Martin Zagatta: Dieses Urteil hat für Aufsehen gesorgt. In einem Prozess um ein illegales Autorennen hat das Berliner Landgericht vor zwei Jahren die beiden Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilt. Das war das erste Mal, dass Raser nach einem Unfall mit tödlichem Ausgang wegen Mordes schuldig gesprochen wurden. Mord also statt fahrlässiger Tötung, wie meistens in diesen Prozessen, in denen bisher sehr viel milder geurteilt wurde. Doch hat diese Verurteilung wegen Mordes bestand? Darum geht es jetzt vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Am Telefon ist jetzt Professor Henning Ernst Müller. Er ist Strafrechtler an der Universität in Regensburg. Guten Tag, Herr Müller!
Henning Ernst Müller: Guten Tag, Herr Zagatta.
Zagatta: Herr Müller, steht der Bundesgerichtshof heute vor einer sehr, sehr schweren Entscheidung, oder ist das aus Ihrer Sicht eindeutig?
Müller: Nein, das ist eine sehr schwere Entscheidung für den BGH. Die Frage, ist hier der Tod billigend in Kauf genommen worden, ist ja vom Landgericht Berlin doch immerhin eingehend für diesen Einzelfall begründet worden, und sich über so eine Begründung hinwegzusetzen, ist erst mal nie leicht. Wir haben jetzt schon mehrere Stellungnahmen auch von angesehenen Strafrechtswissenschaftlern, die diese Beurteilung als in Ordnung, zumindest als im Einklang mit den Gesetzen angesehen haben. Es gibt allerdings auch viel Kritik daran. Auch ich habe mich auch schon kritisch geäußert. Da muss man natürlich unterscheiden, meine eigene Meinung und meine Vorhersage oder das, was ich denke, wie der BGH entscheiden wird. Das sind zwei unterschiedliche Dinge.
Zagatta: Die Richter in Berlin, die haben ja gesagt, wenn jemand mit der völlig überhöhten Geschwindigkeit - da ist von 160 Stundenkilometern in der Innenstadt von Berlin die Rede -, wenn jemand so brutal schnell durch eine belebte Innenstadt rast, über den Kudamm in Berlin, dabei dann andere Autofahrer zu Tode bringt, dann ist das Mord. Das klingt doch sehr plausibel.
Müller: Ja, das klingt jetzt erst mal für den Laien plausibel, und natürlich hat man da auch entsprechende Emotionen. Ich habe auch überhaupt kein Mitleid mit einer solchen Verurteilung. Aber es geht ja doch um Recht und da muss man schauen, inwieweit eine solche Beurteilung mit den bisherigen Definitionen des bedingten Tötungsvorsatzes übereinstimmt oder in Übereinstimmung gebracht werden kann. Es ist ja kein Zufall, dass das zum ersten Mal ist. Es gibt sehr lange schon Autoraserfälle mit tödlichem Ausgang und man hat sich bisher jedenfalls in Deutschland - anders in der Schweiz - noch nicht dazu durchgerungen. Und das ist ja auch kein Zufall, weil nämlich die bisherigen Definitionen, die wir im Studium lernen, die wir in den Kommentaren lesen, diesen Fall nicht eindeutig verorten als bedingten Tötungsvorsatz.
"Der Tötungsvorsatz im Schweizer Strafrecht ist ganz genauso formuliert wie im deutschen"
Zagatta: Ist es dann jetzt Zufall, wenn man so ein Verbrechen begeht, wie man bestraft wird? In Köln komme ich dann unter Umständen mit einer Bewährungsstrafe davon; in Berlin werde ich zu lebenslanger Haft verurteilt. Ist das jetzt ein Lotteriespiel?
Müller: Das könnte fast so sein, wenn sich jetzt der BGH nicht dazu durchringt, eindeutig etwas hier zu sagen. Also entweder zu sagen, nein, das geht in einem solchen Fall nicht, oder in diesem Einzelfall – das hängt natürlich immer noch von den Umständen des Einzelfalls ab; das hat das Landgericht Berlin ja auch betont -, in diesem Einzelfall könnte man mal einen solchen Tötungsvorsatz annehmen. Ich sehe es etwas anders. Ich denke, was das Landgericht Berlin hier begründet hat, ist zwar ein Lebensgefährdungsvorsatz, aber kein Tötungsvorsatz. Und das Recht unterscheidet durchaus zwischen diesen Kategorien. Auch wenn ich mir die Schweizer Beurteilung angucke: Der Tötungsvorsatz im Schweizer Strafrecht ist ganz genauso formuliert wie im deutschen. Dort wurde auch schon diverse Male das bejaht, ein Tötungsvorsatz unter solchen Umständen, aber es ging dann jeweils nicht darum: Man hat nie den Vorsatz des konkreten Taterfolgs genommen, sondern wiederum nur gesagt, na ja, wer so schnell fährt, der weiß doch, dass dann ein Unfall möglich ist oder sogar wahrscheinlich ist. Wer so schnell fährt, dann kommt von den Laien sofort das Ding, der nimmt das in Kauf. Aber gerade diese Formulierung "nimmt in Kauf" – wofür, muss man sagen, wofür nimmt er das in Kauf. Das ist hier höchst unbestimmt, weil ja die Täter, die so ein Autorennen machen, das tun, um das Rennen zu gewinnen, und nicht, um aus dem Unfall irgendeinen Gewinn zu ziehen.
Zagatta: Herr Müller, wenn sich dann Ihre Rechtsauffassung durchsetzen würde, was würde mir dann maximal drohen, wenn ich jetzt nach der Sendung mit 170 durch Köln rase?
