Philipp May: Vor der Sendung, noch bevor gerade die Freilassung eines in der Türkei festgenommenen Deutschen bekannt geworden ist, habe ich mit Johannes Kahrs gesprochen, SPD-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Ich habe ihn gefragt, ob er genauso überrascht gewesen ist von dem Vorstoß von Martin Schulz wie alle anderen politischen Beobachter.
Johannes Kahrs: Überrascht war ich nicht. Das Verhalten von Herrn Erdogan in den letzten Wochen und Monaten lässt auch der Bundesrepublik Deutschland gar keine andere Wahl. Deswegen ist das richtig und konsequent.
May: Aber ganz offensichtlich war die Linie der Partei am Freitag noch eine andere. Laut der Kanzlerin hat sie sich da noch mit dem SPD-Außenminister Sigmar Gabriel abgesprochen, dass die Beitrittsverhandlungen offiziell nicht abgebrochen werden sollen. Was ist seitdem passiert?
"Ich bin selber lange Zeit großer Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei gewesen"
Kahrs: Es gibt natürlich eine Absprache zwischen den beiden, zwischen Sigmar Gabriel und Martin Schulz, und natürlich wird auch jedes Mal abgewogen, wo da die Schwerpunkte sind. Intern bei uns war das keine Überraschung. Ich habe jetzt auch noch mal zur Vorbereitung auf diese Sendung mit meinen Kollegen gesprochen. Es war allen Beteiligten klar, dass das entsprechend passieren muss, weil diese Beitrittsverhandlungen nur Sinn machen, wenn da die Türkei, die demokratisch gesinnt ist, sich auf Europa zubewegt. Das hat es eine Zeit lang gegeben. Ich bin selber lange Zeit großer Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei gewesen. Aber das wird nicht funktionieren, solange Erdogan Staatspräsident ist und sich so verhält, wie er sich verhält.
May: Herr Kahrs, ich würde Ihnen an dieser Stelle gerne noch mal vorspielen, was Sigmar Gabriel noch im April über einen möglichen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gesagt hat. Da gab es schon das Referendum über die Präsidialdemokratie der Türkei und da hat sich die Türkei auch schon lange nicht mehr auf Europa zubewegt. Hören wir da mal rein:
O-Ton Sigmar Gabriel: "Die deutsche Bundesregierung ist strikt dagegen, dass wir die Gespräche abbrechen. Das bringt nichts. Wir halten den Abbruch der Gespräche für die völlig falsche Reaktion. Die Türkei bleibt ein großer Nachbar. Selbst in der Militärdiktatur-Zeit haben wir übrigens in der NATO die Türkei nie ausgeschlossen. Warum sollten wir ein Interesse daran haben, sie jetzt in Richtung Russland zu drängen. Diejenigen, die zuhause gerne Beifall bekommen möchten dafür, dass sie nun sagen, wir reden nicht mehr mit der Türkei, die werden hier am Ende nichts in der Türkei ändern, sie werden den Menschen dort nicht helfen …"
"Erdogan verhält sich immer unerträglicher"
May: Das war SPD-Außenminister Gabriel im April, nach dem Referendum wie gesagt. - Warum gilt das alles nicht mehr?
Kahrs: Im Kern ist es doch so, dass wir natürlich langfristig eine gute Beziehung mit der Türkei brauchen und auch mit den Türken. Wenn man sich das Ergebnis bei der Wahl zum Staatspräsidenten in der Türkei anguckt, dann hat es ja auch nur eine knappe Mehrheit für Erdogan gegeben. Das heißt, langfristig brauchen wir die Türkei. Wir müssen mit der Türkei gut zusammenarbeiten. Ich bin ein großer Fan davon. Ich war ja selber Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Und ehrlicherweise ist es auch so, dass wir wollen, dass die Türkei NATO-Mitglied bleibt.
Fakt ist aber - und das hat sich einfach verändert in der letzten Zeit -, dass Erdogan sich immer unerträglicher verhält, immer undemokratischer wird. Und irgendwann muss man auch mal einen Schlussstrich ziehen, was denn diese Beitrittsverhandlungen angeht, weil diese Beitrittsverhandlungen, die setzen ja auch weiterhin voraus, dass die Türkei sich auf dem Niveau bewegt, was wir erreichen wollen, gerade was demokratische Standards angeht. Deswegen und genau deswegen war das, was Martin Schulz gesagt hat, richtig.
May: Aber noch mal, Herr Kahrs. Was hat sich denn im Grat der Unerträglichkeit von Erdogan geändert von April bis jetzt?
Kahrs: Wenn Sie sich Sigmar Gabriel angehört haben, dann hat er gesagt, dass wir weiterhin mit der Türkei reden müssen. Das sehe ich auch so.
May: Genau. Und in diesem O-Ton hat er sich auf Sebastian Kurz bezogen, den Außenminister von Österreich, der ja ganz klar einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen gefordert hat. Und er hat gesagt, das wollen wir genau nicht.
Kahrs: Ich habe ja gar kein Problem damit, dass wir weiterhin mit der Türkei reden. Das halte ich übrigens auch für richtig und wichtig. Ich halte es aber für einen eklatanten Fehler, sich jetzt hinzustellen und zu sagen, dass man die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einfach so weiterführen kann.
"Vorbeitrittshilfen machen im Moment keinen Sinn"
May: Aber die werden ja zurzeit gar nicht geführt, sondern die sind eh ausgesetzt.
