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Bevor der Alltag verloren geht

Seit fast 25 Jahren ist die DDR Geschichte. Museen und Ausstellungsmacher sorgen dafür, dass sozialistische Lebenswirklichkeiten der Erinnerung nicht entgleiten. Die Ausstellungen unterscheiden sich jedoch: Wirbt das eine mit seiner Interaktivität, gibt sich das andere betont sachlich.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 03.10.2013
    "Also ein DDR-Museum ohne Trabi wäre irgendwie wie der Kaffee ohne Sahne. Das muss sein. Das wollen auch die Leute sehen und sich hier reinsetzen und sich fotografieren lassen. Das machen sie auch gerne."

    Stefan Wolle hat selber nie ein Auto besessen. Im "DDR Museum" an der Spree gegenüber vom Berliner Dom hat der wissenschaftliche Leiter seit 2006 den Alltag der DDR in anschaulichen Exponaten zusammengestellt.

    Soeben hat der Historiker sein dreibändiges Werk zu "Alltag und Herrschaft in der DDR" beendet. Neben "Aufbruch nach Utopia" über das Jahrzehnt des Mauerbaus liegt nun auch "Der große Plan" über die 1950er-Jahre auf dem Ladentisch. Der erste Band über die 80er, "Die heile Welt der Diktatur", zählt bereits zu den Standardwerken über die DDR - und hat die Ausstellung beeinflusst.

    "Jetzt kann man hier so hebeln und gucken, und hier schalten und alles Mögliche, was einem so Spaß macht an so einem Auto. Und kann sich amüsieren über die komische DDR, wo die Leute alle mit solchen Plaste-Autos rumgefahren sind."

    Würzt Wolle seine soliden populärwissenschaftlichen Bücher mit Witz und Ironie, treibt es das anschauliche "DDR Museum" für manchen Besucher zu weit: Dass man in dem Trabi virtuell fahren kann und dies auch noch Spaß macht, dafür erntet der Wissenschaftler bis heute Kritik: Die einen wollen nicht, dass die SED-Diktatur verharmlost wird, die anderen wehren sich dagegen, dass über die DDR gelacht wird.

    Die Frage, wie man sich dem Alltag in der DDR nähern soll, beschäftigt über die privaten Sammler und Liebhaber hinaus sowohl die Ausstellungsleiter öffentlicher Sammlungen als auch die Wissenschaftler eines noch jungen Forschungszweiges.

    Der Begriff selbst ist alles andere als klar, stellt Stefan Wolle fest. Beschreibt der Duden Alltag als das "gleichförmige tägliche Einerlei", will auch der Historiker nicht ein herausragendes Ereignis in den Mittelpunkt rücken, sondern: das morgendliche Aufstehen, zur Arbeit fahren, einkaufen, nach Hause fahren, Fernsehgucken. Ein Ausstellungsstück aus dem grauen Alltag der DDR ist das Mangeltagebuch von Ingeborg Lüdicke, Sachsen-Anhalt 1983:

    27.6: Bäuerliche Handelsgenossenschaft: Es gab Leitern. Riesige Schlangen
    20.7. Vergeblich nach Nägeln gefragt in Oranienbaum, Gossar, Gräfenhainichen, Wittenberg.


    Alltag, so scheint es, umfasst alles, was viele betrifft: Sich bilden und arbeiten, eine Familie gründen, wohnen und konsumieren, seinen Interessen nachgehen und Urlaub machen.

    Aus einer Sammlung von 200.000 Exponaten kondensiert das "DDR Museum" diesen Alltag als Geschichte zum Anfassen. Ein Konzept, mit dem sich das private Haus äußerst erfolgreich finanziert: Die Besucher drängeln sich zwischen den einer Plattenbausiedlung nachempfundenen Vitrinen. Sie ziehen hier eine Schublade auf und ideologisch durchsetzte Schulhefte hinaus, wühlen da in "Erichs Krönung", einem Mix aus Kaffeebohnen, Zuckerrüben und Zichorie. Im Küchenschrank taucht DDR-Geschirr, im Wohnzimmer die Antibabypille auf. Die Erläuterungen zum sozialistischen Alltag sind kurz - oder fehlen:

    Bauarbeiter:
    Ausbildung: Abschluss der zehnten Klasse, zweijährige Ausbildung, Gehalt 1988: 1110 bis 1370 Mark
    Chemikerin:
    Ausbildung: Abschluss der Erweiterten Oberschule 12. Klasse, Studium: 4 bis 5 Jahre. Gehalt: 1000 bis 1300 Mark


    Das DDR Museum in Berlin preist sich als eins der interaktivsten Museen der Welt
    Das DDR Museum in Berlin preist sich als eins der interaktivsten Museen der Welt (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    Nicht nur Spaß darstellen
    Das Haus preist sich selbst als eines der interaktivsten Museen der Welt. Es will nach eigener Aussage ermöglichen, "den Alltag in der DDR selbst zu erleben" - zum Beispiel im Original-Plattenbau-Wohnzimmer mit laufendem Fernseher und Durchreiche in die Küche. Hier soll das Leben der Mehrheit nachvollziehbar sein - nicht die individuelle Biografie.

