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Betrug beim "Spiegel"
"Wir werden auf jeden Fall unsere Methoden überprüfen"

Nachdem sie einen Mitarbeiter als Fälscher entlarvt hat, sitzt der Schock bei der "Spiegel"-Redaktion tief. Im Gespräch mit dem Dlf erklären die künftigen Chefredakteure Steffen Klusmann und Ullrich Fichtner, was der Skandal für das Magazin bedeutet und wie die Branche darauf reagiert.

Ullrich Fichtner und Steffen Klusmann im Gespräch mit Bettina Schmieding |
    Das Verlagsgebäude des "Spiegel" in Hamburg 2018.
    Im Hamburger Verlagsgebäude des Wochenmagazins "Der Spiegel" wurde der Fälschungsskandal um Claas Relotius aufgedeckt. (picture alliance/dpa)
    Bettina Schmieding: Herr Fichtner, warum haben Sie sich entschieden, selber mit dem Betrug rauszugehen?
    Ullrich Fichtner: Wir haben in der vergangenen Woche mit dem Kollegen Relotius gesprochen und hatten Gelegenheit, die Vorwürfe mit ihm, so weit das möglich ist, zu klären. Und als dann das ganze Ausmaß der Affäre klar geworden ist und wir gesehen haben, dass von den 55 Originalbeiträgen, die er ungefähr für den "Spiegel" verfasst hat, womöglich die Hälfte, vielleicht noch mehr Texte Fälschungen enthalten oder ganz gefälscht sind, war klar, dass wir auf dieser Information nicht sitzen bleiben können und die Öffentlichkeit darüber nicht informieren können. Wir haben uns dann, auch im Gespräch mit Steffen Klusmann, innerhalb der Chefredaktion darauf geeinigt, dass wir das öffentlich machen, um eben auch von uns aus reinen Tisch zu machen und gar nicht darauf zu warten, dass da irgendwelche Gerüchte oder was auch immer entstehen können.
    Steffen Klusmann und Ullrich Fichtner gehören beide zum neuen Führungstrio des "Spiegel", das am 1. Januar 2019 die Chefredaktion übernimmt. Fichtner hat als Ressortleiter außerdem über ein Jahr lang mit dem bisherigen "Spiegel"-Journalisten Claas Relotius zusammengearbeitet.
    Fichtner: "Ein junger Reporter mit so vielen Talenten"
    Schmieding: Ihrem Text, Herr Fichtner, merkt man an, dass Sie mit ganz vielen Gefühlen im Bauch den Artikel über den Kollegen Relotius geschrieben haben, auch mit Wut geschrieben. Was macht Sie wütend?
    Fichtner: Ich weiß nicht, ob ich… Also, wenn ich wütend klinge, dann richtet sich diese Wut, glaube ich, vor allem gegen den Verrat an der Sache. Ich würde jetzt meine Wut nicht gegen die Person richten. Mich verbindet mit Claas Relotius eine kleine Geschichte, wenn Sie so wollen, weil ich glaube, dass ich zu seinen Entdeckern mit gehöre. Ich habe ihn damals beim Reporterpreis bei einer Preisverleihung kennengelernt und als Talent auch sofort bemerkt und mit ihm gesprochen und ihn dann auch als freien Mitarbeiter zum "Spiegel" geholt. Also insofern gibt es eine persönliche Verbindung. Aber entscheidend jetzt an dieser Stelle war, dass eben ein junger Reporter mit so vielen Talenten, schreiberischen Talenten, eben dieses Talent so wegwirft an ein völlig falsches Verhalten und jede journalistische Ethik dabei vermissen lässt. Das macht mich schon wütend.
    Fichtner: "Mein Verständnis ist ziemlich begrenzt"
    Schmieding: Bei aller Kritik: Ich hatte da auch das Gefühl, dass Sie in gewisser Weise Verständnis für ihn haben. Was haben Sie verstanden an dieser Geschichte?
    Fichtner: Ich weiß nicht. Ich glaube, als Reporter haben wahrscheinlich alle einen Perfektionsdrang und Journalisten im Allgemeinen wollen immer die besten Artikel schreiben. Vielleicht wenn es überhaupt eine Art von Verständnis geben könnte, dann für diese Art von Perfektionswillen. Aber, ehrlich gesagt, mein Verständnis ist ziemlich begrenzt mittlerweile, weil ich eben auch das Ausmaß des Betrugs erst langsam ganz begreife und mich wundere, wie jemand auch die Infrastruktur dieses Hauses derart ausnutzen kann.
