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BGH-Urteil zum Elternunterhalt
"Die familiäre Solidarität und Verbundenheit ist unkündbar"

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Sohn die Pflegekosten für seinen Vater zahlen muss, obwohl der jeden Kontakt abgebrochen hat. Der Grundgedanke des Urteils sei "Blut ist dicker als Wasser", sagte der Sprecher für Familienrecht in der Neuen Richtervereinigung, Carsten Löbbert, im Deutschlandfunk. Familie sei Familie, davon könnten Eltern und Kinder sich auch nicht gegenseitig lossagen.

Carsten Löbbert im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Christine Heuer: Kinder haften für ihre Eltern, selbst dann, wenn die gar nichts mehr von ihnen wissen wollen. So hat gestern der Bundesgerichtshof geurteilt. Das Gericht entschied, dass ein Bremer für die Heimkosten seines Vaters aufkommen muss, obwohl der schon Anfang der 70er-Jahre jeden Kontakt zu seinem Sohn abbrach und ihn später auch enterbte. Das Solidarverhältnis zwischen Eltern und Kindern sei auch in diesem Fall nicht aufgelöst, meinen die Richter. Ein eklatantes Urteil, über das mein Kollege Jasper Barenberg gestern Abend mit Carsten Löbbert gesprochen hat, Vizepräsident am Amtsgericht Lübeck und Sprecher für Familienrecht in der Neuen Richtervereinigung.
    Jasper Barenberg: Hätten Sie sich denn auch eine andere Entscheidung vorstellen können?
    Carsten Löbbert: Ja, das hätte ich mir vorstellen können. Auch in diesem Fall gab es ja drei Instanzen. Die erste Instanz, das Amtsgericht, hat ja genauso entschieden wie der Bundesgerichtshof, und die zweite Instanz, das Oberlandesgericht Oldenburg, hat ja mit sehr gewichtigen Argumenten genau anders herum entschieden. Deswegen hätte ich mir auch gut eine andere Entscheidung vorstellen können.
    Barenberg: Es ist also eine Abwägungssache auch in diesem Fall. Das Gericht scheint ja seiner Grundhaltung treu geblieben zu sein, dass es relativ hohe Hürden ansetzt, die es rechtfertigen würden, dann jemanden von dieser Pflicht, Unterhalt zu zahlen, zu entbinden. Ist das grundsätzlich die Position des obersten Gerichts in solchen Fällen?
    Löbbert: Ja. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs steht in einer Reihe ähnlicher Entscheidungen. Auch da war es so, dass die Hürde für die Verwirkung in Paragraf 1611 BGB sehr hoch gesetzt wurde.
    "Unterhalt auch in schwierigen Zeiten"
    Barenberg: Ist das denn gerechtfertigt, angemessen aus Ihrer Sicht?
    Löbbert: Na ja, der Grundgedanke ist durchaus zutreffend. Der findet sich im BGB seit 1900. Der Grundgedanke ist ja, dass Blut dicker ist als Wasser und deswegen in der familiären Verbundenheit man einander Schutz und Sicherheit und Solidarität auch in finanzieller Hinsicht schuldet, und das heißt eben auch Unterhalt in schwierigen Zeiten.
    Barenberg: Nun ging es ja in diesem Fall darum, dass der Vater den Kontakt zu seinem Kind über viele Jahre abgebrochen hatte, ihn enterbt hatte. Auf der anderen Seite ist ja dann die Frage: Wann endet diese gegenseitige Verantwortung, auch aus der Perspektive der Kinder gesprochen, und da sagt das Gericht in diesem Fall, der Kontaktabbruch und auch die Enterbung sind keine schwere Verfehlung.
    Löbbert: Genau. Das Gericht bezeichnet das als Verfehlung, sieht also, dass darin schon ein Fehlverhalten des Vaters liegt, aber eben keine schwere Verfehlung, und das meint im Kern, dass die normalen Auseinandersetzungen, die in Familien vorkommen sollen, die Solidarität nicht beeinträchtigen, sondern nur ganz besonders schwere Verfehlungen würden die Solidarität beeinträchtigen. Das ist wieder der Grundsatz: Blut ist dicker als Wasser.