    "Die meisten freuen sich über die ganz kleinen Gegenstände des Alltags. Beispielsweise das werden Sie auch nicht kennen, wenn Sie zu den armen Menschen gehören, die im Westen groß geworden sind: Weil diese Milchtüten ewig tropften, hat man die in so eine Plastebehältnis gestellt, dann oben aufgeschnitten und dann konnte man das auskippen. Und da schreien alle Juhu, wenn sie diese Dinge wiedersehen und wiederfinden. Oder sie sagen: Meine Oma hatte das. Oder: Meine Oma hat das heute noch. Die Wiederbegegnung macht eben einfach Spaß. Aber der Spaß ist zugleich auch das Problem. Wir wollen ja nicht nur Spaß darstellen."

    12.8. Alter Konsum bis 11.30 Uhr wegen Fliegenbekämpfung geschlossen
    13.8. Keine Filtertüten seit Anfang August


    Um den Vorwurf der Oberflächlichkeit zu entkräften, wurde die Ausstellung vor einigen Jahren durch einen politischen Teil erweitert: Wer durch eine Nebelwand läuft, befindet sich in der Welt hinter dem Alltag: im Machtbereich von Partei, Staatssicherheit und Sowjetunion - ein betretbares Stasi-Verhörzimmer, eine Untersuchungshaft-Zelle und etwas DDR-Opposition inklusive. - Auch das ein Teil des Alltags?

    "Das ist natürlich eine Gefahr in einem Museum, das es sich zur Hauptaufgabe gemacht hat, eine politische Diktatur darzustellen. Und da sind wir genau in diesem Spannungsverhältnis, was so leicht zu beschreiben und so schwer zu bewältigen ist: dass wir auf der einen Seite den ganz normalen Alltag darstellen mit Kindheit und Kindern und Schule und Erziehung und Einkaufen und Urlaub. Und was die Menschen so im Alltag gemacht haben. Auf der anderen Seite soll und muss das auch eingebettet sein und integriert in das politische System der DDR, also konkret in die SED-Diktatur."

    Betonte Sachlichkeit
    Einem anderen Konzept folgt das "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR", mehr als 100 Kilometer südöstlich von Berlin in Eisenhüttenstadt, der ersten nach dem Krieg gebauten sozialistischen Stadt. Seit Mitte der 1990er-Jahre wird in dem denkmalgeschützten Bau aus den 50er-Jahren, einer ehemaligen Kinderkrippe, gesammelt, erforscht und dokumentiert, was den sozialistischen Alltag prägte - und was sonst verloren gegangen wäre.

    Die Idee dazu hatte Andreas Ludwig bereits 1990. Gleich nach dem Mauerfall seien viele Dinge auf dem Müll gelandet, erzählt der Historiker. Als viele Betriebe schließen mussten, waren die frühere Arbeitskleidung und Büroausstattung sowie die sogenannte "rote Ecke" mit den Auszeichnungen überflüssig geworden.

    "Übrig bleiben ja nur ganz wenige Objekte, nämlich die, die die Phase des Wegwerfens überstehen. In den Museen hat man ja eine extreme Auswahl dieser Wegwerfzufälligkeit. Man nennt es auch die Müllphase. Was das übersteht, ist potenziell ein Kulturgegenstand. Man hebt eine Kaffeemühle nicht auf, weil man noch Bohnenkaffee kauft in ganzen Bohnen, sondern weil sie einfach so schön dekorativ da in der Küche steht."

    Ein "Sachzeugen-Archiv" wie das in Eisenhüttenstadt mit mehr als 170.000 Objekten ließe sich heute nicht mehr zusammentragen, darunter großteils Hausrat, viele Bücher und SED-Publikationen, Zahnputzbecher aus aufgelösten Kitas, Raritäten aus dem Westen wie Schallplatten oder für den Export bestimmtes Hotelgeschirr. Heute findet man Mitropa-Tassen oder -kännchen nicht einmal mehr auf dem Trödel - oder nur zu sehr hohen Preisen.
    Andreas Ludwig hat in seiner Zeit als Museumsleiter außer der Dauer- viele Sonderausstellungen mit konzipiert, darunter die aktuelle: "Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR." Und auch in seinem aktuellen Forschungsprojekt am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam geht es ihm darum, die materielle Kultur der DDR festzuhalten. Und zu erkunden, wie die Gegenstände genutzt wurden und was sie einmal bedeutet haben.