    Schmieding: Er hat ihnen gesagt: "Mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer." Das stand in Ihrem Artikel. Woher kam dieser Druck?
    Fichtner: Also so wie er sich uns präsentiert hat, kommt er tatsächlich aus ihm selbst. Er berichtet es so. Man könnte ja nun denken, es wäre irgendwie der Druck in der Branche oder der Druck, den das Haus womöglich auf seine Mitarbeiter ausübt. Ich denke, dass davon keine Rede sein kann, weil ich das Haus auch gut kenne. Er hat es so dargestellt, dass er selbst eine Versagensangst verspürt, wenn er merkt, dass er bei Recherchen nicht weiterkommt, und dass dann seine Fantasie anspringt. Und ja, wie genau dann die Wege dort gehen, kann ich Ihnen leider nicht sagen, weil ich mich in diese Art Denken nicht hineinversetzen kann.
    Freude über gute Szenen und tolles Material
    Schmieding: Sie haben auch geschrieben, Teile von Relotius-Texten seien zu schön, um wahr zu sein. Warum wollten Sie das trotzdem glauben?
    Fichtner: Ich glaube, das wird eine Debatte sein, die uns länger beschäftigt. Das begegnet uns jetzt hier und da und ich würde gerne vermeiden, dass wir uns da in ein Missverständnis hineinreden. Texte dürfen schön sein, ohne im Verdacht zu stehen, falsch zu sein. Ich habe nicht gemeint, dass Texte, die schön sind, automatisch verdächtig sind. Aber tatsächlich gibt es bei Relotius eben, wenn man jetzt einmal mit dieser Brille des Verdachts auf die Texte guckt, gibt es Momente, wo man denkt, ja, das hätte man sehen können, wenn man diesen Verdacht früher gehabt hätte. Aber das ist die Rückschau. Im Augenblick, wo die Texte frisch sind und kommen, hat man sich, glaube ich, vor allem daran gefreut, dass die Szenen so gut aufgehen und dass der Reporter sie so gut gefunden hat und so tolles Material zusammengetragen hat. Dass es falsch war, konnte man nicht ahnen.
    Schmieding: Die Spiegel-Dokumentation, diese berüchtigte und berühmte Abteilung, die alle Artikel des "Spiegel" gegenrecherchiert, die kennt man für ihre Gründlichkeit. Können Sie da noch mal ran? Können Sie da noch was verbessern?
    Fichtner: Wir werden auf jeden Fall unsere Methoden überprüfen. Natürlich. Dieser Fall ist für uns Auftrag, noch mal genau hinzugucken, was wir da genau machen und wo es womöglich Schlupflöcher gibt in dieser Architektur, die ja nun immerhin in Jahrzehnten gewachsen ist und in Jahrzehnten auch eben erfolgreich gearbeitet hat. Ich denke, dass Claas Relotius auch immer sehr geschickt an der Stelle gefälscht hat, wo die Dokumentation oder wo jeder, der überprüfen möchte, gar nicht mehr hingucken kann. Es gibt im journalistischen Arbeiten immer den Moment, in dem der Journalist oder Reporter mit seinem Objekt oder seinem Gesprächspartner allein ist, und da gibt es keine Überprüfungsmöglichkeit. Da braucht es ein Grundvertrauen zwischen Redaktion und den Journalisten. Das ist bei Ihnen im Radio nicht anders als bei uns. Und das können wir auch nicht abschaffen.
    Klusmann sieht wenig Häme bei anderen Redaktionen
    Schmieding: Trotzdem: Dem Kollegen Juan Moreno, der geahnt hat, was Relotius da treibt, hat niemand glauben wollen. Welche systemischen Probleme sehen Sie?
    Fichtner: Dass ihm niemand hat glauben wollen, ist ja nicht richtig. Es war schwierig, diese Vorwürfe, die er erhoben hat, zu belegen und so zu beweisen, dass man sie eben als Grundlage für Handeln nehmen konnte. Ich glaube, das ist das Problem. Diese Vorwürfe wurden von Anfang an ernst genommen, aber sie waren sehr schwer zu erhärten, und man darf auch nicht vergessen, dass Claas Relotius sich auf eine sehr geschickte Weise verteidigt hat, die Beweise, die Vorlagen auch wirklich sehr plausibel widerlegt hat und zerpflückt hat, sodass sich immer wieder ein diffuses Bild ergeben hat, ähnlich wie in seinen Artikeln. Es ist so, es geht immer so ein bisschen Wahrheit und Lüge durcheinander und es war sehr schwer, das zu einer Handlungsgrundlage zu machen. Deshalb hat das länger gedauert. Ernst genommen wurden die Vorwürfe von Anfang an, aber sie waren eben sehr schwer zu erhärten.
