Im christlichen Bibelkanon stehen Altes und Neues Testament als zwei gleichberechtigte Teile nebeneinander. Doch genau um diese Kanonizität wird in der evangelischen Theologie nun seit letztem Jahr heftig gestritten. Selbstverständlichkeiten sind ins Wanken geraten, der Streit reicht weit über die akademische Zunft hinaus. Denn hierbei geht es um die Grundfesten des christlichen Selbstverständnisses, um die Haltung gegenüber dem Judentum, um die Art und Weise, wie die biblische Botschaft in Forschung, Lehre, den Gottesdiensten behandelt wird. Es geht bei all diesen Fragen buchstäblich ums Ganze. Alexander Deeg lehrt Praktische Theologie an der Universität Leipzig:
"Wir lesen Texte, die nicht nur unsere Texte sind, aber die wir notwendig als unsere Texte reklamieren. Das führt uns immer in die Spannung: Christliche Identität ist niemals bei sich selbst und vollkommen, sondern wir erzählen uns hinein in die Geschichte Israels, die teils unsere Geschichte ist und zu gleichen Teilen bleibend eine fremde Geschichte ist."
Apokryphe Bedeutung
Doch genau hier setzt der Berliner Systematische Theologe Notger Slenczka mit seinen Thesen an. Für ihn hat das Alte Testament nur mehr apokryphe Bedeutung. Slenczka folgt in seiner Argumentation ausdrücklich den Theologen Adolf von Harnack und Friedrich Schleiermacher, die als Vertreter einer spätliberalen Theologie Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung des Alten Testaments abzuschwächen suchten und das Christentum gegenüber dem Judentum in einer höheren Entwicklungsstufe sahen. Das Alte Testament sei zwar interessant zu lesen, habe jedoch für die christliche Theologie und das christliches Selbstverständnis keine weitere Bedeutung. Slenczka greift diesen Gedanken auf und streitet damit den Texten des Alten Testamentes einen kanonischen Rang für das Christentum ab. In seinem 2013 veröffentlichten Aufsatz 'Die Kirche und das Alte Testament' schreibt er:
"Es handelt sich eben von vornherein nicht mehr um ein unmittelbar in die eigene Geschichte hineinredendes Buch, sondern um die Identität stiftende Urkunde einer anderen Religionsgemeinschaft. Damit ist aber das AT als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet. Sie – die christliche Kirche – ist als solche in den Texten das AT nicht angesprochen."
Kein Buch der Kirche
Schon der Gnostiker Markion verwarf im 2. Jahrhundert die Schriften des Alten Testaments. Darin sei die Rede von einem fürchterlichen, kriegerischen Gott, der mit dem Gott des Neuen Testaments nichts zu tun habe. So könne das Alte Testament kein Buch der Kirche sein. Wenngleich Markions Position zunächst nur eine Strömung unter vielen darstellte und sich kirchenrechtlich nicht durchsetzte: Es war eine strikte Grenzziehung zum Judentum, an die spätere christliche Theologen anknüpften. Hier deutete sich dann eine über Jahrhunderte ziehende tiefe Judenfeindschaft an. Dabei sind Markions Positionen weder historisch noch theologisch haltbar, kritisiert Micha Brumlik, Senior Professor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg:
"Es gibt ja diese alte, seit Luther grassierende These, Gesetz versus Evangelium, wobei das Judentum und die hebräische Bibel ausschließlich so etwas wie das strenge Gesetz zum Ausdruck bringen und dagegen das Evangelium, der Glaube an Jesus Christus, seine Taten, seine Auferstehung etc. ausschließlich von Erlösung handeln. Das ist und das haben die Bibelwissenschaften in den letzten Jahrzehnten immer und wieder gezeigt, so überhaupt nicht haltbar. Es ist tatsächlich so, dass man in beiden Testamenten Elemente sowohl von, nennen wir es mal so, Gesetzlichkeit als auch von Erlösung und Gnade findet, das ist nicht der Gegensatz von Judentum und Christentum."
In seinem Aufsatz 'Die Kirche und das Alte Testament' äußert auch Notger Slenczka eine Grundskepsis gegenüber den Texten des Alten Testaments:
"Wenn jemand ernsthaft die Texte des Alten Testaments in ihrer Gänze liest und überschaut, wird er oder sie sich nur in engen Grenzen dazu im Stande sehen, sie als Ausdruck des Gottesverhältnisses zu lesen und zu verstehen, das sein christlich-religiöses Bewusstsein ausspricht und das er in den Texten des NT wiedererkennen und begründet sehen kann. Es ist faktisch so, dass wir den Texten des Alten Testamens in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des Neuen Testaments zuerkennen."
Alexander Deeg: "An dieser Stelle versucht Slenczka einen denkbar einfachen Weg zu gehen und zu sagen, diese Texte sind einfach vorchristlich, damit sind sie historisch älter, mit Christus kam das Neue, also nehmen wir diese Spannung gleichsam raus und sagen: Das ist der christliche Kanon, das Neue Testament, der von Christus redet und das andere lassen wir den Juden. Mit dieser Geste aber Tuch zerschneiden wir ein Tuch, das uns verbindet, das uns freilich aber spannungsreich verbindet."
