Die Betroffenheit steht heute hoch im Kurs. Ob Rassismus, Klassismus, Ableismus, Sexismus – wer betroffen ist, scheint qua eigenem Erleben eine höhere Einsicht in eine Problemlage zu haben als andere. In mancher gesellschaftlichen Blase wird Unbetroffenen gar jedes Recht abgesprochen, sich ernsthaft äußern zu dürfen – es sei denn, als Ally, aka eifriger argumentativer Wasserträger der Betroffenen.
Wer aus der Warte der Vernunft, der Parteilosigkeit argumentiert, gilt schnell als unempathisch, uneinsichtig, kalt oder „moralisch verwahrlost“. Man denke nur an Wolfgang Thierse in der Debatte um die Identitätspolitik oder den reservierten Sozialpsychologen Harald Welzer in einer TV-Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine.
Dabei ist die Wertschätzung für Betroffenheit keineswegs so neu oder gefährlich, wie Möchtegern-Revolutionäre und Abendlandretter uns glauben machen wollen: Schon in den Siebzigern kultivierte man den Diskurs um die Betroffenheit, beispielsweise in feministischen Zirkeln, Sponti-Milieus, der „Dritte-Welt“-Bewegung oder der Antipsychiatriebewegung. Betroffenheit mobilisierte, einte Gruppen. Schon damals unkten Gegner, es entstünde ein inhaltsleerer Opferkult. Man warnte vor gefühlsduseliger Subjektivität bis hinein in die Wissenschaft. Zeitweise kippte „Betroffenheit“ in den Neunzigern sogar ins Lächerliche, bis sie wieder an Renommee gewann.
Essay und Diskurs untersucht, inwiefern sich die Siebziger wiederholen, was wir seitdem gelernt haben – und ob der Begriff der Gelassenheit aushelfen könnte: als Mittelweg zwischen subjektivem Tunnelblick und anteilsloser Vogelperspektive.
Florian Hannig ist promovierter Historiker und hat unter anderem zur Humanitären Hilfe, zu Empathie und Mitleid geforscht. Er ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur „Fachjournalistik Geschichte – Medien in Geschichte und Öffentlichkeit“ an der Universität Gießen. Zuletzt erschien von ihm: Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und der Bundesrepublik Deutschland.