Müller: Wenn Sie mit 170 durch Köln rasen und gar nichts passiert, …
Zagatta: Gehen wir mal davon aus, dass da was passiert.
Müller: Wir haben ja jetzt ein neues Gesetz, was ich im Übrigen schon vor einigen Jahren genau in diesem Wortlaut auch vorgeschlagen habe, was jetzt im letzten Jahr Gesetz geworden ist. Da würde Ihnen dann schon eine erhebliche Strafe drohen. Nur das gilt natürlich nicht rückwirkend für diesen Raserfall auf dem Kudamm. Zu dem Zeitpunkt gab es ja das Gesetz noch nicht.
"Die Beteiligung an einem Autorennen per se ist nur eine Ordnungswidrigkeit"
Zagatta: Da war das noch eine Ordnungswidrigkeit, wenn ich das recht verstehe.
Zagatta: Die Beteiligung an einem Autorennen per se ist nur eine Ordnungswidrigkeit. Wenn natürlich da jemand verletzt wird oder getötet wird, dann ist es fahrlässige Körperverletzung beziehungsweise fahrlässige Tötung. Die fahrlässige Tötung – in so einem Fall würde man sicherlich an den oberen Rand des Strafrahmens gehen.
Zagatta: Bewährungsstrafe.
Müller: Nein, das geht bis fünf Jahre. Bewährungsstrafen gehen ja nur bis zwei Jahre. Ich würde sagen, unter dieser Voraussetzung würde man jetzt sagen, Totschlag und Mord ist es nicht. Dann würde man hier zu einer Maximalstrafe von fünf Jahren kommen.
Müller: Mit neuem Gesetz habe die Polizei ganz andere Eingriffsmöglichkeiten
Zagatta: Was ändert jetzt dieses neue Gesetz? Hat das tatsächlich Wirkung? Das gibt es seit einem halben Jahr. Zeigt das in der Praxis schon Wirkung?
Müller: Das dürfen Sie mich nicht fragen, denn ich habe da nicht so empirisch geforscht. Was Wirkung zeigt ist sicherlich, dass die Polizei ganz andere Eingriffsmöglichkeiten hat, wenn sie nicht nur eine drohende Ordnungswidrigkeit verfolgt oder zu verhindern sucht, sondern ein strafbares Autorennen. Das ist schon mal eine ganz andere Kategorie. Insofern zeigt es sicherlich in der Praxis Wirkung, dass die Polizei jetzt sagt, okay, wir ermitteln und wir verhindern jetzt in dieser Raserszene nicht irgendwelche Ordnungswidrigkeiten, sondern wir ermitteln schon in kommenden Straftaten. Da muss man die Praxis sehen. Mit der abschreckenden Wirkung von höher angedrohten Strafen muss man leider ein bisschen zurückstehen, denn die Leute, die das machen und für die das ein Teil ihres Lebens ist, lassen sich nur schwer von hohen Strafen abschrecken, weil sie gehen immer davon aus, es wird gut gehen. Das ist ja hier auch so ein Punkt, den man zu beachten hat. Die gehen davon aus, trotz dieser 170, uns passiert nichts, wir schaffen das, wir kommen da durch und es wird kein Unfall passieren, so lange bis es dann passiert. Das ist natürlich eine völlig kontrafaktische Annahme, aber ich glaube nicht, dass man hier sagen kann, es sei nachgewiesen, dass diese Annahme nicht bestanden hat.
Zagatta: Wenn es nach Ihnen ginge, müsste der Bundesgerichtshof, wenn er heute oder morgen sein Urteil spricht, dieses Mordurteil aufheben und dann auf eine mildere Strafe hinwirken.
Müller: Ja.
Zagatta: Gibt es da irgendwelche Erfahrungswerte mit dem Bundesgerichtshof? Lässt sich das absehen, in welcher Richtung das jetzt gehen wird?
Müller: Das kann ich auch nicht sagen. Für mich ist das eine völlig offene Sache. Es kann durchaus sein, dass der Bundesgerichtshof sagt, ja, der landgerichtlichen Argumentation folgen wir. Oberste Gerichte in der Schweiz haben ähnliche Fälle auch schon so beurteilt, auf Grundlage derselben strafrechtlichen Situation, der gesetzlichen Situation das ähnlich streng beurteilt. Das kann durchaus sein. Mit der bisherigen BGH-Rechtsprechung, würde ich sagen, müsste eigentlich der BGH sagen, nein, kein Tötungsvorsatz.
Zagatta: Auch wenn dann die Öffentlichkeit ziemlich empört wäre?
Müller: Ja. Davon darf sich ein BGH-Richter nun nicht beeinflussen lassen und da wird er sich auch nicht beeinflussen lassen. Dafür gibt es ja unabhängige Gerichte. Trotz Empörung. Es ist ja keine politische Entscheidung. Die politische Entscheidung ist längst getroffen, indem man das Gesetz selbst verändert hat und verschärft hat. Und was jetzt passiert ist, eine Entscheidung in diesem konkreten Einzelfall, der natürlich Auswirkungen auch hat auf weitere künftige Fälle, allerdings vielleicht nicht, dass man sagen wird, dass jetzt regelmäßig jeder Autoraser-Rennfall als Todschlag oder Totschlagsversuch einzuschätzen sein wird. Das wird schon Auswirkungen haben, aber auch wiederum nicht, dass sich die Täter dann davon abschrecken lassen.
Zagatta: Ein spannendes Verfahren heute in Karlsruhe, …
Müller: Sehr spannend!
Zagatta: …, das uns Professor Henning Ernst Müller erläutert hat, Strafrechtler an der Universität in Regensburg. Herr Müller, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Müller: Ja, bitte schön!
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