Mit Sorge wird in Deutschland die Zunahme rechtsextremistischer Gewalttaten registriert, ebenso die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien - vor allem in den neuen Bundesländern. Doch dieser Rechtsruck ist keineswegs ein Deutschland spezifisches Phänomen: Rechtsradikale Parteien sind fast überall in Europa auf dem Vormarsch.
Die Folgen der Globalisierung, Verunsicherung, unsichere Arbeitsplätze, Zukunftsangst, das Gefühl der Ausgrenzung haben auch in Belgien der Vlaams Belang, in Großbritannien der National-Partei, in Italien der Lega Nord, in Frankreich dem Front National die Menschen in die Arme getrieben. Und seit Anfang dieses Jahres haben die Ultrarechten sogar im Europaparlament mit der Bildung einer rechtsextremen Fraktion ihre Macht ausgebaut. Und so wundert es nicht, dass der Ruf nach einem europaweiten Kampf gegen Rechtsradikalismus immer lauter wird.
Auch im französischen Präsidentschaftswahlkampf ist der Chef des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, die unbekannte Größe neben Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal, den Kandidaten der Regierungspartei UMP und der Sozialisten. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren hatte es Le Pen sogar bis in die Stichwahl geschafft. Sechs Millionen Franzosen gaben im ihre Stimme, besonders viele im Elsass. Denn seit Gründung der Front National Anfang der 80er Jahre ist das Elsass die Hochburg Le Pens. Der Front National und die rivalisierende Organisation Alsace d´abord gewinnen bei Wahlen regelmäßig rund 30 Prozent der Stimmen. Will heißen: Jeder dritte Wähler im Elsass votiert für die extreme Rechte. Besonders auf dem Land grassiert eine latente Fremdenfeindlichkeit, manchmal schlägt sie auch in Pogromstimmung um. Opfer sind meist umherziehende Roma. Typisch ist der Fall eines Bürgermeisters, der im südlichen Elsass ein Roma-Lager eigenhändig in Brand steckte. Vor Gericht wurde er verurteilt, vor Ort wird er bis heute gefeiert.
Roma im Visier der Rechtsextremen - Ein Bürgermeister übt sich als Brandstifter
Wenn auf einmal 14 Wohnwagen brennen, Kunststoff, Holz, Kleider, Matratzen, dann lässt sich das nicht so leicht übersehen: der Rauch, der Gestank, der Widerschein des Feuers am frühen Morgen. Eigentlich hätte das die Bürger einer Kleinstadt beunruhigen müssen, erst recht im Elsass, wo man noch Wert auf gute Nachbarschaft legt. Aber der beißende Qualm, der über die Dächer von Ensisheim zog, wirkte offenbar nicht sehr verstörend. Er kam vom südlichen Ortsrand, wo einige Roma campierten. Ihr Lager wurde niedergebrannt. Und Emil Meyer, ein angesehener Unternehmer im Ort, hat sich dabei die Hände gerieben:
"Das waren doch nur Hergelaufene, die nicht mal Papiere hatten: Rumänen, Bulgaren, Zigeuner, die nur hierher gekommen sind, um zu stehlen, zu betrügen, zu lügen. Die haben hier ein Lager aufgeschlagen, da sind die schlimmsten Dinge passiert: Zuhälterei, Drogenhandel. So war das hier. Klar, da hat unseren Bürgermeister der Zorn gepackt, und er hat alles niedergebrannt. Und ich finde das gut. Das war gut so."
Ein Jahr ist das jetzt her, dass ein elsässischer Bürgermeister zum Brandstifter wurde. Der Mann - er heißt Michel Habig - wurde vor wenigen Monaten vom Landgericht Straßburg zu sechs Monaten auf Bewährung und 5000 Euro Geldbuße verurteilt. Aber die Geschichte lässt sich so leicht nicht vergessen, weil sie eine Geschichte vom Niederbrennen und Davonjagen ist.
Der Europarat hat hunderte Fälle dokumentiert, in denen Roma von ihren Lagerplätzen vertrieben wurden - in Griechenland, Bulgarien, Tschechien, Großbritannien und Frankreich. Im Elsass ist die Fremdenfeindlichkeit besonders stark ausgeprägt, obwohl die Region wirtschaftlich zu den wohlhabenden Gegenden Frankreichs gehört. Dennoch gibt es eine latente Rechtslastigkeit, meint der Politikwissenschaftler Bernard Schwengler.
Er hat mit Le Pen-Wählern geredet und mit Leuten, die Le Pen nicht wählen würden. Diejenigen, sagt er, die für den Front National stimmten, waren natürlich gegen alles, was fremd ist. Das war zu erwarten. Aber die anderen hatten ganz ähnliche Ansichten. Das ist offenbar eine weit verbreitete Haltung, die sich nicht auf das rechtsextreme Spektrum eingrenzen lässt, sagt Schwengler. Es sind meistens Leute, die gegen eine Entwicklung protestieren, in der sie sich nicht mehr wieder erkennen. Und dieser Protest reicht über den Front National hinaus.
Womöglich kann es kaum etwas geben, das eine kleine Stadt und ihre Bürger so sehr verunsichert wie der plötzliche Einbruch des Fremden. Was in Ensisheim mit einem Roma-Lager geschah, der Brandanschlag, die Einschüchterung, die Vertreibung, ist seine reflexhafte Abwehr. Und es ist die ewige Wiederkehr der Pogrome. So oder so ähnlich, früher oder später. Es wäre nur gut zu wissen, dass es auch Schutz gibt in solchen Momenten, eine Kirche zum Beispiel wie Ensisheims altes Gotteshaus Saint Martin. Sein wuchtiger Glockenturm ragt über die Stadt, gleich gegenüber ist die Pfarrei.
Curé Bernard Munsch ist zu Hause. Er öffnet die Tür und wischt sich den Mund ab. Es geht gegen Mittag, da stört man die Leute nur ungern im Elsass. Aber andererseits müsste der Pfarrer ja schon etwas sagen zu dem, was in seiner Gemeinde geschah:
"Hören Sie, jeder könnte dazu was sagen, aber wer genau, das weiß ich wirklich nicht. In so einer Stadt weiß man doch nie so richtig, was passiert ist, sogar ich nicht als Pfarrer. Ich bleibe da ganz neutral in der Angelegenheit. Das ist nicht meine Sache. Das geht mich nichts an."
Einen Straßenzug weiter, in der Kaffeebar La boule d´or, ist es im Grunde nicht anders als im katholischen Pfarrhaus. Auch hier weiß jeder worum es geht: die Gäste vorm Tresen, die Bedienung dahinter. Aber auch hier geht die Sache keinen was an.
"Nein, man spricht da nicht drüber. Die Leute bleiben unter sich, reden unter sich. Das geht niemanden was an. Ich kann Ihnen da sonst nichts dazu sagen. Das ist nicht mein Problem. Ich mache meine Arbeit, gehe abends heim. Jeder macht halt, was er tun muss."
Aber es gibt ja noch Charles Moser, den ortsbekannten Hotelier Ensisheims. Den hatte Bürgermeister Habig in einem knappen Telefonat als hundert Prozent objektiven Gesprächpartner und Gewährsmann empfohlen, weil er sich als Täter ja nicht äußern wollte zur Sache. Charles Moser ist ein freundlicher, älterer Herr mit einem Seidenschal um den Hals, diskret und doch engagiert, ein Vertreter der gehobenen Gastronomie. Als der Bürgermeister in Not war und vor Gericht kommen sollte, konnte er sich auf Leute wie Moser verlassen:
"Hier gibt es in jedem Restaurant einen Stammtisch, und da hat einer von den Alten gesagt: Alors, wir müssen den Bürgermeister für das, was er getan hat, unterstützen. So ging das los. Wir haben eine Liste gemacht, und da stand drauf: Wir, die Unterzeichner, unterstützen Michel Habig, den Bürgermeister von Ensisheim. Voila!"
Und die Liste wurde von Tag zu Tag größer, und in Colmar und Selestat und anderen elsässischen Städten wurde sie auch rumgereicht. Über 7000 Unterschriften kamen zusammen.
"Die Geschäftsleute haben sie bekommen, die Restaurantbesitzer, die Taxi -und Transportunternehmen. Versammlungen wurden einberufen, die Fleischer, die Bäcker, die Handwerksbetriebe. Es gab die Fußballvereine, die sich mit Habig solidarisierten, Sportverbände, im ganzen Departement Oberrhein ist das geschehen, nicht nur hier in der Stadt. Ich persönlich habe eine Veranstaltung der Hoteliers organisiert. Da haben mehr als Hundert unterschrieben. Jeder wusste doch, dass dieses Lager nichts anderes war als ein Stützpunkt, wo schlimme Dinge geschahen, die man aber leider nicht beweisen kann."
Man kann die schlimmen Dinge wirklich nicht beweisen, aber Charles Moser weiß natürlich trotzdem genau, was für schlimme Dinge das waren:
"Da waren doch vor allem Familien mit kleinen Kindern und hübschen jungen Mädchen. Einer war immer da, der hat auf sie aufgepasst. Sie blieben zwei, drei Nächte, dann zogen sie weiter. Das waren ja im Grunde arme Leute. Die wurden dann abgeholt, um betteln oder auf den Strich zu gehen. Wenn Sie nach Paris gehen, dann sehen sie doch überall diese bettelnden Kinder aus Rumänien und Bulgarien auf der Straße."
Das ist eben der Alptraum für einen wie Moser, dass irgendwann zu Hause in Ensisheim die gleichen Zustände herrschen werden wie im fernen Paris. Drogen und Chaos, Ausländer und Prostitution. Darüber wird doch jeden Abend im Fernsehen berichtet.
Das Elsass ist wie ein Eintopfgericht, schreibt der elsässische Schriftsteller, Zeichner und Cartoonist Tomi Ungerer in seinem Buch "Die Gedanken sind frei". Kelten, Franken, Römer, Alemannen, Helveter, Franzosen und Deutsche haben ihre Spuren hinterlassen. Dem Elsässer ist das Wort "Heimat" deshalb lieber als das Wort "Vaterland". Denn die Kinder der Mutter Elsass wurden ständig von zwei eifersüchtigen Nachbarn abwechselnd unterdrückt, schikaniert und gehätschelt und leiden deshalb an ihrer Identität. Franzosen? Deutsche? Allein von 1871 bis 1945 mussten die Elsässer vier Mal ihre Nationalität wechseln. Eine Aufarbeitung - vor allem der nationalsozialistischen Zeit - hat nie stattgefunden.
