie ein Herrenmensch seinen Einzug hält ... in der zertrümmerten Hauptstadt des Tausendjährigen Reiches? - Mit durchlöcherten Schuhen! Stinkenden Kleidern! Mit müdem Gesicht und geröteten Froschaugen! Und einem alten Sack auf dem juckenden Rücken, einem alten Sack, in dem die Zähne der toten Juden glänzen und grinsen!

    Um den antisemitischen Anfeindungen in ihrem Wohnort Halle an der Saale zu entgehen zog Hilsenraths Mutter 1938 mit dem 12-jährigen Edgar und seinem drei Jahre jüngeren Bruder in die rumänische Kleinstadt Sereth in der Bukowina, wo die Großeltern lebten.

    Das war ein kleines Städtchen mit ner jüdischen Majorität und ich hab mich da sehr wohlgefühlt. Also, meine Heimat war eigentlich die Bukowina. Ja, ja, ich glaube auch, dass ich meine Energien aus meinen Jugenderlebnissen in dieser kleinen Stadt in Rumänien verdanke. - Also, im "Jossel Wassermann" haben sie gesagt, das wäre ein bissel idealisiert, aber ich find das nicht, ich find das ganz realistisch. Is ein bissel verklärt, natürlich, aber damals empfand ich das wirklich als Paradies.

    Weil ich möchte, dass Sie meine Leiche nach Pohodna bringen, in das Schtetl, in dem meine Mutter - Gott hab sie selig - mich, den Jossel, Sohn des Habenichts Schloime Wassermann und Enkel des Schankwirts Leibl Wassermann, auf die Welt gebracht hat."

    Die Bukowina - die letzte Ruhestätte, die sich Edgar Hilsenraths "Jossel Wassermann" immer ersehnte.

    Ja, ich hab mir immer gedacht - aber das hat doch keinen Zweck. Was soll ich nach Rumänien? Ich werd doch hier in Berlin begraben werden, neben meiner Frau.

    Im Oktober 41 wurden wir in die Ukraine deportiert.

    Vom Paradies in die Hölle.

    Ich kriegte schwere Depressionen im Ghetto. Nicht weil ich Angst hatte, sondern ganz einfach weil - weil alles aufhörte. Es gab keine Bücher mehr, keine Freunde mehr, kein Privatleben - nix. - Und das war auch der Grund, dass ich nachher, als das KZ zu Ende war, war ich 18 - da hab ich gewusst, dass ich Schriftsteller werde. Wollte irgendwie schreiben, schreiben, schreiben - das war um alles loszuwerden.

    "Glaubst du, dass das Wimmern eines Säuglings wichtig ist?" fragte eine der Quasselstimmen.
    "Natürlich ist das wichtig."
    "Und das Krächzen eines alten Juden?"
    "Genauso wichtig."
    "Und wie ist es mit dem Furz des Wasserträgers, der im Sitzen eingeschlafen ist - auf seinem Holzkoffer - und der gerade vom häuslichen Glück träumt und vom flackernden Feuer im Küchenherd und von Rifke, die das Feuer schürt ... Rifke, die Bucklige mit ihrem Schwangerbauch?"
    "Es ist der Furz eines Träumers. Und der ist besonders wichtig."


    In Wirklichkeit ist wichtig jeder Atemzug eines einzelnen Individuums - sollte dokumentiert werden. Jeder Mensch hat sein eigenes Leben und nur er kann das empfinden - und was er empfindet, sollte gehört werden. Es wird aber nicht gehört. Ich glaube, die Leute lernen nicht viel. Die Geschichte wiederholt sich auch irgendwie. Weil, es gibt wieder - die neue Generation braucht irgendetwas, um ihre Aggressionen auszuleben.

    Der eigene Tod.

    Es gibt kein Leben nach - dem Tod - aber im Märchen. Ich geh darauf ein, aber natürlich gibt‘s das nicht. Ich bin überzeugt, dass es nix gibt. Ich denk nicht so weit. Ich beschäftige mich auch nicht mit dem Tod. Ein Gedanke, den ich immer verdränge. Irgendwann kommt er ja - aber er ist nicht relevant.

    Und der letzte Tag war ein Tag des Herrn wie alle Tage, seitdem die Welt erschaffen wurde. Und da der liebe Gott nicht immer sein wahres Gesicht zeigt, damit die Menschen nicht wissen, was er mit ihnen vorhat - nun, an Überraschungen eben -, damit sie rätseln und sich Fragen stellen oder keine, damit sie sich nicht langweilen ... deshalb war dieser letzte Tag ein freundlicher Tag, vollgesaugt mit sommerlicher Wärme, durchtränkt von den Gerüchen der großen Stadt, die aus Mülleimern kamen und Schornsteinen, Auspuffen und offenen Küchenfenstern, aus tausend und einer Duftquelle, aber auch trunken vom Duft reifer Früchte, die der Wind in die Stadt trug mit dem Atem der Blumenkelche und dem Flüstern der Gräser und Blätter.

    Zitate aus:

    Thomas Kraft (Hg.)
    Edgar Hilsenrath - Das Unerzählbare erzählen
    Piper Verlag, München 1996

    Edgar Hilsenrath
    Jossel Wassermanns Heimkehr
    Dittrich Verlag, Köln 2004

    Edgar Hilsenrath
    Der Nazi & der Frisör
    Dittrich Verlag, Köln, 2004