Sina Fröhndrich: Wir beginnen aber mit einem Betrugsfall, den Gesundheitsminister Gröhe so kommentiert:
O-Ton Hermann Gröhe: "Es ist empörend, wenn zu Lasten von Pflegebedürftigen und ihren Familien Sozialkassen geplündert werden."
Fröhndrich: 230 Pflegedienste sollen betrogen haben. So steht es in einem Bericht einer Sonderermittlungsgruppe des BKA und des LKA in Nordrhein-Westfalen, über den der Bayerische Rundfunk und die Zeitung "Die Welt" berichten. Entstandener Schaden vielleicht im Milliardenbereich. Einige Pflegedienste sollen auch in Geldwäsche und Schutzgeldzahlungen verwickelt sein. Über den Betrug habe ich mit dem Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen gesprochen. Frage an ihn: Im vergangenen Jahr, da hatte sich der Betrug schon angedeutet. Jetzt ist von einem regelrechten kriminellen Netzwerk die Rede. Waren Sie überrascht von diesem Ausmaß?
Jürgen Wasem: Nein, das lag ja eigentlich nahe. Ostern letzten Jahres ist ja rausgekommen, dass es dort Netze von Betrügern gibt, und eigentlich war klar, das ist die Spitze des Eisbergs. Und wenn man dann mehr sucht, dann findet man auch mehr, und so ist es dann.
"Zum Teil macht der Patient mit"
Fröhndrich: Wenn wir uns jetzt diese Betrugsfälle anschauen, wie genau funktioniert das? Wer sind eigentlich die Protagonisten, Ärzte, Pflegekräfte, Patienten? Wer macht da mit, wer betrügt?
Wasem: Es gibt unterschiedliche Modelle im Einzelnen. Es gibt Modelle, da rechnet der Pflegedienst Leistungen ab über Patienten, die es tatsächlich gibt, und fälscht. Zum Teil macht der Patient auch mit. Zum Teil werden auch Patienten fingiert, die es gar nicht mehr gibt. Zum Teil braucht man dazu auch die Ärzte, die Bescheinigungen ausstellen. Das scheint aber der kleinere Teil zu sein.
Fröhndrich: Aber wie genau kann man jetzt dort Mechanismen entwickeln und Kontrollen durchführen, um solche enormen Betrugsfälle zu verhindern?
Wasem: Das ist eine schwierige Frage. Der Gesetzgeber hat ja relativ schnell dann im Herbst letzten Jahres schon reagiert und hat insbesondere im Gesundheitssystem die Prüfkompetenzen des Medizinischen Dienstes ausgeweitet. Der darf jetzt stärker in die Akten gucken, der darf nicht nur bei der Pflegeversicherung, sondern auch bei der Krankenversicherung nachprüfen, denn ein Teil der Patienten sind gar nicht pflegebedürftig im Rahmen der Pflegeversicherung, sondern kriegen Leistungen von häuslicher Krankenpflege im Rahmen der Krankenversicherung. Das heißt, der Gesetzgeber hat relativ viel, finde ich, schon gemacht.
Man muss eins sehen: Im Gesundheitssystem, wo die Patienten nicht den Arzt oder Pflegedienst oder die Apotheke bezahlen bei den Kassen, sondern die Kassen ja bezahlen und der Arzt der Sozialstation abrechnet mit den Kassen, da gibt es einen Graubereich. Den wird man in diesem System so auch kaum in den Griff kriegen.
"In Einzelfällen sind es bis zu mehreren 100 Euro pro Tag"
Fröhndrich: Gibt es da gar keine Möglichkeit, in diesem Graubereich für mehr Transparenz zu sorgen?
Wasem: Die Patienten müssen ja schon unterschreiben, dass die Pflegestation bei ihnen war. Das ist ein wichtiger Punkt, der, denke ich, dazu hilft. Nur Unterschriften kann man fälschen zum Beispiel. Was da letztlich nur helfen würde, aber das ist natürlich auch mit vielen Nachteilen verbunden, ist, dass man das System komplett umstellt, dass man sagt, nicht mehr die Sozialstationen oder andere rechnen mit der Kasse ab, sondern die rechnen mit dem Patienten ab. Der bezahlt und reicht die Rechnung nachher bei der Kasse ein. Da fallen eine ganze Menge Betrugsmöglichkeiten weg, aber man hat natürlich vor allen Dingen das Problem, dass Ärmere das dann vorfinanzieren müssen, und das ist schon ein Hammer.
Fröhndrich: Das wäre dann eine neue Baustelle, die sich da auftun würde. Wenn wir uns jetzt diesen Betrugsfall noch mal genau anschauen, was kostet das eigentlich? Welcher Schaden entsteht da?
Wasem: Das sind im Einzelfall bis zu mehreren 100 Euro pro Tag. Das hängt davon ab, was angeblich erbracht worden ist. Wir haben ja einmal kleinere Einsätze in Sozialstationen, aber wir haben ja auch bei Patienten, die schwerst beeinträchtigt sind, wirklich eine ganz intensive Betreuung, die bis zu einer 24-Stunden-Betreuung pro Tag gehen kann. Und wenn die fingiert worden ist, dann kommen natürlich wirklich ganz hohe Sätze raus. Und wie die Wirklichkeit ist, wie viel wir noch immer nicht wissen, ist ja unbekannt. Wir sind jetzt bei 230 von 13.000; das sind knapp zwei Prozent. Aber es kann natürlich sein, dass da noch eine Dunkelziffer ist.
"Misstrauen zwischen Gesundheitsberufen wird gestärkt"
Fröhndrich: 230 Pflegedienste meinen Sie. Das könnten noch mehr sein, die diese Strukturen ausnutzen?
Wasem: Auszuschließen ist das natürlich wirklich nicht. Mein persönlicher Eindruck ist - ich bin ja relativ viel auch im Gesundheitswesen unterwegs - ich würde wirklich sagen, die große Mehrheit, die ganz große Mehrheit der Pflegedienste bemüht sich, einen vernünftigen Job zu machen. Aber dass es da Nester gibt, wo auch Betrug praktiziert wird, ist klar. Den gibt es ja auch in anderen Gesundheitsberufen.
Fröhndrich: Und welchen Schaden, wenn wir das vielleicht jetzt nicht unbedingt in Form einer Zahl bilanzieren müssen, welchen Schaden tragen denn eigentlich andere Patienten oder auch Ärzte davon von solchen Korruptionsfällen?
Wasem: Ich finde zunächst mal, der Schaden ist, dass das System diskreditiert wird. Ich habe gerade gesagt, die große Mehrheit leistet nach meiner Überzeugung wirklich einen guten Job, und die geraten jetzt natürlich unter Pauschalverdacht. Und das Misstrauen zwischen den Gesundheitsberufen wird natürlich durch so was auch gestärkt. Wenn ein Arzt sich nicht sicher sein kann, dass der Pflegedienst vernünftig kooperiert, und umgekehrt, wenn rauskommt, dass auch Ärzte beteiligt sind, die übrigen Ärzte dann so was sehen, das ist für die Misstrauenskultur im Gesundheitswesen nicht gut. Und wir haben eh schon aus meiner Sicht zu viel Misstrauen und zu wenig Vertrauen im Gesundheitswesen.
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