Als neunjähriges Kind erlebt Tomi Ungerer den Einmarsch der deutschen Armee. Die Okkupation der Deutschen prägt seine Kindheitserinnerungen:
"Es war wirklich 'la drole de guerre', ein 'Sitzkrieg'; die oft unrasierten Frontsoldaten, manche noch in den blauen Uniformen des Ersten Weltkriegs, Pfeife rauchend, an den Waden Wickelgamaschen, mit aufgeknöpfter Jacke, prahlend, dass die Maginot- Linie unüberwindbar sei und vor den Hunnen schützen würde, standen sich die Beine in den Bauch und trällerten 'J'attendrai, le jour et la nuit, j'attendrai toujours' ('ich werde warten Tag und Nacht, ich werde warten immerzu'), nicht ahnend, dass sich das Warten vier Jahre lang hinter den Stacheldrahtzäunen der Stalag-Gefangenenlager hinziehen würde
Dass die Deutschen kämen, konnten wir uns nicht vorstellen, denn wir wussten, dass Frankreich stärker war, dass es gewinnen würde. 'Sie werden nicht einmarschieren, wir werden siegen, weil wir die Stärkeren sind', wurde gesagt."
Gleich zu Beginn des Frankreich-Feldzuges 1940 besetzte die deutsche Armee das Elsass, unterstellte es seiner Zivilverwaltung und schloss es als Reichsgebiet dem Gau Baden an. Formal fand allerdings weder eine Annexion noch eine Abtretung des Gebiets durch Frankreich statt. Die wehrfähigen deutschen Elsässer, rund 130.000, wurden als "Volksdeutsche" überwiegend zum Dienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS gezwungen und standen danach in Frankreich unter Generalverdacht der Kollaboration. Umgekehrt waren zuvor bereits viele deutsche Elsässer von der französischen Armee eingezogen worden, hatten sich dieser freiwillig angeschlossen oder gehörten später dem französischen Widerstand, der Résistance, an. Nunmehr kämpften Elsässer gegen Elsässer in zwei verfeindeten Armeen.
Die Elsässer tun sich heute noch schwer mit ihrer Geschichte. Lange glaubten sie, dass diese Vergangenheit ihnen auch die Zukunft in Frankreich verbaut. Ehemalige noch lebende elsässische Wehrmachtsmitglieder kämpfen bis heute um ihr Recht auf Anerkennung ihrer Geschichte. Und in Paris wird immer noch auf die Jahre zwischen 1940 und '45 verwiesen, um das Phänomen des Rechtsextremismus historisch zu erklären.
Unbewältigte Vergangenheit - Die gespaltene Identität der Elsässer
Er wird das nicht los, auch nicht nach all den Jahren. Roger Winterhalter war noch ein Kind, als im Frühsommer 1940 die Deutschen einmarschierten ins Elsass. Es war eine unblutige Invasion, fast ein Ausflug für die Soldaten der Wehrmacht. "Die Deutschen waren da, und sie stiegen von ihren Lastwagen wie Touristen aus ihren Bussen", heißt es im Tagebuch eines Elsässers. Und genauso hat es auch Roger Winterhalter erlebt, damals, in Lutherbach, in seinem Elternhaus in der Rue de Camps. Als die Deutschen kamen, sagt er, hing doch vor jedem Haus die Hakenkreuzfahne.
"Als der Krieg vorbei war, da waren dann plötzlich alle Lutherbacher in der Résistance. Alle waren Widerstandskämpfer. Dabei gab es doch nur ganz wenige. Das andere wurde schnell vergessen. Man hat einfach nicht mehr drüber geredet. Bis heute. Und bis heute hört man hier immer noch Sätze wie: Die Deutschen haben damals nicht alles falsch gemacht, es gab wenigstens Ordnung. Aber wo fängt die an und wo hört das auf? Immer ist es hier im Elsass nur um Ordnung gegangen."
Da liegt der alte Mann wahrscheinlich nicht mal so falsch nach den jüngsten Prognosen. Er war früher lange Zeit Bürgermeister von Lutherbach und hat noch immer ein gutes Gespür für die lokalpolitische Atmosphäre im Land. Im Elsass gibt es in Wahlkampfzeiten verlässliche Hochburgen für Le Pen: Ensisheim, Ilzach, Wittenheim, in einigen Dörfern kommt der FN regelmäßig über 40 Prozent. Nach den Wahlen stellen dann fassungslose Politiker und vorwurfsvolle Journalisten die immer gleiche Frage an die Bürger im Elsass: Warum wählt ihr nur so?
Das Elsass hat eben ein Problem mit seiner Vergangenheit, antwortet der Straßburger Historiker Robert Steegmann:
"Das ist spätestens 1945 deutlich geworden. Da wollte sich niemand mit dem auseinandersetzen, was geschehen war. Das ist einerseits nachvollziehbar. Die Elsässer mussten mehrmals ihre nationale Zugehörigkeit ändern, und nie wurden sie gefragt. Die Zeit zwischen 1940 und '45 war besonders schlimm. Aber man wollte einfach nicht darüber reden. Und das kommt dann eben zu gegebener Zeit wieder an die Oberfläche. Ein Teil davon sind die Stimmen für den Front National."
Ein anderer Teil sind die Übergriffe auf Roma oder die Schändung jüdischer Friedhöfe, die in den letzten Jahren gleich dutzendweise von Rechtsextremisten heimgesucht wurden. Die antisemitische Propaganda der Nazis wurde in vielen Gemeinden auf elsässisch wiederholt. Aber andererseits war es nicht so, dass das Elsass mit wehenden Fahnen zum Dritten Reich überlief:
"Das Erstaunliche ist ja, wenn man sich mal anschaut, wie viele Elsässer tatsächlich mit den Nazis kollaboriert haben, dann waren das nicht viele. Ja, es gab natürlich viele, die nichts gesagt haben. Es gab aber auch Leute im Widerstand. Nur, die Zahl derjenigen, die damals kollaboriert haben, lag bei maximal 10 bis 15 Prozent."
Es gab im Elsass nicht mehr Kollaboration als im restlichen Frankreich. Dass Hitler gleich nach dem Waffenstillstand 1940 befahl, die Elsässer konsequent zu germanisieren; dass kurze Zeit später die Plünderungen begannen, die Zwangsrekrutierung, der Terror, das alles hat aus der großen Mehrheit der Elsässer keine Deutschen, sondern entschiedene Franzosen gemacht. Doch ihre Loyalität wurde nach der Befreiung schlecht honoriert. Paris traute den Elsässern erst mal nicht über den Weg und setzte alles daran, die angeblich unsicheren Kantonisten endgültig zu hundertprozentigen Franzosen umzuerziehen. Nun wurde alles, was Deutsch war, verboten: die Straßennamen, die Sprache und mit ihr eben auch ein Stück der eigenen Identität, Bis heute wird das von denen, die das erlebt haben, als Trauma empfunden:
"Als ich ein Junge war, nach dem Krieg, hat unser Schuldirektor in Hagenau ein Strafsystem für diejenigen organisiert, die noch Elsässisch sprachen. Wir wurden dazu verpflichtet, jeden zu denunzieren, der das machte. Und wer erwischt wurde, den hat der Direktor persönlich bestraft, und sein Name wurde auf die so genannte Schadtafel geschrieben."
Pierre Klein ist ein ehemaliger Wirtschaftsprofessor, Ende 70, die Schulzeit ist für ihn in weite Ferne gerückt. Aber der gedemütigte Junge von damals geht ihm doch nah, wenn er sich an diese Jahre erinnert. Und da wird sie auch spürbar, die gespaltene Identität: Die Mehrheit der Elsässer kommt mit ihr zurecht. Aber wer nicht mit ihr leben kann, findet oft Halt bei den Parolen der Rechtsextremisten. Das Problem der Identität, sagt Robert Steegmann, es lässt uns bis heute nicht los:
"Man hat sich hier im Elsass eben immer als Opfer gefühlt - Opfer der einen und der anderen Seite. Und in dieser Haltung haben wir uns ganz gut eingerichtet. Ich weiß das, ich bin ja selbst Elsässer. Aber diese Opfermentalität bringt nichts Positives. Sie führt nicht dazu nachzudenken über das, was in der Vergangenheit mit uns geschehen ist und wie wir uns heute verhalten sollten."
"Die Deutschen?
Man stelle sich meine Verblüffung vor, als sie wirklich einmarschierten.
Zuerst die Kräder mit Beiwagen, dann die Infanterieeinheiten, diszipliniert, singend, mit schönen Stiefeln an den Füßen, richtigen Rucksäcken, richtigen Gewehren.
Ich stand mit meiner Spielzeugpistole vor dem Haus, ich warf sie zu Boden, da ich Angst hatte, für einen Freischärler gehalten zu werden. Es war Juni 1940, um die Mittagszeit, es war heiß. Das Regiment macht vor dem Haus Rast, die Gewehre werden zusammengestellt, eine von einem Pferd gezogene Feldküche trifft ein. Mit einem breiten Lächeln bietet mir ein Soldat an, von seiner Suppe zu kosten. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich richtige Soldaten. Im Gleichschritt, singend, zogen sie weiter. Es waren nicht die Hunnenhorden, die Hansi uns angekündigt hatte, und zu allem Überfluss waren sie sympathisch. Ich stolperte über mein erstes Fragezeichen. Am Montag, dem 17. Juni 1940, marschierten die Deutschen in Colmar ein.
Oberst Koch, Kommandant des Sturmregiments 'Adolf Hitler', verlangt die sofortige Lieferung von 2300 Kg Brot, 557 Kg Wurst, 290 Kg Butter, 7 Kg Tee, 23 Kg Kaffee, 290 Liter Rum und 23 000 Päckchen Zigaretten, zusätzlich zwanzig Geiseln, vorzugsweise frankophile Beamte.
Die Soldaten ihrerseits leerten als gute Kunden die Geschäfte, denn der Franc war auf 5 Pfennige festgesetzt worden!
Sie fühlten sich wie Gott in Frankreich."
Bei der Suche nach einer Erklärung, warum die rechtsextreme Wählerschaft sich gerade in den ländlichen Regionen des Elsass stabilisiert, versagen die üblichen Muster. Denn die Region steht wirtschaftlich besser da als viele andere französische Provinzen. Und auch die Zahl der Immigranten hält sich in den Dörfern und kleineren Städten in Grenzen.
Aber was sind die Gründe dann für die latente Fremdenfeindlichkeit? Es ist vor allem der Wunsch nach Ruhe und Ordnung. Denn die vom Konservatismus geprägten Menschen in den Dörfern fühlen sich bedroht von dem, was im nahen Straßburg geschieht, wo es in gewohnter Regelmäßigkeit zu Krawallen und Ausschreitungen kommt.
Zusätzlich fühlen sie sich jetzt noch durch die Globalisierung bedroht, die eine Grenzregion mit einer starken regionalen Tradition besonders hart trifft: alte Betriebe schließen, Massenentlassungen drohen.