Katastrophaler Irrweg
Was Notger Slenczka in seiner Argumentation nicht erwähnt, ist der katastrophale Irrweg, den die deutsche evangelische Theologie, auch in Folge der spätliberalen Theologie Harnacks und Schleiermachers, im 20. Jahrhundert beschritten hat. In radikaler Konsequenz hat die theologische Geringschätzung gegenüber dem Judentum zu einer scharfen Verneinung aller jüdischen Bezüge im Christentum geführt. Bis hin zu einer Theologie, die in Jesus einen arischen Christus sehen wollte und sich in den Dienst des Nationalsozialismus mit seinem Judenhass stellte.
Alexander Deeg: "Das ist, finde ich, der Grundfehler bei Slenczka, dass er diese liberale Denktradition, die sich in vieler Hinsicht eigentlich als gescheitert erwiesen hat, heute wieder aufnimmt. Als hätte es die Shoah, als hätte es die Jahre 1933-45, als hätte es die Abarten des Antisemitismus und viele andere, als hätte es die zarten Schritte der Neubegegnung zwischen Christentum und Judentum nach 1945 niemals gegeben."
Die Haltung zum Alten Testament berührt den Kern des christlichen Selbstverständnisses. Dies hat Auswirkungen auf die liturgische Praxis, auf die Gottesdienste, das Gemeindeleben. Und erst recht auf die Ausbildung an den theologischen Fakultäten. Andreas Schüle forscht an der Universität Leipzig über Alttestamentliche Theologie. Er sieht in der kontroversen Debatte durchaus eine Chance, um grundsätzlich neu über den christlichen Umgang mit den beiden Testamenten nachzudenken.
"Es ist wichtig, den Standort und die Bedeutung des Alten Testaments wieder zu bedenken. Ist es überhaupt sinnvoll, die Bibel so klar nach Altem und Neuem Testament zu sortieren, wie das in dieser Debatte immer wieder so geschieht? Das ist ja fast, als stünden da zwei Monolithen nebeneinander – Altes und Neues Testament – und die haben nichts miteinander zu tun. Also ich würde dafür plädieren, dass wir einen Sinn für Biblische Theologie zurückgewinnen, sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre und vielleicht auch in den Strukturen der Universität."
"Mit dem Judentum verknüpft"
Aufgrund neuer Studien-Module herrsche derzeit jedoch an vielen theologischen Fakultäten eine dramatische Situation, kritisiert Alexander Deeg. So könne man heute Theologie studieren, ohne eine einzige Veranstaltung zum Thema Judentum belegt zu haben. Außerhalb der Studien zum Alten oder Neuen Testament finde Judentum daher kaum statt.
"Hier, finde ich, müsste dringend nachgebessert werden. Es muss zur christlichen theologischen Ausbildung gehören, dass das Judentum als lebendiges Judentum und als lebendiges Gegenüber fest verankert ist. Da wäre, glaube ich, in der Tat viel zu tun und in nächster Zeit dringend an unserer Studienordnung was zu verändern."
Für den Leipziger Theologen ist die letztlich auch eine Aufforderung an die Gemeinden, Altes Testament und Judentum wieder stärker in den Blick zu nehmen.
"Ich würde sehr dafür plädieren, dass wir in unseren Gottesdiensten immer wieder deutlich machen, dass wir uns auf Texte beziehen, die nicht zunächst unsere eigenen Texte sind. Das ist eine spannungsreiche Identität, aber so eine spannungsreiche Identität gilt es zu leben als Christenmenschen. Anders, meine ich, geht's nicht. Und zugleich ist es die einzige Chance, dass das Judentum eben nicht nur eine Religion wie alle anderen auch ist. Nicht nur eine vorchristliche Religion oder wie eben eine außerchristliche Religion, sondern es würde dadurch deutlich werden: Wir sind auf eine Weise mit dem Judentum verbunden und verknüpft, unlöslich als Christinnen und Christen, die anders ist als die Beziehung zu allen anderen Religionen.
In einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen und interreligiöser Auseinandersetzungen ist die christliche Haltung zum biblischen Kanon vielleicht relevanter denn je. Auch die Frage nach dem Wesen des Christentums, nach seinem theologischen Selbstverständnis rücke damit heute wieder viel stärker in den Fokus, sagt Andreas Schüle:
"Was mich am Alten Testament sehr fasziniert ist die Wahrnehmung des Menschen vor allem. Es zeigt den Menschen in all seinen Facetten. Es gibt keinen Bereich menschlichen Lebens, der im Alten Testament nicht in irgendeiner Form thematisiert wird. Es gibt auch keine geschönte Wahrnehmung des Menschen, also es wird kein Idealbild erzeugt. Und darauf steht auch das Neue Testament und darauf baut es auf. Also ich könnte mir nicht vorstellen, dass man all das wegnimmt oder für eher apokryph erklärt. Da würde ja wirklich dem ganzen Unternehmen Theologie geradezu die Argumentationsbasis unter den Füßen weggezogen werden."
Notger Slenczka war trotz der Debatte, die er mit seinem Aufsatz 'Die Kirche und das Alte Testament' ausgelöst hat, zu einem Gespräch nicht bereit.