Birgid Becker: Steuerzuschüsse und ein Wegfall von Rentengarantien sollen für eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge sorgen. 60 Prozent der Beschäftigten erwerben Ansprüche auf eine Betriebsrente, zum Teil nur sehr kleine Ansprüche, und die Quote stagniert seit Jahren. Was erwarten Sie, die Frage an den Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell, gibt das Betriebsrenten-Stärkungsgesetz Auftrieb für das Betriebsrentensystem?
Stefan Sell: Wir haben ja zwei wesentliche Anreizkomponenten im Betriebsrenten-Stärkungsgesetz. Zum einen werden die Förderbeträge nach oben geschraubt und zugleich fügt man ja neben den bereits heute nicht unkomplizierten fünf unterschiedlichen Durchführungswegen, wie man eine Betriebsrente machen kann, jetzt noch einen sechsten Weg hinzu, nämlich die sogenannte Zielrente. Damit ist das Prinzip "pay and forget" für die Arbeitgeber gemeint, dass sie nicht mehr eine bestimmte Betriebsrente garantieren müssen, sondern nur noch die Beitragszahlung garantieren und alles andere wird dann dem Betriebsrentner überlassen. Insofern könnte man erwarten, dass es in Teilbereichen einen Anstieg geben wird. Das Problem ist: Sie hatten die Zahl genannt, 60 Prozent. Darunter sind aber ganz viele im öffentlichen Dienst, die alle durchgängig automatisch eine Zusatzversorgung haben. Das zählt auch als Betriebsrente. Wenn wir in der Privatwirtschaft schauen, haben wir heute nur noch einen Anteil von etwa 40 Prozent, die überhaupt Ansprüche erwerben, und viel höher ist das natürlich bei den Branchen und Unternehmen, wo eher die Geringverdiener sind.
"Man sägt ein Stück weit an dem eigenen Ast, auf dem man sitzt"
Becker: In Wirklichkeit ist der Kreis noch wesentlich exklusiver?
Sell: Absolut! Und hier kommen wir an ein großes Problem. Durch nicht unkomplizierte förderrechtliche Anreize will man ja vor allem auch verstärken, dass Geringverdiener eine Betriebsrente überhaupt bekommen, und dazu schafft man tatsächlich Anreize. Aber der entscheidende Knackpunkt ist, dass keiner dieser Neuregelungen wirklich jetzt zu einer flächendeckenden Betriebsrenten-Abdeckung der Arbeitnehmer führen wird, und das ist deswegen problematisch, weil die Bundesregierung ausdrücklich das Betriebsrenten-Stärkungsgesetz verknüpft mit dem Ziel, drohende mögliche Altersarmut gerade bei den Niedrigverdienern und den Normalverdienern zu vermeiden.
Becker: Riester kommt schon nicht an bei den Geringverdienern und bei denen, die von Altersarmut potenziell bedroht sind. Das Betriebsrenten-Stärkungsgesetz kommt dort auch nicht an?
Sell: Nein! Es wird in dem einen oder anderen Fall jetzt dann Betriebsrenten geben durch die Anreize. Aber in der großen Masse glaube ich das einfach nicht, weil es keine Verpflichtung gibt. Und da wo es einen Rechtsanspruch gibt für den Arbeitnehmer, dass für ihn eine Betriebsrente abgeschlossen wird, da ist es aber so, dass der Durchführungsweg die Entgeltumwandlung ist. Das bedeutet, Sie haben ja heute schon die Situation: Etwa 25 Prozent der Betriebsrenten werden ausschließlich von den Arbeitnehmern durch Entgeltumwandlung finanziert. Im Osten sind das sogar über 40 Prozent. Das heißt, die Arbeitnehmer bezahlen ihre eigene Betriebsrente ausschließlich selbst, indem sie einen Teil ihres Lohnes umwandeln. Das führt aber dazu, dass die Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung sinken, die ja weiterhin die Hauptsäule gerade für diese Menschen in der Alterssicherung bildet, weil je weniger Lohn ich verbeitrage, umso niedriger ist dann mein Anspruch auf gesetzliche Rentenleistungen. Das heißt, man sägt ein Stück weit an dem eigenen Ast, auf dem man sitzt.
"Die Betriebsrente ist eine kapitalgedeckte Altersvorsorge"
Becker: Erteilen Sie jetzt dem Betriebsrentensystem eine Absage? Es gibt ja auch Stimmen, die sagen rundweg, angesichts unsteter Beschäftigungsverläufe, angesichts häufiger Jobwechsel ist dieses Betriebsrentensystem eh kein Weg mehr.
Sell: Ja, da kommt das nächste Problem hinzu. Wir bräuchten eine ganze Stunde mindestens, wenn es um die Frage der Portabilität geht, also was passiert, wenn Sie die Arbeitgeber wechseln, wechseln müssen, nehmen Sie dann die Ansprüche mit oder nicht. Ich glaube, ein zentrales Dilemma liegt darin, dass man die Betriebsrente missbräuchlich instrumentalisiert für ein Problem, was man selber geschaffen hat. Man hat durch Rentenniveau-Absenkung in der gesetzlichen Rentenversicherung erhebliche Sicherungslücken geschaffen, vor allem bei den Gering- und Normalverdienern, die ansonsten kaum Einkommens- oder Vermögensquellen haben werden im Alter. Und jetzt geht man hin und sagt, na ja, die versuchen wir, jetzt wieder zu stopfen über die Betriebsrente. Die Betriebsrente ist aber eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. Das heißt, wenn ich dann noch eine Rente schaffe, die nur eine Beitragsgarantie beinhaltet, aber keine Leistungsgarantie mehr und die Arbeitgeber (für die verständlich, tolle Geschichte) von allen Haftungsrisiken befreie, dann habe ich natürlich den Aspekt, dass möglicherweise in der Zukunft dann auch diese knappen Betriebsrenten sogar von Vermögensschäden betroffen sein können, je nachdem wie die Kapitalmarktentwicklung abläuft. Deswegen: Eine Betriebsrente wäre nur sinnvoll, wenn sie add on, also oben drauf wie die Sahne auf dem Kaffee fungiert. Wenn beispielsweise auf Holland hingewiesen wird – in den Niederlanden, da haben wir tatsächlich ein flächendeckendes Betriebsrentensystem, wo es auch keine Garantien gibt. Aber was die Große Koalition bei dieser Argumentation immer verschweigt ist: Wir haben in den Niederlanden aber auch ein Grundrentensystem, was Altersarmut vermeidet, anders als bei uns.
Becker: Um auf diesen Themenkreis Altersarmut auch noch zu sprechen zu kommen. Eins steckt ja auch noch in diesem Gesetzespaket drin: Es soll höhere Bezüge für all diejenigen geben, die künftig aus Gesundheitsgründen oder wegen eines Unfalls nicht mehr oder nicht mehr voll arbeiten können. Es gibt Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten. Das ist eigentlich überfällig gewesen, oder?
Sell: Das ist von allen Seiten, die sich damit beschäftigen, schon lange angemahnt worden. Aber es tut mir leid: Als Überbringer schlechter Nachrichten muss ich auch hier wieder Wasser in den Wein gießen. Die Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten, die in Schritten erfolgen soll und zu etwa 50 Euro mehr im Jahr 2024 führen wird, gilt leider nur für alle Neurentner ab 2018. Das heißt, alle diejenigen, die jetzt schon Erwerbsminderungsrentner sind, haben von dieser überschaubaren, aber dringend notwendigen Verbesserung nichts.
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