Rechtsruck als Folge des sozialen Umbruchs - Die Angst der Elsässer vor Unordnung, Gewalt und Rechtlosigkeit
Das Elsass der Touristen und das seiner knapp zwei Millionen Bewohner berühren sich, aber sie haben wenig miteinander zu tun. Die Reisebusse parken meist außerhalb der engen, putzigen Städtchen und Dörfer, an den Wochenenden sind sie von Deutschen, Japanern, Holländern überfüllt. Die friedliche Landschaft gibt ein erstklassiges Fotomotiv. Aber hinter den Fachwerkhäusern, den Butzenscheiben und Weinkellern öffnen sich manchmal dunkle, verborgene Räume. Und dort ist so ziemlich alles gelagert, was dem behaglichen Gugelhupf-Klischee widerspricht.
Es ist der ewige Minderwertigkeitskomplex einer Randprovinz, die daran leidet, lange Zeit vernachlässigt worden zu sein, die Abneigung gegen alles, was fremd und was störend erscheint und die Angst, dass all die Unordnung, die Gewalt und Rechtlosigkeit dieser Welt auch noch den eigenen sicher geglaubten Lebenswinkel erfasst. Von Paris wurde dem kleinen Elsass immer chronisches Misstrauen entgegengebracht, seine politische Loyalität zur großen Nation hinterfragt. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als die von Hitlerdeutschland besetzte Region wieder frei wurde und französisch. Deutsch wurde an den Schulen als Sprache des Feindes verboten, Elsässisch als verdächtig germanischer Dialekt diffamiert. Es war, als gelte es den Elsässern die deutsche Seite ihrer Identität mit Gewalt auszutreiben.
Heute fühlen sich viele Elsässer immer noch als die unverstandenen Stiefkinder von La France. Und von dieser Kränkung profitieren vor allem die Rechtsextremisten. Fast 30 Prozent haben Le Pen und Konsorten bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Elsass gewonnen. Und auch 2007 droht wieder ein großer Erfolg.
"Ich glaube, dass die rechtsextremen Parteien sehr viele Stimmen bekommen werden. Die innere Sicherheit wird ein großes Thema im französischen Wahlkampf sein. Nach jüngsten Umfrage kommt Le Pen landesweit in Frankreich auf 17 Prozent. Und da er üblicherweise bei Umfragen unterschätzt wird, dürfte er noch mehr bekommen."
Bernard Schwengler ist Politikwissenschaftler, einer der sich bei seinen Erklärungsversuchen zunächst an Prozentzahlen und Statistiken orientiert. Im Elsass, rechnet er vor, kommen Jean Marie Le Pens Front National und die regionale Splitterpartei Alsace d´abord auf stabile 25 bis 30 Prozent. Jeder vierte Wähler gibt der extremen Rechten die Stimme; seit zwei Jahrzehnten.
Auf der Place Kleber zum Beispiel, mitten in Straßburg, sammeln sich in Wahlkampfzeiten die Anhänger des Front National. Es sind die üblichen Verdächtigen, die Stimmung machen für ihren Le Pen: junge Männer mit sauberem Haarschnitt, dazwischen ein paar gestiefelte Skins. Die üblichen Gegendemonstranten sind natürlich auch angetreten, und werden durch Polizeiketten von den Rechtsextremisten getrennt.
"Le Pen" meint einer, "ist der einzige, der unsere nationale Sache verteidigen kann. Er hat Ausstrahlung." Und einer anderer sagt: "Le Pen ist ein echter Politiker, die anderen machen doch nur Show. Die haben Frankreich kaputt gemacht. Frankreich ist doch nur noch eine unwürdige Bananenrepublik. Wir sind Franzosen. Aber wir sind auch Elsässer. Den Unterschied muss man verstehen."
Der eine heißt Alexandre Meyer, der andere Olivier Valait. Der eine studiert Maschinenbau, der andere ist Angestellter im Softwarebereich. Keinem geht es schlecht, keiner ist ein Sozialfall. Und trotzdem ist ihnen zum Fürchten zumute: vor der Zukunft, sagen sie, und vor allem, was fremd ist erst recht, egal ob es Roma sind oder arabische Immigranten:
"Wenn die mir über den Weg laufen, dann bedrohen sie mich, nur weil ich stolz bin, Franzose und Elsässer zu sein und weil ich das auch zeige. Sie bedrohen mich, und das macht mir Angst, weil ich nichts gegen sie machen kann. Das ist das Problem."
Der Politikwissenschaftler Bernard Schwengler hat ein Buch über Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Elsass geschrieben. Und er hat bei seinen Recherchen etwas getan, was eher selten ist in wissenschaftlichen Kreisen. Er ist raus zu den Leuten gegangenen, saß in den Weinstuben mit ihnen zusammen, in den Bars und Bistros. Und Schwengler hat immer wieder gefragt, was sie wirklich bewegt:
"Oft geht es dann um die Frage, was ihre Arbeit eigentlich noch wert ist. Sie sagen: Heutzutage wird doch kaum noch richtig gearbeitet. Nur unsereins schuftet sich noch krumm. Unsereins ist der Dumme. Wenn wir morgens früh zur Arbeit gehen, dann kommen da irgend welche Typen aus den Vorstädten mit ihren Autos nach Hause, weil sie die ganze Nacht irgendwo rumhingen. Und unsere Kinder finden keine Jobs. Darum dreht es sich oft, um dieses Gefühl, dass Arbeit nichts mehr wert ist. Für mich stehen da die dramatischen Veränderungen der Arbeitswelt im Hintergrund."
Die Arbeitswelt hat sich im Elsass genauso dramatisch verändert wie anderswo. Die Region vermarktet sich zwar nach außen hin vorzugsweise als Touristenidylle. Aber in der Realität war sie eine der ersten industrialisierten Provinzen in Frankreich und hat in den letzten Jahrzehnten einen harten Umbruch erlebt:
"Die Elsässer waren früher Bauern, die aber gleichzeitig auch Fabrikarbeiter waren. Es gab hier überall Gerbereien im Rheintal und Textilindustrie in den Vogesen. Das waren keine großen Betriebe, sondern kleine oder mittelständische Unternehmen auf dem Land. Deshalb gab es auch keine Landflucht in die großen Städte. Die Elsässer wollten da nicht hin. Im Sommer haben sie auf ihren Feldern gearbeitet, den Rest der Zeit in der Fabrik. Heute sind im Elsass nur noch zwei Prozent richtige Bauern. Aber in ihrer Denk- und Lebensweise sind die Elsässer ländlich geblieben. Deshalb verhalten sich die Leute auch politisch anders. Die Arbeitnehmer wählen nicht mehrheitlich links. Das haben sie nie getan. Sie sind Arbeitnehmer, aber ohne Klassenbewusstsein oder Protestpotenzial. Sie verhalten sich eher wie Kleinunternehmer oder Hausbesitzer. Mit links haben sie nichts zu tun."
Le Pens Hochburg ist eine Region, die allen Krisensymptomen zum Trotz, wirtschaftlich immer noch zu den wohlhabenden in Frankreich gehört. Nur in Paris wird mehr Geld als im Elsass verdient. Die Arbeitslosigkeit liegt noch immer unter dem französischen Durchschnitt, und in den kleineren Orten leben nur wenige arabische Immigranten. Dass sich trotzdem jeder vierte Elsässer Le Pen an die Brust wirft, hat wenig mit den realen Lebensumständen zu tun.
"Es begann die 'Aktion Elsass' - zuständig dafür war Gauleiter Robert Wagener, mit totalen Vollmachten.
Überall auf den Litfasssäulen tauchten Plakate auf: "Hinaus mit dem welschen Plunder". Es hagelte Verordnungen.
Die französische Vergangenheit wurde systematisch ausgemerzt, und zwar nach bestimmten Regeln, die ans Absurde grenzten.
Zuerst die Namen; ich Tomi, Jean Thomas, werde übersetzt als Hans Thomas, manches Mal auch als Johann, Yvonne wird Irmgard, meine Schwester Vivette wird Genoveva. Sonderbarerweise bleibt der eher fremde Name meiner Schwester Edith unverändert.
Ebenso werden die Familiennamen geändert. Boulanger wird Bäcker, Meunier Müller, Grandjean Großhans, ganz in der Tradition vom elsässischen Hin und her.
Alle Hauptstraßen wurden in Adolf-Hitler-Straße umgetauft. - In Mülhausen aber hieß die Hauptstraße 'la rue du Sauvage' - ein schöner Zufall. Der Wilde war jetzt Adolf Hitler.
Jede Übertreibung ruft als Reaktion Spott hervor. In Straßburg gibt es die 'Straße, wo der Fuchs den Enten predigt'. - Ein Witzbold mit echt elsässischem Humor ersetzte den Straßennamen durch 'Dr.-Goebbels-Straße'."
Rechtsextreme Wähler im Elsass können sich zwischen zwei großen Parteien entscheiden: dem Front National Le Pens und Alsace d´abord, eine regionale Splitterpartei des Front National. Alsace d´abord unterscheidet sich nur in pro-europäischen Ausrichtung vom nationalistischen, antieuropäischen Front National, ansonsten teilen die rechten Regionalisten das ausländerfeindliche Programm und unterstützen auch Le Pen bei Präsidentschaftswahlen.
Der Front National stellt im Elsass 8 von 47 Regionalräten im Conseil regionale und etliche Stadträte in den Kommunen. Rechtsextreme sind besonders stark auf dem Land verankert, in Straßburg relativ schwach.
Gegen alles was fremd ist - Die Heilsversprechungen der Front National
Einer wie er füllt immer die Säle. Er füllt sie mit einfachen Sätzen und auch mit seinem aggressiven Gebrüll. Und er füllt sie mit Menschen, die nur darauf warten, dass er endlich kommt: "Mesdames, Messieurs", ruft der Ansager, "im Namen des ganzen Elsass. Jean Marie Le Pen."
Es sind die kleinen Leute, die nach ihm verlangen: Arbeiter, Rentner, ältere Frauen in gedeckten Kostümen. "Wir haben so viele Probleme", sagt eine 60-Jährige aus Mühlhausen, "Le Pen bedeutet alles für mich."
