Anna wurde vergewaltigt. Das behauptet sie zumindest. Jonas, der vermeintliche Täter, bestreitet ihre Vorwürfe. Einvernehmlichen Sex ist es gewesen – in seiner Version der Geschichte. Bis zum Ende von Bettina Wilperts Debütroman "Nichts, was uns passiert" fragt sich der Leser, wem er glauben soll. Aussage steht gegen Aussage. Und die Umstände der vermeintlichen Tat lassen die Sachlage nicht weniger widerspruchsreich erscheinen.
Anna und Jonas sind beide Ende 20. Anna hat gerade ihr Studium abgeschlossen, Jonas schreibt bereits an seiner Doktorarbeit und arbeitet als Dozent an der Universität. Die beiden lernen sich über gemeinsame Freunde kennen und sie beginnen eine lose Affäre. Denn schließlich ist Sommer, die Fußballweltmeisterschaft steigert sich auf zahlreichen Public-Viewing-Events zur milieuübergreifenden Euphorie und bis spät in die Nacht gibt es Bier zu kaufen am Späti. Im studentischen Umfeld gibt man sich unbeschwert und liberal. Sexuelle Übergriffe sind nichts, was hier passiert. Bis Anna Anzeige bei der Polizei erstattet.
Einer namenlosen Ich-Erzählerin geben beide Figuren ihre Erinnerungen zu Protokoll. Nachdem Anna sich auf einer Geburtstagsparty bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hatte, nutzte Jonas ihre Situation heimtückisch aus, sagt Anna. Sie habe das nicht gewollt, sei im Schockzustand aber unfähig gewesen, sich verbal oder physisch zu wehren. Jonas hält dagegen, Anna mehrmals gefragt zu haben, ob sie einverstanden sei und ob es ihr gefalle. Er sagt, sie habe beides bejaht. Wilperts Roman erzählt diesen Fall einerseits aus juristischer Perspektive. Hier werden Ermittlungen aufgenommen, Beweismittel wie Jonas' Computer und Handy konfisziert. Ein Urteil jedoch wird nicht gefällt. Am Ende des Romans stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Jonas ein. In der Begründung heißt es:
"Der Täter muss, um den Tatbestand der Vergewaltigung zu erfüllen, zur Überwindung des geleisteten oder erwarteten Widerstands Gewalt einsetzen. Das Ausüben des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen des anderen ist grob anstößig und geschmacklos, aber ohne den Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels aber nicht strafbar."
Vor dem Gesetz gilt also: Wenn keine Gewaltanwendung vorliegt, ist der sexuelle Übergriff nicht strafbar. Jonas' angebliches brutales Vorgehen kann Anna nicht beweisen. Aus Scham, wie sie sagt, gibt sie den Vorfall erst drei Monate nach der vermeintlichen Tat zur Anzeige. Selbst wenn Anna Verletzungen von einer Vergewaltigung davongetragen hätte, wären sie nach dieser Zeit verschwunden.
Juristisch zugunsten des Angeklagten
Während das Gericht also im Zweifelsfall zugunsten Angeklagten entscheiden muss, fällt das Urteil des sozialen Umfeldes allerdings geradezu gegenteilig aus. Im gemeinsamen Freundeskreis von Anna und Jonas bilden sich unverzüglich Fronten, als Gerüchte über den Vorfall die Runde machen. Man glaubt entweder dem Opfer oder ist überzeugt von der Unschuld des Täters. Zahlreiche Freunde, Familie, Ex-Partner und Arbeitgeber berichten der anonymen Erzählinstanz des Romans ihre Wahrnehmung und urteilen über den intimen und für beide Seiten schambehafteten Vorfall zwischen Anna und Jonas.
Bettina Wilpert macht sicher eine wichtige Beobachtung. Auf wenige Verbrechen wird in unserer Gegenwart mit einer derart unerbittlichen Frontenbildung reagiert. Entlarvend weiß die Autorin den moralischen Aktionismus darzustellen, mit dem eine linksautonome Gruppierung auf Annas Anschuldigungen reagiert. So gründen sie zum Beispiel eine "Support Awareness Group", obwohl Anna weder Mitleid noch Unterstützung von diesen fremden Menschen annehmen will. Der Gruppierung ist das egal. Lange bevor ein juristisches Urteil über Jonas' Schuld vorliegt, verübt sie Selbstjustiz. Ungeachtet dessen, dass Jonas jahrelang als aktives Mitglied den selbstverwalteten Verein unterstützt hat, will man mit ihm, einmal der Vergewaltigung bezichtigt, nichts mehr zu tun haben. Eine namentlich und geschlechtlich nicht genauer spezifizierte Person fordert mit dem Verweis auf ihre persönlichen Bedürfnisse den Ausschluss und damit die vorschnelle Verurteilung des Angeklagten.