    "Sie sind ihrer Funktion entkleidet und sind kulturelle Zeichen geworden. Wenn man das systematischer macht, solche Gegenstände zu bewahren, dann sind sie in ihrer komplexen Hinterlassenschaft tatsächlich so was wie eine Ausrüstung einer Gesellschaft. Was brauche ich da? In jedem Auto lag, liegt ein Eiskratzer und ein Stadtplan. Der Stadtplan liegt jetzt aber da nicht mehr drin."

    Anders als das "DDR Museum" gibt sich die Eisenhütter Schau betont sachlich. Neben den Vitrinen lassen sich auf Bildschirmen Begriffe nachblättern, einzelne Exponate wie das DDR-Mofa "Schwalbe" werden über Kopfhörer erklärt.

    Das Verweilen etwa in den Räumen über Bildung und Arbeit, Familie und Kommunikation lohnt sich: Die Gegenstände sind so geschickt angeordnet und kontextualisiert, dass die versuchte Einflussnahme von Partei und Staat selbst auf die kleinsten Verrichtungen des täglichen Lebens deutlich wird. Auf einem Foto etwa mahnt ein großes Spruchband in einer Betriebs-Kantine:

    Unser Fünfjahrplan erfordert Menschen, die schöpferisch denken und entschlossen handeln.

    Auch die Kinderzeitschrift "Bummi" ist alles andere als ideologisch frei. Im Kapitel: "Arbeit - wie schön das ist" erzählt sie von den Muttis, die in der Kleiderfabrik arbeiten.

    Klaus sagt: "Weil meine Mutti arbeitet, haben alle Kinder etwas anzuziehen." Inge und Bärbel sagen: "Unsere Muttis arbeiten, damit sich alle Kinder über schöne Kleider und Hemden freuen können." Alle drei sind stolz auf ihre Muttis.

    Hubert Schmid, Peter Mitterrutzner, Szene aus "Magdalena" mit Alexander Duda, Peter Fasching, Franz Maier, Ursula Maria Burkhart
    Moped vom Typ Schwalbe im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. (Münchener Volkstheater/ Arno Declair)
    Alltag und Diktatur nicht mehr voneinander getrennt betrachten
    So verdichtet sich das Bild, dass der Arbeitsplatz in der DDR weit mehr war als etwa ein Bürotisch: Der Betrieb bot mit sozialen Leistungen, Kultur-, Konsum- und Freizeitangeboten für die Arbeiter und ihre Familien ein zweites Zuhause.

    "...und das ist ein Ansatz, den wir versucht haben, den Alltag, das heißt Alltag von Menschen, immer auch zu verstehen in Reibungsflächen gegenüber öffentlichen Anmutungen. Also ganz klar ist das beim Thema Bildung: Möchte ich, dass mein Kind das lernt, was es in der Schule lernt, oder finde ich, sollte es etwas anderes lernen. Das reicht aber bis in intime Sphären rein, etwa bei der Familie, wo die DDR tatsächlich versucht hat, steuernd einzugreifen - eine Vorstellung, die uns heute sehr sehr fremd ist."

    Dass die Forschung Alltag und Diktatur nicht mehr voneinander getrennt betrachtet, bezeichnet Stefan Wolle als Fortschritt. Im Blickpunkt stehe heute, wie sehr der Alltag von oben ideologisiert wurde - seinerseits aber auch die Diktatur trug.

    "Es war vor zehn Jahren noch anders. Da gab's auf der einen Seite Leute, die kein Ende finden konnten mit ihrer Stasi und den Stasidebatten und über Mauertote und Knast - und nichts anderes sehen wollten. Und das auch irgendwie loslösten aus der Lebenswirklichkeit, Alltag der DDR. Und das führte dazu, dass sich viele Menschen, die in der DDR gelebt haben, in dieser Form von Geschichtsdarstellung selbst nicht mehr wiederfanden."

    Immer noch umstritten ist, wie weit sich die DDR-Bevölkerung im täglichen Leben dem Einfluss von Staat und Partei entziehen konnte. Galten in den 50er-Jahren noch die Zehn Gebote der sozialistischen Moral von Walter Ulbricht, rückte die SED in den 70ern die so genannte "Zufriedenheit" der Menschen in den Vordergrund.