Le Pen kommt schnell zur Sache und schießt sich auf die üblichen Feindbilder ein: Ausländer, Muslime, Europa, die korrupten Politiker im Besonderen und der heruntergekommene Staat im Allgemeinen. Der Vorsitzende des Front National ist noch zu jedem seiner Wahlkämpfe ins Elsass gereist, da weiß er sich auf gesichertem Boden. Nur im Midi, im französischen Süden, hat er so viel Unterstützung wie hier. Diesmal braucht Le Pen die Elsässer Stimmen mehr als jemals zuvor: Zum fünften Mal will der 78-Jährige für die Präsidentenwahl kandidieren, wahrscheinlich das letzte Mal, dass er antritt. Zuletzt, 2002, haben sechs Millionen Franzosen für ihn gestimmt. Das feuert ihn an. Da kann er sogar die Beherrschung verlieren, wenn er die verhasste Linke beschimpft:
"Wir haben die Schnauze voll von Euch, von euren Beleidigungen, Drohungen, Lügen","
brüllt er. Und später, Le Pen hat sich ausgetobt, zeigt sich im Publikum, was hängen blieb von seinen Parolen:
""Man muss die Einwanderung der Ausländer endlich stoppen, das zuallererst. Hier in Frankreich machen die Fabriken dicht, Franzosen werden auf die Straße gesetzt, und was kriegen diejenigen, die zu uns kommen? Sie kriegen Sozialhilfe. oder sie nehmen uns gleich unsere Arbeitsplätze weg."
Dass Le Pens Demagogie im Elsass fast jeden dritten Wähler begeistert, haben die liberalen Kommentatoren der französischen Presse gerne und oft als bedauerliches Zeichen einer unberechenbaren Randprovinz interpretiert. Es passte zum Elsass mit seiner deutschen Vergangenheit, seinem germanischen Dialekt, seinen schwierigen Bürgern. Es fügte sich ins Bild von der exception alsacienne - der elsässischen Ausnahme. Aber inzwischen ist Le Pens Erfolg eher ein gesamtfranzösisches Phänomen. Nur noch ein Viertel der Franzosen finde die Ideen des Front National inakzeptabel, ergab kürzlich eine Umfrage der Zeitung "Liberation". Man kann es auch anders sagen: Drei Viertel der Wähler finden inzwischen Le Pens Programm akzeptabel. Es richtet sich gegen alles was fremd ist, gegen Integration und gegen Europa.
"Von Anfang an war ich gegen Europa, obwohl ich Familie in Deutschland habe. Wir, die reichen Länder, müssen jetzt auch noch die armen Osteuropäer mitfinanzieren, die dazu gekommen sind. Wir haben das nicht gewollt. Uns hat keiner gefragt."
Alles wird miteinander vermengt und verdammt: die Ausländer, das internationale Großkapital, die Globalisierung. Den Wählern Le Pens scheint nur noch der Front National Sicherheit zu garantieren. Dabei widerspricht es eigentlich den Interessen des Elsass, die große Nation zu glorifizieren. Die Elsässer sind eher geborene Europäer. Sie haben sich bislang auch so verhalten: Fast 70 Prozent stimmten beim Maastricht- Referendum für die europäische Integration. Und zum umstrittenen europäische Verfassungsvertrag sagten die Elsässer mehrheitlich ja, während das restliche Frankreich dagegen votierte.
Widersprüche sind fester Bestandteil der elsässischen Identität. Und weil es neben den Rechtsextremisten eben auch die vielen anderen gibt, die Weltoffenen, die Toleranten, die Grenzgänger des europäischen Alltags, deshalb lässt sich trotz allem hier leben - und zwar ziemlich gut, sagt Abdelhalim Youyou, der Imam von Straßburgs großer Moschee:
"Die extreme Rechte hat uns immer sehr angefeindet. Aber wir haben eben auch viel Unterstützung in Straßburg, und die kommt aus allen Teilen der Gesellschaft - auch von anderen Konfessionen, seien es christliche oder jüdische Gemeinden. Auf die haben wir uns bisher immer verlassen können mit unseren Anliegen."
"Wir warteten auf den großen Tag. Er kam am 2. Februar 1945. Es war still, man hätte einen Nadel fallen hören; der Schnee schmolz unter einer Sonne, die wie ein neues Geldstück glänzte. Etwas unerklärlich Erregendes lag in der Luft. Wir stiegen auf den Speicher hinauf, unter das Dach, das jetzt zum großen Teil ohne Ziegel war, um von dort die Lage zu überschauen. Auf der Straße, die Colmar mit Wintzenheim verbindet, näherten sich Fahrzeuge, die sich als Sturmpanzer entpuppten und im Schnee leicht zu erkennen waren.
'Sie kommen!'
Mit einer Begeisterung, die an Kühnheit grenzte, stürzten wir die Treppen hinunter, um auf die Felder zu rennen und die Sieger zu empfangen. Wir waren nicht allein: russische Gefangene, die die Deutschen freigelassen hatten, waren schon am Feiern. Wir kamen an einem Schützengraben vorbei, wo deutsche Soldaten uns gelassen grüßten: 'Jetzt ist alles vorbei.' Das MG 42 lag auf dem Boden, wie ein alter Besen.
Der erste Panzer, ein Sherman, hielt an; ein französischer Soldat, der die Luke des Drehturms aufstieß, grüßte uns mit einem breiten Lächeln und gab meiner Schwester Edith eine Zigarette. Ich glaube, es war eine Camel. Was für ein Augenblick!"
Die Tat des Ensisheimer Bürgermeisters hat in Frankreich Schlagzeilen gemacht. Ein Gericht verurteilte ihn für den Brandanschlag auf das Roma-Lager, bei dem er noch die Unterstützung der örtlichen Polizei hatte, zu sechs Monaten Gefängnis und zu 5000 Euro Geldstrafe. Viele Elsässer sahen dies jedoch anders: Sie solidarisierten sich mit ihm, indem sie sich in eine Bürgerliste eintrugen. Der fremdenfeindliche Akt des Politikers fügt sich indes in die hohe Zustimmung für den rechtsradikalen Chef der Front National.
Von den betroffenen 80 Roma spricht heute jedoch niemand mehr. Über Monate fehlte jede Spur von ihnen. Erst kürzlich tauchten sie in einer anderen Gegend wieder auf.
Solidarität mit den Fremden - Ein pensionierter Lokalpolitiker setzt sich für die Minderheit der Roma ein
Eine Ausfallstraße in der Nähe von Colmar. Nebel liegt über dem Rheintal, die Weinberge am Vogesenrand sind an solchen Tagen nur noch als blasse Schemen erkennbar. Irgendwo gleich in der Nähe liegt die vierspurige Trasse der A36, etwas abseits davon führt ein schlammiger Feldweg an Abraumhalden vorbei zu ihrem Lager. Roger Winterhalter - ein pensionierter Lokalpolitiker aus Mulhouse - hat die vertriebenen Roma- Familien nach monatelangem Suchen in dieser Gegend gefunden, nicht um sie auch von dort zu verjagen, sondern um ihnen zu helfen:
"Man hat die Leute vergessen. Und unsere Politiker haben auch kein Interesse daran, dass man sie sieht. Es kommt momentan nicht so gut an, sich in Wahlkampfzeiten für Roma einzusetzen oder für andere am Rand der Gesellschaft, für Gesindel, wie es heute heißt. Da wird man nicht wiedergewählt."
Er sei kein Roma- Romantiker, sagt er unterwegs, keiner, der die Augen vor Problemen verschließt:
"Natürlich gibt es in manchen Clans Prostitution, auch Kinderprostitution. Das kann man nicht tolerieren. Keine Frage. Aber man muss doch auch fragen, warum diese Leute das machen, warum sie sich verkaufen. Aber nein, man macht einen Skandal daraus, jagt sie davon, brennt ihre Wohnwagen ab.
Gehen Sie mal zu uns nach Mulhouse, all die so genannten Massagesalons, die dort florieren. Man könnte glauben, halb Mulhouse müsse sich krankengymnastisch massieren lassen. Das ist unglaublich. Aber darüber regt sich niemand auf, das das wird so hingenommen, das ist nun mal Teil unserer Gewohnheiten."
Die Roma haben ihre Wohnwagen in zwei Reihen auf eine Lichtung zwischen entlaubte Büsche und Bäume gestellt. Die Luft ist kalt und feucht. Und zwischen den Wagen qualmt ein Feuer aus Holzkisten und Kartons. Es wärmt die ausgestreckten Hände der älteren Frauen und Männer. Die Jüngeren stehen vor ihren Wagen und reden einfach drauf los.
"Das waren unsere Caravans, die abgebrannt wurden. Das war unser Eigentum. Wir sind danach zur Polizei gegangenen. Aber die hat nur gesagt: Das ist uns doch egal, was mit euren Wagen passiert ist. Da waren all unsere Kleider drin, alles was wir besessen haben. Alles verbrannt. Ich werde das nie vergessen: Morgens gehe ich in die Stadt zum Betteln, und wie ich abends zurückkomme, war alles abgebrannt. Ich habe nichts mehr, auch keine Papiere mehr, keinen Pass."
Das vergangene Jahr haben sie mit Betteln überstanden - in Mulhouse, Colmar, Belfort. Pro Tag und pro Person kommen da etwa acht Euro zusammen.
Bei einem elsässischen Händler haben sie dann die billigsten Wohnwagen gekauft, die sie kriegen konnten, undichten Schrott für 80 Personen, nur mit Matratzen und Wolldecken ausstaffiert. Darin hausen sie nun schon seit Monaten, und sehen nicht aus wie fahrendes Volk, sondern wie Flüchtlinge aus der Dritten Welt. Sommer und Herbst waren auszuhalten, aber jetzt ist Winter, und die Frauen tragen hustende Säuglinge in den Armen:
"Mein Kind ist krank, es hat Tuberkulose. Der Doktor aus der Stadt war schon da, er hat uns ein paar Medikamente gegeben. Aber wir haben kein Geld, um den Wohnwagen zu heizen. Es ist immer kalt. Wir bräuchten Windeln, Kleider, Decken. Aber wir haben nichts."
Nach Ensisheim sind sie nie wieder gegangen. Sie haben sich abgefunden mit ihrem Verlust. Roger Winterhalter hat in den letzten Wochen viele Windeln, Kleider und Decken gesammelt. Bürgermeister Habig sieht derweil einer weiteren Amtszeit entgegen und erfreut sich noch größerer Beliebtheit als früher. Dass er einmal 14 Wohnwagen niederbrannte und 80 Roma aus der Gemeinde vertrieb, wird ihm von seinen Wählern inzwischen als Heldentat angerechnet; oder wie es sein Gefolgsmann Charles Moser ausdrücken würde, er hat im Sinne des Gemeinwohls gehandelt:
"Ich finde, es war doch eine sehr gute Lösung das Ganze anzuzünden, allein schon hygienisch gesehen. Heutzutage verbrennt man ja auch Kühe wegen Rinderwahn oder Hühner wegen der Vogelgrippe. Also, das war reine Hygiene."
Die Säuberungsaktion war erfolgreich und die Zeit hat nur wenige Spuren von ihr hinterlassen. Am Waldrand von Ensisheim ist Gras über die Sache gewachsen. Nur an wenigen Stellen sind noch ein paar schwarze Flecken zu sehen:
"Das ist Asche. Übrig gebliebene Asche."