    Schmieding: Steffen Klusmann, Sie übernehmen jetzt zum 1. Januar als Chefredakteur auch den "Spiegel", also werden Teil des Teams. Wenn Sie sich mal umschauen bei den Kollegen in der Branche: Beobachten Sie Häme?
    Steffen Klusmann: Nein, zur Zeit beobachte ich keine Häme. Erstaunlicherweise gibt es ein ziemlich großes Verständnis für das, was hier passiert ist. Ich glaube, das liegt auch daran, dass wir halt wirklich die Hosen runtergelassen haben und das sehr offensiv nach außen getragen haben und gar nicht versucht haben, da bestimmte Sachen unerwähnt zu lassen. Das hilft, aber das hilft natürlich am Ende auch nur bedingt. Da sollte man sich, glaube ich, nichts vormachen.
    Klusmann: "Das hat uns gerade noch gefehlt"
    Schmieding: Als ich den Artikel bei "Spiegel Online" gelesen habe, habe ich gedacht: Das hat uns jetzt gerade allen noch gefehlt, in Zeiten der "Lügenpresse"- und "Fake News"-Diffamierung. Ist das übertrieben?
    Klusmann: Nein, das hat uns natürlich gerade noch gefehlt. Das ist die Wahrheit. Und wir müssen jetzt alles tun, damit wir da nicht in dieses Narrativ reinkommen und das missbraucht wird, von Leuten zu ihren Zwecken, was hier passiert ist. Weil das ist hier schon ein sehr spezieller Fall. In gewissem Maße sind es natürlich "Fakes" und keine "Fake News", weil es Reportagen waren. Aber das macht es auch nicht besser. Aber klar, wir haben da jetzt die Verpflichtung, so gut aufzuklären, dass da nichts hängenbleibt. Und da müssen wir uns genau überlegen, was wir hier ändern müssen, damit so etwas im Idealfall nicht noch einmal passiert. Wobei, ausschließen kann man so etwas, das hat Ullrich gerade gesagt, wahrscheinlich nie.
    Faktenbasierte Geschichten und literarische Formulierungen
    Schmieding: Es sind schon ziemlich aufsehenerregende Geschichten, ziemlich tolle Protagonisten, die Herr Relotius gefunden hat: ein Guantanamo-Häftling, ein verhinderter Selbstmordattentäter, eine FBI-Mitarbeiterin, die sich in einen IS-Kämpfer verliebt. Hinterher ist man ja immer schlauer, aber haben Sie Herrn Relotius jemals gefragt, Herr Fichtner, wo er diese tollen Typen aufgetrieben hat?
    Fichtner: Wenn ich Gelegenheit dazu hatte, ja. Ich war, glaube ich, ein gutes Jahr, eineinhalb Jahre sein Ressortleiter. Er hat darüber auch zum Beispiel mit den Dokumentaren, die sie erwähnt hatten, gesprochen, die mit ihm darüber gesprochen haben und ihn solche Dinge gefragt haben. Und Sie würden sich wundern, wie plausibel seine Antworten darauf waren, wie er sie gefunden hat und auf welchen Wegen.
    Schmieding: Michael Born, Tom Kummer… Claas Relotius ist sicherlich nicht der Erste und er ist auch nicht der Letzte. Was sollte der Journalismus daraus lernen?
    Klusmann: Ich glaube, wir müssen daraus lernen, dass wir zum einen ein bisschen demütiger mit unserer Arbeit umgehen und dieses Streben nach Perfektion vielleicht nicht immer der Weisheit letzter Schluss ist – dass eine faktenbasierende, gut geschriebene Geschichte halt auch was wert ist und sie nicht, sozusagen, perfekt formuliert sein muss, also nahezu literarisch. Darüber werden wir hier in den nächsten Wochen wahrscheinlich ganz schön viel diskutieren. Weil an der Substanz unseres Journalismus lassen wir hier nicht rütteln, bloß, weil es jetzt diesen Fall gab.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.