    Die späte Honnecker-Zeit tolerierte mit ihrer Idee einer sozialistischen Lebensweise - zumindest zeitweilig - den Rückzug ins Private, in die Datsche, auf den Zeltplatz oder vor den Fernseher. Stefan Wolle:

    "So in den 80er-Jahren konnte man das mit einigem Erfolg versuchen, sich aus allem irgendwie rauszuhalten. Das hing natürlich wiederum von der konkreten Position ab, ob man in der Partei beispielsweise war oder ob man in irgendeiner gehobenen Position gewesen ist. Da war das natürlich nicht möglich. Aber so als Alltagsmensch, als Durchschnittsbürger, als Arbeiter zum Beispiel, wer konnte einem da groß an den Karren fahren? Wenn Feierabend war, dann ging man eben."

    In Eisenhüttenstadt ist von der Nische die Rede, "in die der Einfluss von Partei und Staat nicht hineinreichte". Allerdings, schränkt Andreas Ludwig ein, habe die DDR von ihren Bürgern eine aktive Partizipation gefordert - sei es das Flaggen am 7. Oktober, sei es Mitglied zu sein in einer Massenorganisation oder Partei:

    "Je länger ich mich mit dem Alltag in der DDR beschäftige, je deutlicher wird mir diese subtile Pression, die auf den Menschen gelegen hat und je stärker interessiere ich mich für die strukturellen Rahmenbedingungen, also zum Beispiel durch die Massenorganisationen, die da eine Rolle gespielt haben. Ich finde, dass das zum Alltag unbedingt reingehört, diese Alternativlosigkeit - weitgehende."

    Das individuelle alltägliche Verhalten, die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Interessen, aber auch Sorgen zeigen beide Museen nicht. Stefan Wolle, der selbst von der Universität flog, sieht den banalen Alltag nicht davon berührt, ob jemand im Räderwerk mitlief oder sich quer stellte.

    "Die Lebenswelten dieser Leute waren natürlich relativ ähnlich, denn egal ob man überzeugter SED-Genosse war oder erbitterter Gegner des Systems und nur mit der Faust in der Tasche rumgelaufen ist, trotzdem stand man - wenn man einen Klempner brauchte - vor genau dem gleichen Problem: dass es keinen Klempner gab."

    Zwischen Nostalgie und Repression
    Gerade diese Zwischentöne knöpft sich eine dritte Ausstellung vor, die im November in der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg eröffnet werden soll. Als Teil des Bonner und Leipziger Hauses der Geschichte wird der ehemalige Pferdestall der Schultheiss-Brauerei über den Alltag in der DDR informieren. Der Ausstellungsleiter Mike Lukasch über das damalige Erleben vieler Menschen:

    "Natürlich wussten sie um die Allgegenwart dieser Partei und auch dieses Staates, aber in ihrem Alltag mussten sie sich arrangieren und haben unterschiedliche Wege gefunden, und das ist genau das, was wir hier versuchen darzustellen, damit eben nicht der Eindruck entsteht, es war so oder so: also entweder nostalgisch oder repressiv. Sondern, und das ist das Spannende auch an der Geschichte der DDR, dass es etwas dazwischen gab."

    Ein Thema ist das Kollektiv und der Einzelne in der Arbeitswelt. Wie in Eisenhüttenstadt zeigt die Ausstellung, was an den Betrieb angedockt war: die Brigaden, die Aktivitäten, die Ferienangebote, die Kinderbetreuung. Sie geht aber einen Schritt weiter.

    "Und von hier aus erzählen wir natürlich dann anhand von biografischen Beispielen: Wie sind die Menschen damit umgegangen? Welche Konflikte gab es? Was bedeutete es zum Beispiel, wenn jemand aus einer Brigade fliehen wollte bzw. aus der DDR fliehen wollte, es nicht geschafft hat. Was machte das mit der Brigade, mit denen, die sozusagen dageblieben waren. Beziehungsweise wie ging damit um, mit diesen Menschen? Verurteilte man das? Begrüßte man das? Hatte man Verständnis?"

    Es gehe hier nicht so sehr darum, die Objekte anzufassen oder sie in Vitrinen zu bestaunen, betont der Historiker Lukasch. Sondern es gehe darum, sie einzuordnen. Sonst bestehe die Gefahr, dass ihre Bedeutung in Vergessenheit gerät. Oder dass die nostalgische Erinnerung Oberhand gewinnt.