Literatur: Tomi Ungerer, Die Gedanken sind frei - Meine Kindheit im Elsass
Diogenes Verlag AG
Zürich, 1993
Die Folgen der Globalisierung, Verunsicherung, unsichere Arbeitsplätze, Zukunftsangst, das Gefühl der Ausgrenzung haben auch in Belgien der Vlaams Belang, in Großbritannien der National-Partei, in Italien der Lega Nord, in Frankreich dem Front National die Menschen in die Arme getrieben. Und seit Anfang dieses Jahres haben die Ultrarechten sogar im Europaparlament mit der Bildung einer rechtsextremen Fraktion ihre Macht ausgebaut. Und so wundert es nicht, dass der Ruf nach einem europaweiten Kampf gegen Rechtsradikalismus immer lauter wird.
Auch im französischen Präsidentschaftswahlkampf ist der Chef des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, die unbekannte Größe neben Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal, den Kandidaten der Regierungspartei UMP und der Sozialisten. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren hatte es Le Pen sogar bis in die Stichwahl geschafft. Sechs Millionen Franzosen gaben im ihre Stimme, besonders viele im Elsass. Denn seit Gründung der Front National Anfang der 80er Jahre ist das Elsass die Hochburg Le Pens. Der Front National und die rivalisierende Organisation Alsace d´abord gewinnen bei Wahlen regelmäßig rund 30 Prozent der Stimmen. Will heißen: Jeder dritte Wähler im Elsass votiert für die extreme Rechte. Besonders auf dem Land grassiert eine latente Fremdenfeindlichkeit, manchmal schlägt sie auch in Pogromstimmung um. Opfer sind meist umherziehende Roma. Typisch ist der Fall eines Bürgermeisters, der im südlichen Elsass ein Roma-Lager eigenhändig in Brand steckte. Vor Gericht wurde er verurteilt, vor Ort wird er bis heute gefeiert.
Roma im Visier der Rechtsextremen - Ein Bürgermeister übt sich als Brandstifter
Wenn auf einmal 14 Wohnwagen brennen, Kunststoff, Holz, Kleider, Matratzen, dann lässt sich das nicht so leicht übersehen: der Rauch, der Gestank, der Widerschein des Feuers am frühen Morgen. Eigentlich hätte das die Bürger einer Kleinstadt beunruhigen müssen, erst recht im Elsass, wo man noch Wert auf gute Nachbarschaft legt. Aber der beißende Qualm, der über die Dächer von Ensisheim zog, wirkte offenbar nicht sehr verstörend. Er kam vom südlichen Ortsrand, wo einige Roma campierten. Ihr Lager wurde niedergebrannt. Und Emil Meyer, ein angesehener Unternehmer im Ort, hat sich dabei die Hände gerieben:
"Das waren doch nur Hergelaufene, die nicht mal Papiere hatten: Rumänen, Bulgaren, Zigeuner, die nur hierher gekommen sind, um zu stehlen, zu betrügen, zu lügen. Die haben hier ein Lager aufgeschlagen, da sind die schlimmsten Dinge passiert: Zuhälterei, Drogenhandel. So war das hier. Klar, da hat unseren Bürgermeister der Zorn gepackt, und er hat alles niedergebrannt. Und ich finde das gut. Das war gut so."
Ein Jahr ist das jetzt her, dass ein elsässischer Bürgermeister zum Brandstifter wurde. Der Mann - er heißt Michel Habig - wurde vor wenigen Monaten vom Landgericht Straßburg zu sechs Monaten auf Bewährung und 5000 Euro Geldbuße verurteilt. Aber die Geschichte lässt sich so leicht nicht vergessen, weil sie eine Geschichte vom Niederbrennen und Davonjagen ist.
Der Europarat hat hunderte Fälle dokumentiert, in denen Roma von ihren Lagerplätzen vertrieben wurden - in Griechenland, Bulgarien, Tschechien, Großbritannien und Frankreich. Im Elsass ist die Fremdenfeindlichkeit besonders stark ausgeprägt, obwohl die Region wirtschaftlich zu den wohlhabenden Gegenden Frankreichs gehört. Dennoch gibt es eine latente Rechtslastigkeit, meint der Politikwissenschaftler Bernard Schwengler.
Er hat mit Le Pen-Wählern geredet und mit Leuten, die Le Pen nicht wählen würden. Diejenigen, sagt er, die für den Front National stimmten, waren natürlich gegen alles, was fremd ist. Das war zu erwarten. Aber die anderen hatten ganz ähnliche Ansichten. Das ist offenbar eine weit verbreitete Haltung, die sich nicht auf das rechtsextreme Spektrum eingrenzen lässt, sagt Schwengler. Es sind meistens Leute, die gegen eine Entwicklung protestieren, in der sie sich nicht mehr wieder erkennen. Und dieser Protest reicht über den Front National hinaus.
Womöglich kann es kaum etwas geben, das eine kleine Stadt und ihre Bürger so sehr verunsichert wie der plötzliche Einbruch des Fremden. Was in Ensisheim mit einem Roma-Lager geschah, der Brandanschlag, die Einschüchterung, die Vertreibung, ist seine reflexhafte Abwehr. Und es ist die ewige Wiederkehr der Pogrome. So oder so ähnlich, früher oder später. Es wäre nur gut zu wissen, dass es auch Schutz gibt in solchen Momenten, eine Kirche zum Beispiel wie Ensisheims altes Gotteshaus Saint Martin. Sein wuchtiger Glockenturm ragt über die Stadt, gleich gegenüber ist die Pfarrei.
Curé Bernard Munsch ist zu Hause. Er öffnet die Tür und wischt sich den Mund ab. Es geht gegen Mittag, da stört man die Leute nur ungern im Elsass. Aber andererseits müsste der Pfarrer ja schon etwas sagen zu dem, was in seiner Gemeinde geschah:
"Hören Sie, jeder könnte dazu was sagen, aber wer genau, das weiß ich wirklich nicht. In so einer Stadt weiß man doch nie so richtig, was passiert ist, sogar ich nicht als Pfarrer. Ich bleibe da ganz neutral in der Angelegenheit. Das ist nicht meine Sache. Das geht mich nichts an."
Einen Straßenzug weiter, in der Kaffeebar La boule d´or, ist es im Grunde nicht anders als im katholischen Pfarrhaus. Auch hier weiß jeder worum es geht: die Gäste vorm Tresen, die Bedienung dahinter. Aber auch hier geht die Sache keinen was an.
"Nein, man spricht da nicht drüber. Die Leute bleiben unter sich, reden unter sich. Das geht niemanden was an. Ich kann Ihnen da sonst nichts dazu sagen. Das ist nicht mein Problem. Ich mache meine Arbeit, gehe abends heim. Jeder macht halt, was er tun muss."
Aber es gibt ja noch Charles Moser, den ortsbekannten Hotelier Ensisheims. Den hatte Bürgermeister Habig in einem knappen Telefonat als hundert Prozent objektiven Gesprächpartner und Gewährsmann empfohlen, weil er sich als Täter ja nicht äußern wollte zur Sache. Charles Moser ist ein freundlicher, älterer Herr mit einem Seidenschal um den Hals, diskret und doch engagiert, ein Vertreter der gehobenen Gastronomie. Als der Bürgermeister in Not war und vor Gericht kommen sollte, konnte er sich auf Leute wie Moser verlassen:
"Hier gibt es in jedem Restaurant einen Stammtisch, und da hat einer von den Alten gesagt: Alors, wir müssen den Bürgermeister für das, was er getan hat, unterstützen. So ging das los. Wir haben eine Liste gemacht, und da stand drauf: Wir, die Unterzeichner, unterstützen Michel Habig, den Bürgermeister von Ensisheim. Voila!"
Und die Liste wurde von Tag zu Tag größer, und in Colmar und Selestat und anderen elsässischen Städten wurde sie auch rumgereicht. Über 7000 Unterschriften kamen zusammen.
"Die Geschäftsleute haben sie bekommen, die Restaurantbesitzer, die Taxi -und Transportunternehmen. Versammlungen wurden einberufen, die Fleischer, die Bäcker, die Handwerksbetriebe. Es gab die Fußballvereine, die sich mit Habig solidarisierten, Sportverbände, im ganzen Departement Oberrhein ist das geschehen, nicht nur hier in der Stadt. Ich persönlich habe eine Veranstaltung der Hoteliers organisiert. Da haben mehr als Hundert unterschrieben. Jeder wusste doch, dass dieses Lager nichts anderes war als ein Stützpunkt, wo schlimme Dinge geschahen, die man aber leider nicht beweisen kann."
Man kann die schlimmen Dinge wirklich nicht beweisen, aber Charles Moser weiß natürlich trotzdem genau, was für schlimme Dinge das waren:
"Da waren doch vor allem Familien mit kleinen Kindern und hübschen jungen Mädchen. Einer war immer da, der hat auf sie aufgepasst. Sie blieben zwei, drei Nächte, dann zogen sie weiter. Das waren ja im Grunde arme Leute. Die wurden dann abgeholt, um betteln oder auf den Strich zu gehen. Wenn Sie nach Paris gehen, dann sehen sie doch überall diese bettelnden Kinder aus Rumänien und Bulgarien auf der Straße."
Das ist eben der Alptraum für einen wie Moser, dass irgendwann zu Hause in Ensisheim die gleichen Zustände herrschen werden wie im fernen Paris. Drogen und Chaos, Ausländer und Prostitution. Darüber wird doch jeden Abend im Fernsehen berichtet.
Das Elsass ist wie ein Eintopfgericht, schreibt der elsässische Schriftsteller, Zeichner und Cartoonist Tomi Ungerer in seinem Buch "Die Gedanken sind frei". Kelten, Franken, Römer, Alemannen, Helveter, Franzosen und Deutsche haben ihre Spuren hinterlassen. Dem Elsässer ist das Wort "Heimat" deshalb lieber als das Wort "Vaterland". Denn die Kinder der Mutter Elsass wurden ständig von zwei eifersüchtigen Nachbarn abwechselnd unterdrückt, schikaniert und gehätschelt und leiden deshalb an ihrer Identität. Franzosen? Deutsche? Allein von 1871 bis 1945 mussten die Elsässer vier Mal ihre Nationalität wechseln. Eine Aufarbeitung - vor allem der nationalsozialistischen Zeit - hat nie stattgefunden.