Kahrs: Es werden ja sogar noch Gelder gezahlt. Es gibt Vorbeitrittshilfen. Und natürlich macht das im Moment keinen Sinn. Wie gesagt: Ich bin großer Fan davon, dass wir mit der Türkei klar kommen. Ich bin auch ein großer Fan davon, dass die Türkei vielleicht langfristig Mitglied der Europäischen Union ist. Und den Konflikt, den wir mit Erdogan zurzeit haben, darf man auch nicht zu einem Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei hochstilisieren.
Was man machen muss ist, dass man guckt, dass man die bilateralen Gespräche, so sie denn möglich sind, weiter fortführt. Aber die Beitrittsverhandlungen, wo man der Türkei denn sagt, dass sie sich auf dem demokratischen Niveau bewegt, das kann man nicht machen, und deswegen gibt es die Absprachen in der SPD. Deswegen gibt es jetzt diese klare Ansage. Und ich glaube, Frau Merkel ist dann ja auch noch kurz zum Zögern eingeschwenkt.
May: Tut die SPD Erdogan damit nicht einen Gefallen? Ein EU-Beitritt der Türkei ist ja derzeit sowieso undenkbar. Aber jetzt kann Erdogan sich erst mal wieder als Opfer darstellen, das von der EU nicht gewollt wird. Macht er übrigens schon: Sein Sprecher spricht von Staats-Hooliganismus und Populismus.
Kahrs: Na ja. Erdogan kann sich wunderbar in Szene setzen, interessiert sich relativ wenig für Europa, und das ist für ihn alles innenpolitischer Wahlkampf, den er dauerhaft führt. Da darf man ihm auch nicht auf den Leim gehen. Wie er sich da geriert, das ist sein Problem. Im Kern muss man aber auch als Bundesrepublik Deutschland, als Europäische Union klar sein, für welche Werte man steht und für welche man nicht steht. Der Staatspräsident Erdogan hat sich von dem weit entfernt, was er früher selbst verkündet hat. Anfang der 2000er, 2005 fortfolgende, war er jemand, mit dem wir wunderbar Beitrittsverhandlungen durchgeführt haben, die große Erfolge gezeigt haben, was man auch an der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei sieht. Zurzeit ist es aber so, dass er Hals über Kopf in Richtung Quasi-Diktatur geht, und das, finde ich, sollte die Europäische Union, die Bundesrepublik Deutschland nicht durch weitere Beitrittsverhandlungen adeln. Deswegen ist es richtig, dass man das stoppt. Deswegen ist es auch richtig, dass man die Vorbeitrittshilfen, die zurzeit fließen, auch stoppt.
Nicht Erdogan und den "Radikalinskis" in die Hände spielen
May: Wir halten fest: Bis Freitag war die SPD noch gegen einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen. Seit Freitag ist sie dafür. Sie sagen, die Grenze ist jetzt erreicht. Zehn mutmaßlich politisch inhaftierte Deutsche, das ist noch im Rahmen; zwei mehr, wie seit Freitag bekannt, das ist dann zu viel?
Kahrs: Wissen Sie, das ist eine Entwicklung, die seit anderthalb Jahren, seit einem Jahr läuft. Und natürlich ist es so, dass man irgendwann auch mal die Sache auf den Punkt bringen muss. Ich verstehe auch die Schärfe Ihrer Nachfrage, aber im Ergebnis ist es so, dass es für keinen Beobachter in irgendeiner Art und Weise überraschend kommt, dass irgendwann die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union, sei es zum Preis auch schon fast ihrer eigenen Würde und ihres Verständnisses von Demokratie, mal irgendwann den Punkt zieht. Dass man weiter - und da hat Sigmar Gabriel Recht - auf allen Ebenen miteinander reden muss und gucken muss, ist selbstverständlich. Und er hat auch Recht damit, dass man gucken muss, dass man Erdogan nicht gleichsetzt mit der Türkei und den Türken, weil das ein großer Fehler wäre und das würde Herrn Erdogan und den Radikalinskis nur in die Hände spielen.
May: Aber es ist doch gar nicht so unwahrscheinlich, gerade wo Sie es sagen, 50 Prozent der Menschen dort tragen den Kurs von Erdogan nicht mit, dass sich die politischen Verhältnisse irgendwann wieder drehen. Aber dann sind die Brücken abgebrochen.
Kahrs: Dann sind die Brücken nicht abgebrochen. Man kann auch Beitrittsverhandlungen wieder aufnehmen. Man muss dann aber auch Europa davon überzeugen. Deswegen ist es wichtig, dass man diese Gespräche auch bilateral führt. Wir sind ja auch, ich bin laufend in Gesprächen mit Vertretern von türkischen Institutionen und mit Einrichtungen, und wir gucken alle, ob wir da diejenigen unterstützen können, die zu den 50 Prozent gehören, zu den 49-Komma-Irgendwas, die Erdogan nicht unterstützt haben. Und man muss auch sagen, die Art und Weise, wie Erdogan in der Türkei durchregiert, führt ja auch dazu, dass ich nicht unbedingt behaupten würde, dass es die freisten und demokratischsten Wahlen waren, wenn vorher Zehntausende ins Gefängnis gehen und die Presse manipuliert wird. Das heißt, es gibt noch eine Türkei jenseits von Erdogan und mit der muss man sprechen und diskutieren und klar kommen. Was aber nicht geht ist, dass Erdogan macht, was er will, und es gibt dort keine klare, keine demokratische Antwort aus Deutschland und aus Europa. Das hat Martin Schulz sehr klar gesagt und nach kurzem Zögern ist ja Frau Merkel auch darauf eingeschwenkt.
May: … sagt Johannes Kahrs, Bundestagsabgeordneter und Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD. Herr Kahrs, vielen Dank für das Gespräch.
Kahrs: Immer gerne.
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