"Die Person sprach weiter: Sie habe selbst ähnliche Erfahrungen gemacht, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, und Jonas würde sie triggern. Schweigen. Jemand fragte: Triggern? Was ist das? Jonas löst Erinnerungen an traumatische Erfahrungen in ihr aus, antwortete die Person. Jemand forderte: Jonas müsse Hausverbot bekommen. Dieser Ort ist ein Schutzraum, sagte eine andere Person aufgebracht. Vergewaltiger haben hier nichts zu suchen."
Jene heutzutage äußerst beliebten, stur inhaltistischen Lesarten rühmen Bettina Wilperts Roman gerade als wichtig, als tagesaktuell und mutig. Der Roman der Stunde, der Roman zu #MeToo, heißt es. Sicherlich behandelt dieses Buch vieldiskutierte und noch viel zu diskutierende Themen. Wo beginnt eine Vergewaltigung und wo endet die Ambivalenz einer sexuellen Interaktion? Wofür kann man Gesetze und Strafen verhängen und wo beschneiden diese Freiheit und Selbstbestimmung eines autonomen Subjekts? Wie unterstützen wir Opfer, wie behandeln wir Täter und wie wahren die Rechte aller Beteiligten während der Ermittlungen?
Didaktische Penetranz des Romans
Natürlich kann Gegenwartsliteratur diese Fragen thematisieren. Sie muss es sogar. Denn Literatur kann Nuancen und Ambivalenzen von Sexualität und Gewalt differenzierter ausdrücken als jedes Gerichtsurteil und jedes Moralpamphlet. Doch bei aller Relevanzverliebtheit unserer literarischen Gegenwart zählt zunächst einmal die ästhetische Qualität eines Romans.
Was jedoch im Fall von Bettina Wilperts "Nichts, was uns passiert" eine Ansammlung sorgfältig recherchierten Fakten als gute Literatur auszeichnen soll, bleibt äußerst fraglich. Wilperts Sprache wirkt einfallslos und sperrig. Nebensatzkonstruktionen, Bandwürmer indirekter Rede und Redundanzen markieren zwar den Versuch, mündliche Berichte zu imitieren. Als ästhetische Charakteristika können diese Stilmittel jedoch nicht überzeugen. Ähnlich ernüchternd präsentiert sich Wilperts formaler Gestaltungswille: Die Aneinanderreihung von Zeugenaussagen erschöpfen sich im Laufe des Romans in immer erkenntnisärmere Berichte, denen auch der rätselhafte Ich-Erzähler wenig Zusammenhalt verleihen kann.
Hauptproblem des Romans bleibt allerdings seine didaktische Penetranz. Mit geradezu jedem Satz scheint uns seine Autorin etwas erklären zu wollen. So erklärt sie uns nicht nur, über welche juristischen Schritte aus einer Anzeige ein Urteil wird. Wilpert erläutert uns auch die Unterschiede diverser polizeilicher Verhörmethoden und gibt eine Einführung ins Beamtendeutsch. Ganz nebenbei werden Vergaberechtlinien und Verpflichtungsdilemmata von Hartz IV thematisiert und en Passant auch noch die prekär befristeten Arbeitsverhältnisse von Nachwuchswissenschaftlern an deutschen Universitäten problematisiert.
Das sind alles sicher wichtige Themen, die einer gesellschaftlichen Debatte bedürfen. Diese aber alle in einem Roman unterzubringen, gelingt Wilpert nicht ohne unangenehm didaktischen Beigeschmack. Aus ihren vorbildlichen Rechercheergebnissen hätte Bettina Wilpert lieber eine Materialsammlung für den Gesellschaftsunterricht in der Mittelstufe gemacht, anstatt sich an einem Roman zu versuchen.
Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert"
Roman. Berlin, Verbrecher Verlag 2018, 168 Seiten, 19 Euro
Roman. Berlin, Verbrecher Verlag 2018, 168 Seiten, 19 Euro