Als neunjähriges Kind erlebt Tomi Ungerer den Einmarsch der deutschen Armee. Die Okkupation der Deutschen prägt seine Kindheitserinnerungen:
"Es war wirklich 'la drole de guerre', ein 'Sitzkrieg'; die oft unrasierten Frontsoldaten, manche noch in den blauen Uniformen des Ersten Weltkriegs, Pfeife rauchend, an den Waden Wickelgamaschen, mit aufgeknöpfter Jacke, prahlend, dass die Maginot- Linie unüberwindbar sei und vor den Hunnen schützen würde, standen sich die Beine in den Bauch und trällerten 'J'attendrai, le jour et la nuit, j'attendrai toujours' ('ich werde warten Tag und Nacht, ich werde warten immerzu'), nicht ahnend, dass sich das Warten vier Jahre lang hinter den Stacheldrahtzäunen der Stalag-Gefangenenlager hinziehen würde
Dass die Deutschen kämen, konnten wir uns nicht vorstellen, denn wir wussten, dass Frankreich stärker war, dass es gewinnen würde. 'Sie werden nicht einmarschieren, wir werden siegen, weil wir die Stärkeren sind', wurde gesagt."
Gleich zu Beginn des Frankreich-Feldzuges 1940 besetzte die deutsche Armee das Elsass, unterstellte es seiner Zivilverwaltung und schloss es als Reichsgebiet dem Gau Baden an. Formal fand allerdings weder eine Annexion noch eine Abtretung des Gebiets durch Frankreich statt. Die wehrfähigen deutschen Elsässer, rund 130.000, wurden als "Volksdeutsche" überwiegend zum Dienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS gezwungen und standen danach in Frankreich unter Generalverdacht der Kollaboration. Umgekehrt waren zuvor bereits viele deutsche Elsässer von der französischen Armee eingezogen worden, hatten sich dieser freiwillig angeschlossen oder gehörten später dem französischen Widerstand, der Résistance, an. Nunmehr kämpften Elsässer gegen Elsässer in zwei verfeindeten Armeen.
Die Elsässer tun sich heute noch schwer mit ihrer Geschichte. Lange glaubten sie, dass diese Vergangenheit ihnen auch die Zukunft in Frankreich verbaut. Ehemalige noch lebende elsässische Wehrmachtsmitglieder kämpfen bis heute um ihr Recht auf Anerkennung ihrer Geschichte. Und in Paris wird immer noch auf die Jahre zwischen 1940 und '45 verwiesen, um das Phänomen des Rechtsextremismus historisch zu erklären.
Unbewältigte Vergangenheit - Die gespaltene Identität der Elsässer
Er wird das nicht los, auch nicht nach all den Jahren. Roger Winterhalter war noch ein Kind, als im Frühsommer 1940 die Deutschen einmarschierten ins Elsass. Es war eine unblutige Invasion, fast ein Ausflug für die Soldaten der Wehrmacht. "Die Deutschen waren da, und sie stiegen von ihren Lastwagen wie Touristen aus ihren Bussen", heißt es im Tagebuch eines Elsässers. Und genauso hat es auch Roger Winterhalter erlebt, damals, in Lutherbach, in seinem Elternhaus in der Rue de Camps. Als die Deutschen kamen, sagt er, hing doch vor jedem Haus die Hakenkreuzfahne.
"Als der Krieg vorbei war, da waren dann plötzlich alle Lutherbacher in der Résistance. Alle waren Widerstandskämpfer. Dabei gab es doch nur ganz wenige. Das andere wurde schnell vergessen. Man hat einfach nicht mehr drüber geredet. Bis heute. Und bis heute hört man hier immer noch Sätze wie: Die Deutschen haben damals nicht alles falsch gemacht, es gab wenigstens Ordnung. Aber wo fängt die an und wo hört das auf? Immer ist es hier im Elsass nur um Ordnung gegangen."
Da liegt der alte Mann wahrscheinlich nicht mal so falsch nach den jüngsten Prognosen. Er war früher lange Zeit Bürgermeister von Lutherbach und hat noch immer ein gutes Gespür für die lokalpolitische Atmosphäre im Land. Im Elsass gibt es in Wahlkampfzeiten verlässliche Hochburgen für Le Pen: Ensisheim, Ilzach, Wittenheim, in einigen Dörfern kommt der FN regelmäßig über 40 Prozent. Nach den Wahlen stellen dann fassungslose Politiker und vorwurfsvolle Journalisten die immer gleiche Frage an die Bürger im Elsass: Warum wählt ihr nur so?
Das Elsass hat eben ein Problem mit seiner Vergangenheit, antwortet der Straßburger Historiker Robert Steegmann:
"Das ist spätestens 1945 deutlich geworden. Da wollte sich niemand mit dem auseinandersetzen, was geschehen war. Das ist einerseits nachvollziehbar. Die Elsässer mussten mehrmals ihre nationale Zugehörigkeit ändern, und nie wurden sie gefragt. Die Zeit zwischen 1940 und '45 war besonders schlimm. Aber man wollte einfach nicht darüber reden. Und das kommt dann eben zu gegebener Zeit wieder an die Oberfläche. Ein Teil davon sind die Stimmen für den Front National."
Ein anderer Teil sind die Übergriffe auf Roma oder die Schändung jüdischer Friedhöfe, die in den letzten Jahren gleich dutzendweise von Rechtsextremisten heimgesucht wurden. Die antisemitische Propaganda der Nazis wurde in vielen Gemeinden auf elsässisch wiederholt. Aber andererseits war es nicht so, dass das Elsass mit wehenden Fahnen zum Dritten Reich überlief:
"Das Erstaunliche ist ja, wenn man sich mal anschaut, wie viele Elsässer tatsächlich mit den Nazis kollaboriert haben, dann waren das nicht viele. Ja, es gab natürlich viele, die nichts gesagt haben. Es gab aber auch Leute im Widerstand. Nur, die Zahl derjenigen, die damals kollaboriert haben, lag bei maximal 10 bis 15 Prozent."
Es gab im Elsass nicht mehr Kollaboration als im restlichen Frankreich. Dass Hitler gleich nach dem Waffenstillstand 1940 befahl, die Elsässer konsequent zu germanisieren; dass kurze Zeit später die Plünderungen begannen, die Zwangsrekrutierung, der Terror, das alles hat aus der großen Mehrheit der Elsässer keine Deutschen, sondern entschiedene Franzosen gemacht. Doch ihre Loyalität wurde nach der Befreiung schlecht honoriert. Paris traute den Elsässern erst mal nicht über den Weg und setzte alles daran, die angeblich unsicheren Kantonisten endgültig zu hundertprozentigen Franzosen umzuerziehen. Nun wurde alles, was Deutsch war, verboten: die Straßennamen, die Sprache und mit ihr eben auch ein Stück der eigenen Identität, Bis heute wird das von denen, die das erlebt haben, als Trauma empfunden:
"Als ich ein Junge war, nach dem Krieg, hat unser Schuldirektor in Hagenau ein Strafsystem für diejenigen organisiert, die noch Elsässisch sprachen. Wir wurden dazu verpflichtet, jeden zu denunzieren, der das machte. Und wer erwischt wurde, den hat der Direktor persönlich bestraft, und sein Name wurde auf die so genannte Schadtafel geschrieben."
Pierre Klein ist ein ehemaliger Wirtschaftsprofessor, Ende 70, die Schulzeit ist für ihn in weite Ferne gerückt. Aber der gedemütigte Junge von damals geht ihm doch nah, wenn er sich an diese Jahre erinnert. Und da wird sie auch spürbar, die gespaltene Identität: Die Mehrheit der Elsässer kommt mit ihr zurecht. Aber wer nicht mit ihr leben kann, findet oft Halt bei den Parolen der Rechtsextremisten. Das Problem der Identität, sagt Robert Steegmann, es lässt uns bis heute nicht los:
"Man hat sich hier im Elsass eben immer als Opfer gefühlt - Opfer der einen und der anderen Seite. Und in dieser Haltung haben wir uns ganz gut eingerichtet. Ich weiß das, ich bin ja selbst Elsässer. Aber diese Opfermentalität bringt nichts Positives. Sie führt nicht dazu nachzudenken über das, was in der Vergangenheit mit uns geschehen ist und wie wir uns heute verhalten sollten."
"Die Deutschen?
Man stelle sich meine Verblüffung vor, als sie wirklich einmarschierten.
Zuerst die Kräder mit Beiwagen, dann die Infanterieeinheiten, diszipliniert, singend, mit schönen Stiefeln an den Füßen, richtigen Rucksäcken, richtigen Gewehren.
Ich stand mit meiner Spielzeugpistole vor dem Haus, ich warf sie zu Boden, da ich Angst hatte, für einen Freischärler gehalten zu werden. Es war Juni 1940, um die Mittagszeit, es war heiß. Das Regiment macht vor dem Haus Rast, die Gewehre werden zusammengestellt, eine von einem Pferd gezogene Feldküche trifft ein. Mit einem breiten Lächeln bietet mir ein Soldat an, von seiner Suppe zu kosten. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich richtige Soldaten. Im Gleichschritt, singend, zogen sie weiter. Es waren nicht die Hunnenhorden, die Hansi uns angekündigt hatte, und zu allem Überfluss waren sie sympathisch. Ich stolperte über mein erstes Fragezeichen. Am Montag, dem 17. Juni 1940, marschierten die Deutschen in Colmar ein.
Oberst Koch, Kommandant des Sturmregiments 'Adolf Hitler', verlangt die sofortige Lieferung von 2300 Kg Brot, 557 Kg Wurst, 290 Kg Butter, 7 Kg Tee, 23 Kg Kaffee, 290 Liter Rum und 23 000 Päckchen Zigaretten, zusätzlich zwanzig Geiseln, vorzugsweise frankophile Beamte.
Die Soldaten ihrerseits leerten als gute Kunden die Geschäfte, denn der Franc war auf 5 Pfennige festgesetzt worden!
Sie fühlten sich wie Gott in Frankreich."
Bei der Suche nach einer Erklärung, warum die rechtsextreme Wählerschaft sich gerade in den ländlichen Regionen des Elsass stabilisiert, versagen die üblichen Muster. Denn die Region steht wirtschaftlich besser da als viele andere französische Provinzen. Und auch die Zahl der Immigranten hält sich in den Dörfern und kleineren Städten in Grenzen.
Aber was sind die Gründe dann für die latente Fremdenfeindlichkeit? Es ist vor allem der Wunsch nach Ruhe und Ordnung. Denn die vom Konservatismus geprägten Menschen in den Dörfern fühlen sich bedroht von dem, was im nahen Straßburg geschieht, wo es in gewohnter Regelmäßigkeit zu Krawallen und Ausschreitungen kommt.
Zusätzlich fühlen sie sich jetzt noch durch die Globalisierung bedroht, die eine Grenzregion mit einer starken regionalen Tradition besonders hart trifft: alte Betriebe schließen, Massenentlassungen drohen.