    Barenberg: Wir haben ja am Anfang darüber gesprochen, dass das auch in diesem Fall eine Abwägungssache war. Sie hätten sich schon vorstellen können, dass man dieses Verhalten, jemanden zu enterben, jahrelang keinen Kontakt zu haben, den Kontakt quasi endgültig abzubrechen - über 40 Jahre lang, glaube ich, war das ja der Fall -, das hätte man auch als schwere Verfehlung durchaus werten können?
    Löbbert: Insgesamt schon. Das Enterben an sich nicht. Da hat der Bundesgerichtshof völlig zutreffend darauf hingewiesen, dass jeder ja in seiner Erbentscheidung frei ist. Die familiäre Solidarität ist keine Gegenleistung für ein Erbe. Aber hier kam ja noch einiges hinzu, nämlich der Kontaktabbruch in einer sehr schwierigen Phase für das Kind und die Kontaktverweigerung, obwohl das Kind damals sehr jung immer wieder versucht hat, Kontakt aufzunehmen. Dies hat ja - das hat das Oberlandesgericht sehr deutlich festgestellt - zu einer quasi Traumatisierung auch des Kindes geführt, und das ist dann schon eine ganz andere Geschichte.
    "Beeinträchtigungen im minderjährigen Alter der Kinder wiegen natürlich ungleich schwerer"
    Barenberg: Was sind denn, wenn Sie vielleicht aus Ihrer Praxis schöpfen, andere Fälle, wo man von einer schweren Verfehlung sprechen kann, die dann zur Folge hat, dass man nicht mehr unterhaltspflichtig gegenüber Eltern ist, die das selber nicht mehr leisten können?
    Löbbert: Die Klassiker sind natürlich Straftaten, die die Eltern begehen, oder Vernachlässigung insbesondere im frühen Kindesalter. Das sind Dinge, wo dann sicher kein Unterhalt mehr gezahlt werden muss. Hier war ja die Besonderheit, dass in der frühen Zeit der Vater ja da war. Der hat ja bis zum 17. Lebensjahr mit dem Kind zusammengelebt. Deswegen hat der Bundesgerichtshof gesagt, das reicht schon mal als Zeitdauer für die Begründung von Solidarität aus.
    Barenberg: Das ist ja offenbar auch die Haltung des Gerichts, dass es darauf vor allem ankommt, dass die Eltern bis zur Volljährigkeit des Kindes ihre Pflicht ernst nehmen, ihren Teil der Verantwortung tragen. Ist das auch ein richtiger wichtiger Grundsatz, dass man sagt, es kommt vor allem auf diese Zeit bis zur Volljährigkeit an?
    Löbbert: Das ist sicher ein wichtiger Grundsatz. Die Beeinträchtigungen im minderjährigen Alter der Kinder wiegen natürlich ungleich schwerer. Kinder, die vernachlässigt werden in frühester Zeit und dadurch erhebliche Nachteile in ihrem Leben haben, denen kann man natürlich noch viel weniger Solidarität abfordern, wenn sie älter sind.
    Barenberg: Gibt es eigentlich eine Möglichkeit von Kindern, hätte es in diesem Fall eine Möglichkeit gegeben, sich quasi von den Eltern auf eine Art loszusagen, die dann vor Gericht auch Bestand gehabt hätte?
    Löbbert: Vertragliche Regelungen, wenn Sie darauf hinauswollen, gibt es hier nicht. Die familiäre Solidarität und Verbundenheit ist unkündbar. Da kommt man nicht raus und da kann man sich auch nicht gegenseitig von lossagen. Eltern können auch nicht auf solche Ansprüche verzichten. Das ist eben so mit der Familie. Familie ist Familie, da kommt man nicht raus.
    Heuer: Der Familienrichter Carsten Löbbert im Gespräch mit meinem Kollegen Jasper Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.