Rechtsruck als Folge des sozialen Umbruchs - Die Angst der Elsässer vor Unordnung, Gewalt und Rechtlosigkeit
Das Elsass der Touristen und das seiner knapp zwei Millionen Bewohner berühren sich, aber sie haben wenig miteinander zu tun. Die Reisebusse parken meist außerhalb der engen, putzigen Städtchen und Dörfer, an den Wochenenden sind sie von Deutschen, Japanern, Holländern überfüllt. Die friedliche Landschaft gibt ein erstklassiges Fotomotiv. Aber hinter den Fachwerkhäusern, den Butzenscheiben und Weinkellern öffnen sich manchmal dunkle, verborgene Räume. Und dort ist so ziemlich alles gelagert, was dem behaglichen Gugelhupf-Klischee widerspricht.
Es ist der ewige Minderwertigkeitskomplex einer Randprovinz, die daran leidet, lange Zeit vernachlässigt worden zu sein, die Abneigung gegen alles, was fremd und was störend erscheint und die Angst, dass all die Unordnung, die Gewalt und Rechtlosigkeit dieser Welt auch noch den eigenen sicher geglaubten Lebenswinkel erfasst. Von Paris wurde dem kleinen Elsass immer chronisches Misstrauen entgegengebracht, seine politische Loyalität zur großen Nation hinterfragt. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als die von Hitlerdeutschland besetzte Region wieder frei wurde und französisch. Deutsch wurde an den Schulen als Sprache des Feindes verboten, Elsässisch als verdächtig germanischer Dialekt diffamiert. Es war, als gelte es den Elsässern die deutsche Seite ihrer Identität mit Gewalt auszutreiben.
Heute fühlen sich viele Elsässer immer noch als die unverstandenen Stiefkinder von La France. Und von dieser Kränkung profitieren vor allem die Rechtsextremisten. Fast 30 Prozent haben Le Pen und Konsorten bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Elsass gewonnen. Und auch 2007 droht wieder ein großer Erfolg.
"Ich glaube, dass die rechtsextremen Parteien sehr viele Stimmen bekommen werden. Die innere Sicherheit wird ein großes Thema im französischen Wahlkampf sein. Nach jüngsten Umfrage kommt Le Pen landesweit in Frankreich auf 17 Prozent. Und da er üblicherweise bei Umfragen unterschätzt wird, dürfte er noch mehr bekommen."
Bernard Schwengler ist Politikwissenschaftler, einer der sich bei seinen Erklärungsversuchen zunächst an Prozentzahlen und Statistiken orientiert. Im Elsass, rechnet er vor, kommen Jean Marie Le Pens Front National und die regionale Splitterpartei Alsace d´abord auf stabile 25 bis 30 Prozent. Jeder vierte Wähler gibt der extremen Rechten die Stimme; seit zwei Jahrzehnten.
Auf der Place Kleber zum Beispiel, mitten in Straßburg, sammeln sich in Wahlkampfzeiten die Anhänger des Front National. Es sind die üblichen Verdächtigen, die Stimmung machen für ihren Le Pen: junge Männer mit sauberem Haarschnitt, dazwischen ein paar gestiefelte Skins. Die üblichen Gegendemonstranten sind natürlich auch angetreten, und werden durch Polizeiketten von den Rechtsextremisten getrennt.
"Le Pen" meint einer, "ist der einzige, der unsere nationale Sache verteidigen kann. Er hat Ausstrahlung." Und einer anderer sagt: "Le Pen ist ein echter Politiker, die anderen machen doch nur Show. Die haben Frankreich kaputt gemacht. Frankreich ist doch nur noch eine unwürdige Bananenrepublik. Wir sind Franzosen. Aber wir sind auch Elsässer. Den Unterschied muss man verstehen."
Der eine heißt Alexandre Meyer, der andere Olivier Valait. Der eine studiert Maschinenbau, der andere ist Angestellter im Softwarebereich. Keinem geht es schlecht, keiner ist ein Sozialfall. Und trotzdem ist ihnen zum Fürchten zumute: vor der Zukunft, sagen sie, und vor allem, was fremd ist erst recht, egal ob es Roma sind oder arabische Immigranten:
"Wenn die mir über den Weg laufen, dann bedrohen sie mich, nur weil ich stolz bin, Franzose und Elsässer zu sein und weil ich das auch zeige. Sie bedrohen mich, und das macht mir Angst, weil ich nichts gegen sie machen kann. Das ist das Problem."
Der Politikwissenschaftler Bernard Schwengler hat ein Buch über Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Elsass geschrieben. Und er hat bei seinen Recherchen etwas getan, was eher selten ist in wissenschaftlichen Kreisen. Er ist raus zu den Leuten gegangenen, saß in den Weinstuben mit ihnen zusammen, in den Bars und Bistros. Und Schwengler hat immer wieder gefragt, was sie wirklich bewegt:
"Oft geht es dann um die Frage, was ihre Arbeit eigentlich noch wert ist. Sie sagen: Heutzutage wird doch kaum noch richtig gearbeitet. Nur unsereins schuftet sich noch krumm. Unsereins ist der Dumme. Wenn wir morgens früh zur Arbeit gehen, dann kommen da irgend welche Typen aus den Vorstädten mit ihren Autos nach Hause, weil sie die ganze Nacht irgendwo rumhingen. Und unsere Kinder finden keine Jobs. Darum dreht es sich oft, um dieses Gefühl, dass Arbeit nichts mehr wert ist. Für mich stehen da die dramatischen Veränderungen der Arbeitswelt im Hintergrund."
Die Arbeitswelt hat sich im Elsass genauso dramatisch verändert wie anderswo. Die Region vermarktet sich zwar nach außen hin vorzugsweise als Touristenidylle. Aber in der Realität war sie eine der ersten industrialisierten Provinzen in Frankreich und hat in den letzten Jahrzehnten einen harten Umbruch erlebt:
"Die Elsässer waren früher Bauern, die aber gleichzeitig auch Fabrikarbeiter waren. Es gab hier überall Gerbereien im Rheintal und Textilindustrie in den Vogesen. Das waren keine großen Betriebe, sondern kleine oder mittelständische Unternehmen auf dem Land. Deshalb gab es auch keine Landflucht in die großen Städte. Die Elsässer wollten da nicht hin. Im Sommer haben sie auf ihren Feldern gearbeitet, den Rest der Zeit in der Fabrik. Heute sind im Elsass nur noch zwei Prozent richtige Bauern. Aber in ihrer Denk- und Lebensweise sind die Elsässer ländlich geblieben. Deshalb verhalten sich die Leute auch politisch anders. Die Arbeitnehmer wählen nicht mehrheitlich links. Das haben sie nie getan. Sie sind Arbeitnehmer, aber ohne Klassenbewusstsein oder Protestpotenzial. Sie verhalten sich eher wie Kleinunternehmer oder Hausbesitzer. Mit links haben sie nichts zu tun."
Le Pens Hochburg ist eine Region, die allen Krisensymptomen zum Trotz, wirtschaftlich immer noch zu den wohlhabenden in Frankreich gehört. Nur in Paris wird mehr Geld als im Elsass verdient. Die Arbeitslosigkeit liegt noch immer unter dem französischen Durchschnitt, und in den kleineren Orten leben nur wenige arabische Immigranten. Dass sich trotzdem jeder vierte Elsässer Le Pen an die Brust wirft, hat wenig mit den realen Lebensumständen zu tun.
"Es begann die 'Aktion Elsass' - zuständig dafür war Gauleiter Robert Wagener, mit totalen Vollmachten.
Überall auf den Litfasssäulen tauchten Plakate auf: "Hinaus mit dem welschen Plunder". Es hagelte Verordnungen.
Die französische Vergangenheit wurde systematisch ausgemerzt, und zwar nach bestimmten Regeln, die ans Absurde grenzten.
Zuerst die Namen; ich Tomi, Jean Thomas, werde übersetzt als Hans Thomas, manches Mal auch als Johann, Yvonne wird Irmgard, meine Schwester Vivette wird Genoveva. Sonderbarerweise bleibt der eher fremde Name meiner Schwester Edith unverändert.
Ebenso werden die Familiennamen geändert. Boulanger wird Bäcker, Meunier Müller, Grandjean Großhans, ganz in der Tradition vom elsässischen Hin und her.
Alle Hauptstraßen wurden in Adolf-Hitler-Straße umgetauft. - In Mülhausen aber hieß die Hauptstraße 'la rue du Sauvage' - ein schöner Zufall. Der Wilde war jetzt Adolf Hitler.
Jede Übertreibung ruft als Reaktion Spott hervor. In Straßburg gibt es die 'Straße, wo der Fuchs den Enten predigt'. - Ein Witzbold mit echt elsässischem Humor ersetzte den Straßennamen durch 'Dr.-Goebbels-Straße'."
Rechtsextreme Wähler im Elsass können sich zwischen zwei großen Parteien entscheiden: dem Front National Le Pens und Alsace d´abord, eine regionale Splitterpartei des Front National. Alsace d´abord unterscheidet sich nur in pro-europäischen Ausrichtung vom nationalistischen, antieuropäischen Front National, ansonsten teilen die rechten Regionalisten das ausländerfeindliche Programm und unterstützen auch Le Pen bei Präsidentschaftswahlen.
Der Front National stellt im Elsass 8 von 47 Regionalräten im Conseil regionale und etliche Stadträte in den Kommunen. Rechtsextreme sind besonders stark auf dem Land verankert, in Straßburg relativ schwach.
Gegen alles was fremd ist - Die Heilsversprechungen der Front National
Einer wie er füllt immer die Säle. Er füllt sie mit einfachen Sätzen und auch mit seinem aggressiven Gebrüll. Und er füllt sie mit Menschen, die nur darauf warten, dass er endlich kommt: "Mesdames, Messieurs", ruft der Ansager, "im Namen des ganzen Elsass. Jean Marie Le Pen."
Es sind die kleinen Leute, die nach ihm verlangen: Arbeiter, Rentner, ältere Frauen in gedeckten Kostümen. "Wir haben so viele Probleme", sagt eine 60-Jährige aus Mühlhausen, "Le Pen bedeutet alles für mich."
Le Pen kommt schnell zur Sache und schießt sich auf die üblichen Feindbilder ein: Ausländer, Muslime, Europa, die korrupten Politiker im Besonderen und der heruntergekommene Staat im Allgemeinen. Der Vorsitzende des Front National ist noch zu jedem seiner Wahlkämpfe ins Elsass gereist, da weiß er sich auf gesichertem Boden. Nur im Midi, im französischen Süden, hat er so viel Unterstützung wie hier. Diesmal braucht Le Pen die Elsässer Stimmen mehr als jemals zuvor: Zum fünften Mal will der 78-Jährige für die Präsidentenwahl kandidieren, wahrscheinlich das letzte Mal, dass er antritt. Zuletzt, 2002, haben sechs Millionen Franzosen für ihn gestimmt. Das feuert ihn an. Da kann er sogar die Beherrschung verlieren, wenn er die verhasste Linke beschimpft:
"Wir haben die Schnauze voll von Euch, von euren Beleidigungen, Drohungen, Lügen","
brüllt er. Und später, Le Pen hat sich ausgetobt, zeigt sich im Publikum, was hängen blieb von seinen Parolen:
""Man muss die Einwanderung der Ausländer endlich stoppen, das zuallererst. Hier in Frankreich machen die Fabriken dicht, Franzosen werden auf die Straße gesetzt, und was kriegen diejenigen, die zu uns kommen? Sie kriegen Sozialhilfe. oder sie nehmen uns gleich unsere Arbeitsplätze weg."
Dass Le Pens Demagogie im Elsass fast jeden dritten Wähler begeistert, haben die liberalen Kommentatoren der französischen Presse gerne und oft als bedauerliches Zeichen einer unberechenbaren Randprovinz interpretiert. Es passte zum Elsass mit seiner deutschen Vergangenheit, seinem germanischen Dialekt, seinen schwierigen Bürgern. Es fügte sich ins Bild von der exception alsacienne - der elsässischen Ausnahme. Aber inzwischen ist Le Pens Erfolg eher ein gesamtfranzösisches Phänomen. Nur noch ein Viertel der Franzosen finde die Ideen des Front National inakzeptabel, ergab kürzlich eine Umfrage der Zeitung "Liberation". Man kann es auch anders sagen: Drei Viertel der Wähler finden inzwischen Le Pens Programm akzeptabel. Es richtet sich gegen alles was fremd ist, gegen Integration und gegen Europa.
"Von Anfang an war ich gegen Europa, obwohl ich Familie in Deutschland habe. Wir, die reichen Länder, müssen jetzt auch noch die armen Osteuropäer mitfinanzieren, die dazu gekommen sind. Wir haben das nicht gewollt. Uns hat keiner gefragt."
Alles wird miteinander vermengt und verdammt: die Ausländer, das internationale Großkapital, die Globalisierung. Den Wählern Le Pens scheint nur noch der Front National Sicherheit zu garantieren. Dabei widerspricht es eigentlich den Interessen des Elsass, die große Nation zu glorifizieren. Die Elsässer sind eher geborene Europäer. Sie haben sich bislang auch so verhalten: Fast 70 Prozent stimmten beim Maastricht- Referendum für die europäische Integration. Und zum umstrittenen europäische Verfassungsvertrag sagten die Elsässer mehrheitlich ja, während das restliche Frankreich dagegen votierte.
Widersprüche sind fester Bestandteil der elsässischen Identität. Und weil es neben den Rechtsextremisten eben auch die vielen anderen gibt, die Weltoffenen, die Toleranten, die Grenzgänger des europäischen Alltags, deshalb lässt sich trotz allem hier leben - und zwar ziemlich gut, sagt Abdelhalim Youyou, der Imam von Straßburgs großer Moschee:
"Die extreme Rechte hat uns immer sehr angefeindet. Aber wir haben eben auch viel Unterstützung in Straßburg, und die kommt aus allen Teilen der Gesellschaft - auch von anderen Konfessionen, seien es christliche oder jüdische Gemeinden. Auf die haben wir uns bisher immer verlassen können mit unseren Anliegen."
"Wir warteten auf den großen Tag. Er kam am 2. Februar 1945. Es war still, man hätte einen Nadel fallen hören; der Schnee schmolz unter einer Sonne, die wie ein neues Geldstück glänzte. Etwas unerklärlich Erregendes lag in der Luft. Wir stiegen auf den Speicher hinauf, unter das Dach, das jetzt zum großen Teil ohne Ziegel war, um von dort die Lage zu überschauen. Auf der Straße, die Colmar mit Wintzenheim verbindet, näherten sich Fahrzeuge, die sich als Sturmpanzer entpuppten und im Schnee leicht zu erkennen waren.
'Sie kommen!'
Mit einer Begeisterung, die an Kühnheit grenzte, stürzten wir die Treppen hinunter, um auf die Felder zu rennen und die Sieger zu empfangen. Wir waren nicht allein: russische Gefangene, die die Deutschen freigelassen hatten, waren schon am Feiern. Wir kamen an einem Schützengraben vorbei, wo deutsche Soldaten uns gelassen grüßten: 'Jetzt ist alles vorbei.' Das MG 42 lag auf dem Boden, wie ein alter Besen.
Der erste Panzer, ein Sherman, hielt an; ein französischer Soldat, der die Luke des Drehturms aufstieß, grüßte uns mit einem breiten Lächeln und gab meiner Schwester Edith eine Zigarette. Ich glaube, es war eine Camel. Was für ein Augenblick!"
Die Tat des Ensisheimer Bürgermeisters hat in Frankreich Schlagzeilen gemacht. Ein Gericht verurteilte ihn für den Brandanschlag auf das Roma-Lager, bei dem er noch die Unterstützung der örtlichen Polizei hatte, zu sechs Monaten Gefängnis und zu 5000 Euro Geldstrafe. Viele Elsässer sahen dies jedoch anders: Sie solidarisierten sich mit ihm, indem sie sich in eine Bürgerliste eintrugen. Der fremdenfeindliche Akt des Politikers fügt sich indes in die hohe Zustimmung für den rechtsradikalen Chef der Front National.
Von den betroffenen 80 Roma spricht heute jedoch niemand mehr. Über Monate fehlte jede Spur von ihnen. Erst kürzlich tauchten sie in einer anderen Gegend wieder auf.
Solidarität mit den Fremden - Ein pensionierter Lokalpolitiker setzt sich für die Minderheit der Roma ein
Eine Ausfallstraße in der Nähe von Colmar. Nebel liegt über dem Rheintal, die Weinberge am Vogesenrand sind an solchen Tagen nur noch als blasse Schemen erkennbar. Irgendwo gleich in der Nähe liegt die vierspurige Trasse der A36, etwas abseits davon führt ein schlammiger Feldweg an Abraumhalden vorbei zu ihrem Lager. Roger Winterhalter - ein pensionierter Lokalpolitiker aus Mulhouse - hat die vertriebenen Roma- Familien nach monatelangem Suchen in dieser Gegend gefunden, nicht um sie auch von dort zu verjagen, sondern um ihnen zu helfen:
"Man hat die Leute vergessen. Und unsere Politiker haben auch kein Interesse daran, dass man sie sieht. Es kommt momentan nicht so gut an, sich in Wahlkampfzeiten für Roma einzusetzen oder für andere am Rand der Gesellschaft, für Gesindel, wie es heute heißt. Da wird man nicht wiedergewählt."
Er sei kein Roma- Romantiker, sagt er unterwegs, keiner, der die Augen vor Problemen verschließt:
"Natürlich gibt es in manchen Clans Prostitution, auch Kinderprostitution. Das kann man nicht tolerieren. Keine Frage. Aber man muss doch auch fragen, warum diese Leute das machen, warum sie sich verkaufen. Aber nein, man macht einen Skandal daraus, jagt sie davon, brennt ihre Wohnwagen ab.
Gehen Sie mal zu uns nach Mulhouse, all die so genannten Massagesalons, die dort florieren. Man könnte glauben, halb Mulhouse müsse sich krankengymnastisch massieren lassen. Das ist unglaublich. Aber darüber regt sich niemand auf, das das wird so hingenommen, das ist nun mal Teil unserer Gewohnheiten."
Die Roma haben ihre Wohnwagen in zwei Reihen auf eine Lichtung zwischen entlaubte Büsche und Bäume gestellt. Die Luft ist kalt und feucht. Und zwischen den Wagen qualmt ein Feuer aus Holzkisten und Kartons. Es wärmt die ausgestreckten Hände der älteren Frauen und Männer. Die Jüngeren stehen vor ihren Wagen und reden einfach drauf los.
"Das waren unsere Caravans, die abgebrannt wurden. Das war unser Eigentum. Wir sind danach zur Polizei gegangenen. Aber die hat nur gesagt: Das ist uns doch egal, was mit euren Wagen passiert ist. Da waren all unsere Kleider drin, alles was wir besessen haben. Alles verbrannt. Ich werde das nie vergessen: Morgens gehe ich in die Stadt zum Betteln, und wie ich abends zurückkomme, war alles abgebrannt. Ich habe nichts mehr, auch keine Papiere mehr, keinen Pass."
Das vergangene Jahr haben sie mit Betteln überstanden - in Mulhouse, Colmar, Belfort. Pro Tag und pro Person kommen da etwa acht Euro zusammen.
Bei einem elsässischen Händler haben sie dann die billigsten Wohnwagen gekauft, die sie kriegen konnten, undichten Schrott für 80 Personen, nur mit Matratzen und Wolldecken ausstaffiert. Darin hausen sie nun schon seit Monaten, und sehen nicht aus wie fahrendes Volk, sondern wie Flüchtlinge aus der Dritten Welt. Sommer und Herbst waren auszuhalten, aber jetzt ist Winter, und die Frauen tragen hustende Säuglinge in den Armen:
"Mein Kind ist krank, es hat Tuberkulose. Der Doktor aus der Stadt war schon da, er hat uns ein paar Medikamente gegeben. Aber wir haben kein Geld, um den Wohnwagen zu heizen. Es ist immer kalt. Wir bräuchten Windeln, Kleider, Decken. Aber wir haben nichts."
Nach Ensisheim sind sie nie wieder gegangen. Sie haben sich abgefunden mit ihrem Verlust. Roger Winterhalter hat in den letzten Wochen viele Windeln, Kleider und Decken gesammelt. Bürgermeister Habig sieht derweil einer weiteren Amtszeit entgegen und erfreut sich noch größerer Beliebtheit als früher. Dass er einmal 14 Wohnwagen niederbrannte und 80 Roma aus der Gemeinde vertrieb, wird ihm von seinen Wählern inzwischen als Heldentat angerechnet; oder wie es sein Gefolgsmann Charles Moser ausdrücken würde, er hat im Sinne des Gemeinwohls gehandelt:
"Ich finde, es war doch eine sehr gute Lösung das Ganze anzuzünden, allein schon hygienisch gesehen. Heutzutage verbrennt man ja auch Kühe wegen Rinderwahn oder Hühner wegen der Vogelgrippe. Also, das war reine Hygiene."
Die Säuberungsaktion war erfolgreich und die Zeit hat nur wenige Spuren von ihr hinterlassen. Am Waldrand von Ensisheim ist Gras über die Sache gewachsen. Nur an wenigen Stellen sind noch ein paar schwarze Flecken zu sehen:
"Das ist Asche. Übrig gebliebene Asche."
Literatur: Tomi Ungerer, Die Gedanken sind frei - Meine Kindheit im Elsass
Diogenes Verlag AG
Zürich, 1993